Erich Fromm: Über den Ungehorsam

 

14.11.2011

Die Essays, von Erich Fromm kurz vor seinem Tod 1980 zusammengestellt, verdeutlichen seine tiefe Besorgnis angesichts des bedrohten Weltfriedens. Sie zeigen, wie tief und leidenschaftlich sich Fromm mit dem Frieden und dem Überleben der Menschheit beschäftigt hat. Er plädiert für den notwendigen Ungehorsam als Bejahung von Vernunft und eigenem Willen: Im Ungehorsam gegenüber falschen Autoritäten sieht er die wahrscheinlich einzige Möglichkeit, die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren.
Der Mensch hat sich durch die Akte des Ungehorsams weiterentwickelt. Nicht nur, daß seine geistige Entwicklung nur möglich war, weil es einzelne gab, die es wagten, im Namen ihres Gewissens und Glaubens zu den jeweiligen Machthabern >>nein<< zu sagen - auch die intellektuelle Entwicklung hatte die Fähigkeit zum Ungehorsam zur Voraussetzung, zum Ungehorsam gegenüber Autoritäten, die neue Ideen mundtot zu machen suchten, und gegenüber der Autorität lang etablierter Meinungen, die jede Veränderung für Unsinn erklärten.

Der Ungehorsam als ein psychologisches und ethisches Problem

Jahrhundertelang haben Könige, Priester, Feudalherren, Industrielle und Eltern darauf bestanden, dass Gehorsam eine Tugend und Ungehorsam ein Laster sei. Ich möchte hier einen anderen Standpunkt vertreten und dem folgendes entgegenhalten: Die Menschheitsgeschichte begann mit einem Akt des Ungehorsams, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie mit einem Akt des Gehorsams ihr Ende finden wird.

Nach dem hebräischen und auch nach dem griechischen Mythos steht am Anfang der Menschheitsgeschichte ein Akt des Ungehorsams. Als Adam und Eva noch im Garten Eden lebten, waren sie ein Teil der Natur; sie standen in voller Harmonie mit ihr und transzendierten sie noch nicht. Sie befanden sich in der Natur wie der Embryo im Mutterleib. Sie waren Menschen und gleichzeitig waren sie es noch nicht. All das änderte sich, als sie einem Gebot nicht gehorchten. Dadurch dass der Mensch seine Bindung an die Erde und Mutter löste, dass er die Nabelschnur durchtrennte, tauchte er aus der vormenschlichen Harmonie auf und konnte so den ersten Schritt in die Unabhängigkeit und Freiheit tun. Der Akt des Ungehorsams setzte Adam und Eva frei und öffnete ihnen die Augen. Sie erkannten, dass sie einander fremd waren und dass auch die Außenwelt ihnen fremd, ja sogar feindlich war. Ihr Akt des Ungehorsams zerstörte die primäre Bindung an die Natur und machte sie zu Individuen. Die Erbsünde hat den Menschen keineswegs verdorben, sondern setzte ihn frei; sie war der Anfang der Geschichte. Der Mensch musste den Garten Eden verlassen, um zu lernen, sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen und ganz Mensch zu werden.

Die Propheten haben mit ihrer messianischen Vorstellung die Idee bestätigt, dass es richtig gewesen war, nicht zu gehorchen; dass der Mensch durch seine "Sünde" nicht verdorben, sondern von den Fesseln der vormenschlichen Harmonie befreit wurde. Für die Propheten ist die Geschichte der Ort, wo der Mensch menschlich wird. Im Lauf der Geschichte entwickelt er die Kräfte seiner Vernunft und Liebe, bis er eine neue Harmonie zwischen sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur erzeugt. Diese neue Harmonie wird als "das Ende der Tage" beschrieben, als jene Geschichtsperiode, in der Friede herrscht zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Natur. Sie ist ein "neues", vom Menschen selbst geschaffenes Paradies, ein Paradies, das er nur schaffen konnte, weil er wegen seines Ungehorsams gezwungen wurde, das "alte" Paradies zu verlassen.

Ebenso wie im alttestamentlichen Mythos von Adam und Eva geht auch nach dem griechischen Mythos die gesamte menschliche Zivilisation auf einen Akt des Ungehorsams zurück. Dadurch dass Prometheus den Göttern das Feuer stahl, legte er die Grundlage für die Entwicklung des Menschen. Ohne das "Verbrechen" des Prometheus gäbe es keine Geschichte der Menschheit. Genau wie Adam und Eva wird auch er für seinen Ungehorsam bestraft. Aber er bereut ihn nicht und bittet nicht um Vergebung. Ganz im Gegenteil sagt er voll Stolz: "Ich möchte lieber an diesen Felsen gekettet als der gehorsame Diener der Götter sein."

Der Mensch hat sich durch Akte des Ungehorsams weiterentwickelt. Nicht nur, dass seine geistige Entwicklung nur möglich war, weil es einzelne gab, die es wagten, im Namen ihres Gewissens und Glaubens zu den jeweiligen Machthabern "nein" zu sagen – auch die intellektuelle Entwicklung hatte die Fähigkeit zum Ungehorsam zur Voraussetzung, zum Ungehorsam gegenüber Autoritäten, die neue Ideen mundtot zu machen suchten, und gegenüber der Autorität lang etablierter Meinungen, die jede Veränderung für Unsinn erklärten.

Wenn auch die Fähigkeit zum Ungehorsam den Anfang der Menschheitsgeschichte darstellte, so könnte doch der Gehorsam sehr wohl deren Ende sein. Ich sage das nicht im symbolischen oder poetischen Sinn. Es besteht die Möglichkeit, ja sogar die Wahrscheinlichkeit, dass die menschliche Rasse in den nächsten fünf bis zehn Jahren die Zivilisation, ja sämtliches Leben auf der Erde vernichten wird. Hierin wäre weder Vernunft noch Sinn. Tatsache ist, dass wir zwar technisch im Atomzeitalter leben, dass aber die meisten Menschen – einschließlich all derer, die an der Macht sind – emotional noch in der Steinzeit leben. Unsere Mathematik, unsere Astronomie und unsere Naturwissenschaften gehören dem zwanzigsten Jahrhundert an. Unsere Ideen über die Politik, den Staat und die Gesellschaft sind jedoch weit hinter dem Zeitalter der Naturwissenschaft zurückgeblieben. Wenn die Menschheit Selbstmord begehen wird, dann deshalb, weil die Menschen denen gehorchen werden, die ihnen befehlen, auf den Knopf zu drücken, der die Vernichtung auslöst, weil sie den archaischen Leidenschaften von Angst, Hass und Gier und den veralteten Klischeevorstellungen von der Souveränität des Staates und von der nationalen Ehre gehorchen werden. Die Sowjetführer reden viel von der Revolution, und wir in der "freien Welt" reden viel von der Freiheit. Aber sie wie wir Unterbinden den Mut zum Ungehorsam – in der Sowjetunion ausdrücklich und gewaltsam, in der "freien Welt" unausgesprochen und mit den raffinierteren Methoden der Überredungskunst.

Mit all dem ist natürlich nicht gesagt, dass jeder Ungehorsam eine Tugend und jeder Gehorsam ein Laster sei. Eine derartige Auffassung würde die dialektische Beziehung außer acht lassen, die zwischen Gehorsam und Ungehorsam besteht. Immer wenn die Prinzipien, denen man gehorcht und denen man nicht gehorcht, miteinander unvereinbar sind, ist ein Akt des Gehorsams dem einen Prinzip gegenüber notwendigerweise ein Akt des Ungehorsams seinem Widerpart gegenüber und umgekehrt. Das klassische Beispiel für diese Dichotomie bietet uns Antigone. Wenn sie den unmenschlichen Gesetzen des Staates gehorcht hätte, so hätte sie notwendigerweise den Gesetzen der Menschlichkeit nicht gehorcht. Wenn sie letzteren gehorchte, musste sie den ersteren den Gehorsam verweigern. Alle Märtyrer der Religion, der Freiheit und der Wissenschaft mussten denen den Gehorsam verweigern, die sie mundtot zu machen suchten, um ihrem eigenen Gewissen, den Gesetzen der Menschlichkeit und Vernunft folgen zu können. Wenn ein Mensch nur gehorchen und nicht auch den Gehorsam verweigern kann, ist er ein Sklave; wenn er nur ungehorsam sein und nicht auch gehorchen kann, ist er ein Rebell und kein Revolutionär; er handelt dann aus Zorn, aus Enttäuschung und Ressentiment und nicht aus Überzeugung oder Prinzip.

Um jedoch eine Begriffsverwirrung zu vermeiden, müssen wir hier eine wichtige Klärung vornehmen. Jeder Gehorsam gegenüber einer Person, einer Institution oder Macht (heteronomer Gehorsam) ist Unterwerfung; er impliziert, dass ich auf meine Autonomie verzichte und einen fremden Willen oder eine fremde Entscheidung anstelle meiner eigenen akzeptiere. Wenn ich dagegen meiner eigenen Vernunft oder Überzeugung gehorche (autonomer Gehorsam), so ist das kein Akt der Unterwerfung, sondern ein Akt der Bejahung. Meine Überzeugung und mein Urteil sind – sofern sie wirklich die meinen sind – ein Teil von mir. Wenn ich diesen und nicht dem Urteil anderer folge, bin ich wirklich ich selbst. Man kann das Wort "gehorchen" deshalb nur in einem metaphorischen Sinn und in einem Sinn, der sich von der Bedeutung des "heteronomen Gehorsams" grundsätzlich unterscheidet, verwenden.

Diese Unterscheidung bedarf noch zweier weiterer Klarstellungen, von denen sich die eine auf das Gewissen und die andere auf den Begriff der Autorität bezieht.

Das Wort "Gewissen" steht für zwei völlig unterschiedliche Erscheinungen: einmal für das "autoritäre Gewissen", die internalisierte Stimme einer Autorität, die wir zufriedenstellen und keinesfalls verärgern möchten. Dieses autoritäre Gewissen erleben die meisten Menschen, wenn sie "ihrem Gewissen gehorchen". Es ist dies auch das Gewissen, von dem Freud spricht und das er als "über-Ich" bezeichnet. Es repräsentiert die internalisierten Gebote und Verbote des Vaters, die der Sohn aus Angst vor ihm respektiert. Von dem autoritären Gewissen unterscheidet sich das "humanistische Gewissen", die in jedem Menschen gegenwärtige Stimme, die von äußeren Sanktionen oder Belohnungen unabhängig ist. Das humanistische Gewissen gründet sich auf die Tatsache, dass wir als menschliche Wesen intuitiv wissen, was menschlich und was unmenschlich ist, was das Leben fördert und was es zerstört.

Dieses Gewissen hilft uns, als menschliche Wesen zu funktionieren. Es ist die Stimme, die uns zu uns selbst, zu unserer Menschlichkeit zurückruft.

Das autoritäre Gewissen (Über-Ich) ist auch dann immer noch Gehorsam gegenüber einer Macht außerhalb unserer selbst, wenn diese Macht internalisiert ist. Bewusst glaube ich meinem Gewissen zu folgen, tatsächlich aber habe ich die Prinzipien der Macht in mich aufgenommen. Gerade wegen der Illusion, dass das humanistische Gewissen und das Über-Ich identisch seien, ist die internalisierte Autorität soviel wirksamer als die Autorität, von der ich mir bewusst bin, dass sie kein Teil von mir selbst ist. Der Gehorsam gegenüber dem "autoritären Gewissen" schwächt – wie jeder Gehorsam gegenüber Ideen und Mächten, die von außen an uns herantreten – das "humanistische Gewissen" und unsere Fähigkeit, wir selbst zu sein und selbständig zu urteilen.

Auch die Behauptung, der Gehorsam einem anderen Menschen gegenüber sei ipso facto Unterwerfung, ist dahingehend zu qualifizieren, dass man zwischen einer "rationalen" und einer "irrationalen" Autorität unterscheidet. Ein Beispiel für "rationale Autorität" ist die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler; ein Beispiel für "irrationale Autorität" ist die Beziehung zwischen Herr und Sklave. Beide Beziehungen beruhen darauf, dass die Autorität dessen, der die Befehle erteilt, akzeptiert wird. Dynamisch gesehen sind sie jedoch verschiedener Natur. Die Interessen von Lehrer und Schüler liegen (im Idealfall) in der gleichen Richtung. Der Lehrer ist befriedigt, wenn es ihm gelingt, seinen Schüler zu fördern; gelingt es ihm nicht, so haben beide Teile Schuld. Der Sklavenhalter dagegen möchte seinen Sklaven soweit wie möglich ausbeuten. Je mehr er aus ihm herausholt, desto befriedigter ist er. Gleichzeitig versucht aber der Sklave, seinen Anspruch auf ein Minimum an Glück so gut wie möglich zu verteidigen. Die Interessen von Herr und Sklave sind deshalb antagonistisch, weil das, was für den einen von Vorteil ist, dem anderen schadet. Die Überlegenheit des einen über den anderen hat in beiden Fällen eine unterschiedliche Funktion. Im ersten Fall ist sie die Voraussetzung für die Möglichkeit, den der Autorität Unterworfenen zu fördern; im zweiten Fall ist sie die Voraussetzung für seine Ausbeutung. Ein anderer Unterschied läuft diesem parallel: Die "rationale Autorität" ist deshalb rational, weil die Autorität, ob sie sich nun beim Lehrer befindet oder etwa beim Kapitän eines Schiffes, der in einer Notsituation seine Befehle erteilt, im Namen der Vernunft handelt, die ich – weil sie universal ist – akzeptieren kann, ohne mich zu unterwerfen. Irrationale Autorität muss sich der Gewalt (oder der Suggestion) bedienen, weil sich niemand ausbeuten ließe, wenn es ihm freistünde, es zu verhindern.

Weshalb ist der Mensch so leicht bereit zu gehorchen, und weshalb fällt ihm der Ungehorsam so schwer? Solange man der Macht des Staates, der Kirche, der öffentlichen Meinung gehorcht, fühlt man sich sicher und behütet. Tatsächlich macht es kaum einen Unterschied, welcher Macht man im einzelnen gehorcht. Es handelt sich stets um Institutionen oder um Menschen, die sich auf die eine oder andere Art der Gewalt bedienen – und die arglistig Allwissenheit und Allmacht für sich in Anspruch nehmen. Mein Gehorsam gibt mir Anteil an der Macht, die ich verehre, und daher fühle ich mich stark. Ich kann gar keinen Fehler machen, denn sie trifft ja die Entscheidung für mich; ich kann auch nicht allein sein, denn sie wacht über mich; ich kann keine Sünde begehen, denn sie lässt es nicht zu, und selbst wenn ich trotzdem sündige, läuft meine Strafe doch nur auf die Rückkehr zur allmächtigen Macht hinaus.

Um ungehorsam zu sein, muss man den Mut haben, allein zu sein, zu irren und zu sündigen. Die Fähigkeit zum Mut hängt aber vom Entwicklungsstadium des Betreffenden ab. Nur wenn ein Mensch sich vom Schoß der Mutter und den Geboten des Vaters befreit hat, nur wenn er sich als Individuum ganz entwickelt und dabei die Fähigkeit erworben hat, selbständig zu denken und zu fühlen, nur dann kann er den Mut aufbringen, zu einer Macht nein zu sagen und ungehorsam zu sein.

Ein Mensch kann durch den Akt des Ungehorsams, dadurch dass er einer Macht gegenüber nein sagen lernt, frei werden; aber die Fähigkeit zum Ungehorsam ist nicht nur die Voraussetzung für Freiheit – Freiheit ist auch die Voraussetzung für Ungehorsam. Wenn ich vor der Freiheit Angst habe, kann ich nicht wagen, nein zu sagen, kann ich nicht den Mut aufbringen, ungehorsam zu sein. Tatsächlich sind Freiheit und Fähigkeit zum Ungehorsam nicht voneinander zu trennen. Daher kann auch kein gesellschaftliches, politisches oder religiöses System, das Freiheit proklamiert und Ungehorsam verteufelt, die Wahrheit sprechen.

Es gibt noch einen anderen Grund, weshalb es so schwer ist, ungehorsam zu sein und zur Macht nein zu sagen. In der Geschichte des Menschen wurde meistens Gehorsam mit Tugend und Ungehorsam mit Sünde gleichgesetzt. Der Grund ist einfach: Bisher hat während des größten Teils der Geschichte eine Minderheit über die Mehrheit geherrscht. Diese Herrschaft war deshalb notwendig, weil von den guten Dingen des Lebens nur für die Wenigen genügend vorhanden war und für die Vielen nur die Brotsamen übrigblieben. Wenn die Wenigen die guten Dinge genießen wollten und wenn sie darüber hinaus wollten, dass die Vielen ihnen dienten und für sie arbeiteten, so ging das nur unter der Voraussetzung, dass die Vielen lernten zu gehorchen. Natürlich kann man Gehorsam mit nackter Gewalt erzwingen, doch hat diese Methode viele Nachteile. Sie bringt die ständige Gefahr mit sich, dass die Vielen eines Tages Mittel und Wege finden könnten, die Wenigen in ihre Gewalt zu bekommen; außerdem gibt es viele Arten von Arbeit, die nicht richtig ausgeführt werden können, wenn nur die nackte Angst dem Gehorsam zugrunde liegt. Daher musste der Gehorsam, der lediglich auf der Angst vor der Gewalt beruhte, in einen Gehorsam verwandelt werden, der von Herzen kam. Der Mensch muss gehorchen wollen, ja das Bedürfnis dazu spüren, anstatt nur Angst vor dem Ungehorsam zu haben. Um das zu erreichen, muss die Macht die Qualitäten des Allgütigen, Allweisen und Allwissenden annehmen. Wenn das geschieht, kann die Macht verkünden, dass Ungehorsam Sünde und Gehorsam Tugend sei. Sobald dies einmal verkündet wird, können die Vielen den Gehorsam akzeptieren, weil er etwas Gutes ist, und den Ungehorsam verabscheuen, weil er etwas Schlechtes ist – anstatt sich selbst zu verabscheuen, weil sie Feiglinge sind. Dann wird der Grundsatz aufgestellt, den Martin Luther (1967, S. 192) in die Worte gefasst hat: "Drum soll hier erschlagen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann, und daran denken, dass nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer Mensch; (es ist mit ihm) so wie man einen tollen Hund totschlagen muss: schlägst du (ihn) nicht, so schlägt er dich und ein ganzes Land mit dir." Von Luther bis ins neunzehnte Jahrhundert hatte man es mit offenen und unverhüllten Autoritäten zu tun. Luther, der Papst, die Fürsten wollten sie erhalten; die Mittelklasse, die Arbeiter, die Philosophen versuchten, sie aus dem Sattel zu heben. Der Kampf gegen die Autorität im Staat wie auch in der Familie war oft geradezu die Basis für die Entwicklung einer unabhängigen und wagemutigen Persönlichkeit. Der Kampf gegen die Autorität war nicht zu trennen von der intellektuellen Stimmung, die für die Philosophen der Aufklärung und für die Naturwissenschaftler kennzeichnend war. Dieser "kritische Geist" glaubte an die Vernunft und zweifelte gleichzeitig an allem, was gesagt oder gedacht wurde, wenn es sich auf Tradition, Aberglauben, Sitte oder Macht gründete. Die Grundsätze sapere aude und de omnibus est dubitandum ("Wage zu wissen" und "Zweifle an allem") waren charakteristisch für eine Einstellung, welche die Fähigkeit, nein zu sagen, zuließ und förderte.

Wie sieht es heute mit der Autorität aus? In den totalitären Ländern herrscht die offene Autorität des Staates, die sich auf eine Verstärkung des Respekts vor der Autorität in Familie und Schule stützt. Die westlichen Demokratien dagegen sind stolz darauf, das autoritäre System des neunzehnten Jahrhunderts überwunden zu haben. Aber haben sie das wirklich – oder hat sich dort nur die Eigenart der Autorität geändert? Unser Jahrhundert ist das Jahrhundert der hierarchisch organisierten Bürokratien in der öffentlichen Verwaltung, der Wirtschaft und den Gewerkschaften. Diese Bürokratien verwalten Dinge und Menschen in gleicher Weise. Sie folgen dabei gewissen Grundsätzen, vor allem dem wirtschaftlichen Prinzip des Bilanzausgleichs, der Quantifizierung, der maximalen Effizienz und des Profits, und sie funktionieren im wesentlichen nicht anders als ein Computer, der mit diesen Prinzipien gefüttert wurde. Das Individuum wird zu einer Nummer und verwandelt sich in ein Ding. Aber gerade weil es keine offene Autorität gibt, weil der einzelne nicht "gezwungen" wird zu gehorchen, kann er sich der Illusion hingeben, er handle freiwillig und folge nur seinem eigenen Willen und Entschluss oder er richte sich nur nach einer "rationalen" Autorität. Wer könnte wohl dem "Vernünftigen" den Gehorsam verweigern, wer wollte der Computer-Bürokratie nicht gehorchen, wer kann den Gehorsam verweigern, wenn er nicht einmal merkt, dass er gehorcht? In der Familie und in der Erziehung geschieht dasselbe. Die missverstandenen Theorien von der progressiven Erziehung haben zu einer Erziehungsmethode geführt, bei der dem Kind nicht mehr gesagt wird, was es zu tun hat, wo ihm keine Anordnungen gegeben werden oder wo es nicht mehr bestraft wird, wenn es solche nicht ausführt. Das Kind soll sich selbst "ausdrücken". Aber es wird ihm von seinen ersten Tagen an ein heilloser Respekt vor der Konformität eingeimpft, die Angst, "anders" zu sein, und die Furcht, sich von der Herde zu entfernen. Der so in Familie und Schule aufgezogene "organisierte Mensch", dessen Erziehung dann in den großen Institutionen vervollständigt wird, besitzt Meinungen, aber keine Überzeugungen; er amüsiert sich und ist unglücklich dabei; er ist sogar bereit, sein Leben und das seiner Kinder im freiwilligen Gehorsam gegenüber unpersönlichen und anonymen Mächten zu opfern. Er akzeptiert die Kalkulationen, die man über die voraussichtlichen Todesopfer anstellt, wie sie bei den Diskussionen über einen Atomkrieg üblich geworden sind: Die Hälfte der Bevölkerung eines Landes tot – "noch ganz annehmbar"; zwei Drittel tot – "vielleicht gerade nicht mehr".

Der Fall Eichmann ist symbolisch für unsere Situation und besitzt eine Bedeutung, die weit über das hinausgeht, womit sich seine Ankläger im Jerusalemer Gerichtshof beschäftigten. Eichmann ist der Prototyp des Organisationsmenschen, des entfremdeten Bürokraten, für den Männer, Frauen und Kinder zu bloßen Nummern geworden sind. Er ist ein Symbol für uns alle. Wir können uns selbst in Eichmann wiedererkennen – aber das Allerschrecklichste an ihm ist, dass er sich, nachdem er alles zugegeben hatte, völlig gutgläubig für unschuldig erklären konnte. Es ist klar: Wenn er wieder in die gleiche Situation käme, würde er sich wieder genauso verhalten. Und auch wir würden das – und auch wir tun das! Der Organisationsmensch hat die Fähigkeit zum Ungehorsam verloren, er merkt nicht einmal mehr, dass er gehorcht. An diesem Punkt der Geschichte könnte möglicherweise allein die Fähigkeit zu zweifeln, zu kritisieren und ungehorsam zu sein, über die Zukunft für die Menschheit oder über das Ende der Zivilisation entscheiden. ...

Dieses Essay von Erich Fromm ist entnommen aus: "Über den Ungehorsam und andere Essays" von Erich Fromm, Rainer Funk, Liselotte Mickel und Ernst Mickel von Deutscher Taschenbuch Verlag (1. Januar 1993)