„Im Anfang war das Volk Gottes.“

 

22.10.2013, Jon Sobrino

Die Zeitschrift NATIONAL CATHOLIC REPORTER hat am 29. Oktober 2013 nachstehende Stellungnahme von Jon Sobrino veröffentlicht.

„Die Opfer müssen immer im Mittelpunkt stehen.“

Mit diesen zwei Sätzen möchten wir etwas Licht in die Verwirrung und in vielen Fällen Entrüstung bringen, die entstand, als ohne Vorwarnung und Berücksichtigung der Menschenwürde der Erzbischof Jose Luis Escobar von San Salvador, El Salvador, am 30. September Tutela Legal schloss, die Rechtsberatung, die seit 1982 mit Opfern der ungeheuerlichsten Menschenrechtsverletzungen des 12 jährigen Bürgerkrieges des Landes gearbeitet hatte.

Seit der Schließung von Tutela Legal gab es Kommuniqués von denen, die sie geschlossen hatten und auch denen, die entlassen wurden, wobei die ersteren mehr publicity hatten. Bald gab es weitere Kommuniqués von angesehenen internationalen Agenturen, von der José Simeón Cañas Central American University in San Salvador, und von El Salvadors Konferenz der religiösen Frauen und Männer. Jüngst haben der Erzbischof und der Justizminister sich über die Rechte beider Gruppen an den Akten der Tutela Legal ausgetauscht.

Viele andere Dinge passierten, manche davon sind dem Volk Gottes bekannt und der größere Teil unbekannt, wie es normalerweise der Fall ist. Der Erzbischof ernannte neulich eine Kommission bekannter Priester, die über die Akten wachen sollen; um zu garantieren, dass das neue Menschenrechtsbüro, das der Bischof einzurichten versprochen hat, nicht darin eingeschränkt werde, die Art von aggressiver, hochqualitativer Arbeit wie Tutela Legal zu verrichten; und, schließlich, um das Image der Erzdiözese zu reparieren, das sich noch verschlechtert hat seit der Entfernung von Fernando Llorts Wandbild von der Fassade der Kathedrale im Dezember 2011.

Ein Bauer beschrieb die Geschehnisse mit diesen Worten: „Traurig. Beschämend.“

Die Laien, das Volk Gottes, und Socorro Jurídico

„Das Volk Gottes“ ist ein abstrakter Begriff, dessen konkrete Bedeutung vielen Salvadorianern nicht bekannt ist. Nichtdestoweniger sagte das 2. Vatikanische Konzil vor 50 Jahren, dass die wirkliche Kirche Jesu Christi das „Volk Gottes“ ist und nicht „die hierarchische Kirche“. Das heisst, dass Bischöfe, Priester und die sogenannten Laien alle in ursächlicher Weise Mitglieder der Kirche sind. Die Unterscheidung kommt später und ist nur eine funktionelle Reihung, die nichts über die Qualität christlichen Lebens der Mitglieder der verschiedenen Gruppen aussagt.

In den 1970ern waren es die Laien in El Salvador, die sich mit Menschenrechtsverletzungen befassten und die Opfer zu verteidigen suchten. Damals entstand Socorro Jurídico, das erste von der Kirche gesponserte Menschenrechtsbüro. Für Jahrhunderte sind viele Salvadorianer den langsamen Tod der Armut gestorben, die ursprüngliche Gewalt. Aber in den 1970ern kam schneller Tod durch Unterdrückung. Es stank zum Himmel, und die Laien von Socorro Jurídico, manche davon Anwälte, kamen nicht nur den Opfern zu Hilfe, sondern - und das war neu – halfen ihnen ihre Menschenrechte zu verteidigen, die grob verletzt wurden. Das erklärt den Gebrauch der Adjektive „juridisch“ in Socorro Jurídico und „legal“ in Tutela Legal.

Socorro Jurídico hatte seine Büros an der Jesuiten – High School in San Salvador. Ein Jesuit, Fr. Segundo Montes, arbeitete mit der Gruppe und half ihr zu wachsen. Erzbischof Oskar Romero, Erzbischof von San Salvador von 1977 bis 1980, sah sie als wichtigen Mitarbeiter bei seiner Verteidigung der Opfer und seiner Anklage der Täter. Er erwähnt auf der ersten Seite seines Tagebuches (das, so wie es erhalten ist, am Freitag, dem 31. März 1978 beginnt), betreffend eines namentlichen genannnten Mitarbeiters und spezieller Aufgaben und fügt hinzu, „Ich danke euch und möchte meine Zufriedenheit mit der Art, wie ihr, als Anwälte mit einem christlichen Gewissen … dem Ruf geantwortet habt, ausdrücken“ die Organisation eines ständigen Teams von ausgezeichneten Anwälten und Jusstudenten, an die sich die Kirche um Rechtsberatung wenden kann.

Später kam Tutela Legal. Der langjährige Direktor, Maria Julia Hernández, war eine beliebte und unvergessliche Figur. Über die letzten 30 Jahre haben mehrere Bischöfe und Priester und viele Laien mit Tutela Legal gearbeitet. Es gab Zusammenarbeit und auch Spannungen zwischen ihnen. So läuft es oft in der Geschichte.

Jetzt kommen wir in eine neue Periode. Was auch immer dabei herauskommt, wir bestehen darauf, dass Menschenrechte die Aufgabe des ganzen Gottesvolkes sind. Ich erinnere hier daran, denn es ist keine gewohnheitsmäßige theologische Spitzfindigkeit, sondern eine christliche und historische Notwendigkeit. Laien haben Verantwortung, so wie die Mitglieder des Volkes Gottes, einschliesslich Geistlichen und Hierarchen. Sie haben alle die gleiche Würde, und sollten alle einander mit Respekt behandeln.

Die Hierarchie ist nicht über dem Volk Gottes, sondern ihm zu Diensten.

Die Behörde, die amtliche Macht der Hierarchie, bietet sicher Gelegenheiten Gutes zu tun. Aber wie die Geschichte zeigt, hat sie wie jede Macht ihre Gefahren. „Sie müssen mir das nicht sagen“, sagte der selige Fr. Ignacio Ellacuria. „Ich bin Präsident der Universität.“ (Ellacuría leitete die Central American University in San Salvador bis zu seiner Ermordung 1989 mit fünf anderen Jesuiten, ihrer Haushälterin und deren Tochter.)

Es wird vorausgesetzt, dass es in einer Demokratie Wege Gewalt zu überwinden gibt, oder sie zumindest zu begrenzen. Darum sprach der selige Jesuiten – Theologe Fr. Dean Brackley soviel über die Notwendigkeit der Haftbarkeit. Die an der Macht sollen über das, was sie tun, Rechenschaft ablegen. In Kirchenangelegenheiten gibt es immer das Evangelium, mit seiner Utopie und seinen Forderungen. Jesus sagte, „Die weiter oben sind müssen bereit sein, sich zu erniedrigen.“

Angesichts öffentlicher Ereignisse, die große Verwirrung bewirken, so wie es bei der Schließung von Tutela legal passiert ist, bieten Geschichte, Demokratie und das Evangelium andere Wege zu handeln an: die Bereitschaft, Entscheidungen im voraus zu erklären mit Zeit zum Dialog und überzeugenden Argumenten, eine Bereitwilligkeit, verantwortlich zu sein, und eine freundliche und menschliche Haltung.

In einer utopischen Vision ist das Ideal für das Gottesvolk, ein Beispiel der Solidarität zu sein, sicherlich um Armen zu helfen und sie zu verteidigen. Aber es muss auch inmitten des Gottesvolkes selbst eine andere Form der Solidarität geben, eine, die die erstere nicht verringert sondern sie zu vermehren hilft: das ist für Geistliche, Laien und Hierarchen einander zu helfen und sich helfen zu lassen, und, wenn es wirkliche oder eingebildete Ungerechtigkeiten gibt, offen zu sein für Dialog und Vergebung. Für die Hierarchie ist es die Frage, sich zu erniedrigen um zu dienen und nicht zu warten, dass die anderen sich zuerst erniedrigen. Wenn wir diese Art der Solidarität haben, wird das Volk Gottes für das Land eine große Hilfe sein.

In diesem Moment des Konflikts scheint es, dass – wenn man den Leuten Glauben schenkt – es eine Übereinstimmung gibt, dass die Opfer die wichtigsten sind.

In diesem Land gaben Socorro Jurídico und Tutela Legal der Idee, die Geschichtserinnerung zu bewahren, große Wichtigkeit. Über die Jahre haben sie ihre Liebe Tausenden von Menschen geschenkt, besonders Frauen und Kindern, die verfolgt, ermordet oder entführt wurden oder zum Überleben zur Flucht ausser Landes gezwungen waren. Beide Institutionen haben Tausenden von Menschen zu Leben und Würde verholfen.

Ellacuria nannte sie die „Gekreuzigten.“ Am 19. Juni 1977 sagte Romero in Aguilares, nachdem die Armee über 100 Bauern getöte hatte, „Ihr seid der durchbohrte Göttliche.“ Mit diesen Worten gab er ihnen nicht nur Würde, er bekannte auch öffentlich vor ihnen, wie er seine Mission als Erzbischof verstand: „Es ist meine Aufgabe, herumzugehen und Leichen aufzusammeln.“ Er sah das als Teil seiner Arbeit an.

„Leichen aufzusammeln“ ist ein starker Ausdruck dafür, wie das Volk Gottes handeln soll in bezug auf die Opfer. Socorro Jurídico, Tutela Legal, das Central American University's human rights institute, die anderen Menschenrechtsgruppen, und die Mitglieder aller Kirchen in El Salvador können sich diese Worte zu eigen machen.

Es ist wichtig, dass die Akten von Tutela Legal gut geschützt werden. Die Beiträge der NGOs sind auch wichtig. Aber keine von diesen kann das „Leichen einsammeln“ von Romero und vielen anderen ersetzen, die als Märtyrer geendet haben.

Gott allein weiss, was die Zukunft von Tutela Legal sein wird. Es ist mein Wunsch, dass die Ereignisse vergangener Tage nicht zu einer Verminderung der Aufgaben führen, sondern zu ihrer Vermehrung. Ich hoffe, dass die laufenden Diskussionen etwas Licht für das Gottesvolk bedeuten und es nicht in Versuchung führen, - verständlich, aber nicht sehr christlich – dass „wir mehr recht haben als die anderen“.

Die obigen Betrachtungen mögen sehr konzeptuell und kompliziert erscheinen, auch wenn es unser Ziel war, sie einfach und erhellend zu machen. Ich werde schließen mit den kurzen und klaren Worten von Pedro Casaldáliga, dem spanischstämmigen emeritierten Bischof von São Félix do Araguaia, Brasilien, einem praktizierenden Befreiungstheologen; „Alles ist relativ, ausser Gott und Hunger.“ In El Salvador könnten wir auch sagen: „..ausser Gott und den Opfern.“

[P. Jon Sobrino ist Jesuit, Theologe und Professor an der José Simeón Cañas Central American University in San Salvador. Dieses Essay wurde adaptiert aus Letter to the Churches, einer Publication der Universität. Es wurde übersetzt von Gene Palumbo. Ins Deutsche hat es Barbara Mossig übersetzt]

Zum Autor:

Jon Sobrino SJ ist Jesuit und ein namhafter Vertreter der Befreiungstheologie. Er wurde am 27. Dezember 1938 in Barcelona geboren und lebt in El Salvador.

Sobrino stammt aus einer baskischen Familie. Er wurde während des Spanischen Bürgerkrieges geboren und wuchs in Barcelona und Bilbao auf. 1956 trat er dem Jesuitenorden bei und wurde 1957 vom Orden nach El Salvador geschickt. 1960 bis 1965 studierte er Bauingenieurwissenschaften und Philosophie an der Hochschule der Jesuiten in St. Louis (USA). Anschließend unterrichtete er für kurze Zeit Mathematik und Philosophie in El Salvador, bis er vom Orden zum Studium der Theologie an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main abgeordnet wurde. Dort promovierte er bei dem Dogmatiker Erhard Kunz SJ (siehe dazu auch: Analysis fidei). Anschließend kehrte er zurück nach El Salvador und ist seit 1974 Professor für Theologie an der katholischen Zentralamerikanischen Universität José Simeón Cañas in San Salvador, die er mitbegründet hat.

1989 entkam er nur durch Zufall einem Attentat, dem sechs seiner Mitbrüder, unter ihnen Ignacio Ellacuría, und eine Hausangestellte und ihre Tochter zum Opfer fielen.

Für seine Verdienste um die Theologie der Befreiung und seinen Einsatz für die Gerechtigkeit wurden ihm zahlreiche Auszeichnungen und Ehrendoktorate verliehen, unter anderem der Menschenrechtspreis der Karl-Franzens-Universität Graz (1992) und die Ehrendoktorwürde der WWU Münster (1998).