Wider den Missbrauch von Macht, Wahrheit, Vertrauen und Autorität: Aufruf zur Kirchenreform

18.05.2011, Anton Kolb

Im Rahmen der Veranstaltung "Kirche wohin?" am 13. Mai 2011 in Graz hielt em. Univ.- Prof. Dr. Anton Kolb nachstehenden Vortrag. Dabei wurde auch sein neues Buch „Machtmissbrauch in Kirche, Wissenschaft, Politik und Medien. Engagement gegen Fehlentwicklungen und Reformvorschläge“, Shaker Verlag, Aachen 2011, präsentiert.

Vorbemerkungen: Der Einfachheit halber verwende ich immer die männliche Form, gemeint ist selbstverständlich gleichberechtigt auch die weibliche. Unter „Kirche“ verstehe ich immer die katholische Kirche, meistens die Kirchenleitung. Dieser Begriff steht selbstverständlich auch anderen Religionsgemeinschaften zu. Es liegt ein Blatt auf. Auf der einen Seite wird einschlägige Literatur genannt, werden alle Enzykliken näher angegeben sowie einige HP-Adressen, von denen im Vortrag die Rede ist. Auf der anderen Seite stelle ich mein neues Buch „Machtmissbrauch in Kirche, Wissenschaft, Politik und Medien. Engagement gegen Fehlentwicklungen und Reformvorschläge“, Shaker Verlag, Aachen 2011, vor, das Ihnen zum Verkauf angeboten wird. Nach jahrzehntelangem, positivem, konstruktivem und fast vergeblichem Bemühen im Bereich der Kirche sehe ich nunmehr nur noch in der Kritik (in meinem Buch, in meinem Vortrag) den einzigen Weg zum Erfolg. Ich verstehe meine Kritik als Dienst an der Kirche. Wovon ich heute spreche, finden Sie wesentlich umfangreicher in meinem Buch, und vieles andere mehr. Ich werde zum Teil in sehr pointierter, kritischer und harter Form die Ursachen der Kirchenkrise benennen, weil nur so gezielte Reformvorschläge durchgeführt werden können. Ohne richtige Diagnose gibt es keine Therapie. Einig ist man sich darin: So kann es nicht weitergehen. Auf akademischem Boden sind die Meinungs- und Diskussionsfreiheit nicht nur möglich, sondern selbstverständlich erwünscht. Es darf keinen kirchlichen „Maulkorberlass“ geben.

Nach dem 1. und dem 2. Weltkrieg hat sich der ungeheure Reformstau der katholischen Kirche gezeigt, vor allem, als es in Österreich – wie in anderen Ländern – in den 50iger und 60iger Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder relativ rasch aufwärts ging, der Wiederaufbau gelang und sich alle Sehnsüchte auf die Zukunft richteten. Die damals übertrieben konservativen Kräfte in der Kirche waren weitgehend die Ursache, dass und warum es zum Zweiten Vatikanischen Konzil gekommen ist. Ich habe damals in Rom studiert, war Konzilsstenograph, habe die Diskussionen in St. Peter unmittelbar miterlebt. Bei den Konzilsvätern gab es zwei große Blöcke, die Konservativen, wozu die Kurie damals gehörte und heute gehört, und die Fortschrittlichen, wozu sich u.a. damals auch alle Bischöfe in Österreich zählten, was leider schon lange nicht mehr zutrifft, auch damals nicht ohne weiteres stimmte. Die Kurie hat zuerst das Konzil mit Nachdruck vor demselben zu verhindern, während zu behindern und nach Abschluss wieder wesentlich einzuschränken versucht. In der ersten Konzilsperiode wurden die fortschrittlichen Bischöfe aufgrund ihrer Wortmeldungen in der Aula von der Kurie zur Rechenschaft gezogen. Ab der zweiten Periode war das nicht mehr der Fall. Die oft harten und interessanten Diskussionen des Konzils haben zu immer größeren Mehrheiten der Fortschrittlichen geführt. Die Konzilstexte wurden mit überwältigender Mehrheit in deren Sinn angenommen. Sie sind nunmehr also auch für alle Konservativen verpflichtend, oder sollten es sein.

Nach dem Konzil gab es vielfache Dammbrüche, eine große Zahl von Priestern hat ihr Amt niedergelegt. Daraufhin begann – wieder einmal in der Kirche – eine Phase der Restriktion, der Restauration, der Reformverweigerer. Es schlug wieder eine Stunde der Neoromantik, vieler Konservativer, die bis heute anhält, bei manchen sich sogar verstärkt. Im Gefolge dieser Tendenz wurden von vielen Reformverweigerern die Geschichte und die Kirche wieder mit der Vergangenheit, womöglich mit der Zeit vor dem Konzil, identifiziert; auch in Antithese zu den 60iger und 70iger Jahren, als man fast allgemein – auch an den Universitäten – die Geschichte mit der Zukunft identifiziert hatte. Stichwort „Futurologie“. Ich habe mich damals – ziemlich allein auf weiter Flur in unserer Diözese – gegen den genannten Dammbruch, gegen die Abschaffung vieler Dogmen, die auch bei Veranstaltungen des Katholischen Bildungswerkes unserer Diözese propagiert wurde, gegen diese Übertreibungen ausgesprochen, weil ich eine ebenso einseitige Antithese fürchtete, die tatsächlich eingetreten ist. Vergeblich erbat ich eine diesbezügliche Unterstützung seitens der Bischöfe Schoiswohl und Weber. Heute wende ich mich im Gegenteil gegen die Ewiggestrigen, gegen die Reformverweigerer. Wer schuld an der gegenwärtigen Polarisierung der Kirche ist, soll nicht den Zeigefinger erheben.

Gegenwärtig gibt es eben wieder einen großen Reformstau in der Kirche, analog zur Zeit vor dem letzten Konzil, weshalb von manchen erneut ein Konzil gefordert wird. Denken Sie insbesondere an Groër und Krenn, an den „Dialog für Österreich“ an das Kirchenvolksbegehren (heute „Wir sind Kirche“), an die Aufhebung der Exkommunikation der 4 Bischöfe der Piusbruderschaft, an den designierten Weihbischof Wagner, an die Pfarrer- und Laieninitiative. In diesem Zusammenhang wurde von der kirchlichen Obrigkeit fast alles schubladiert und ignoriert. Man denke auch an den Kindesmissbrauch. Es genügt also kein idealer Blick zurück, kein Blick in eine quasi ideale Vergangenheit. „Als Lots Frau zurückblickte, wurde sie zu einer Salzsäule.“ (Gen 19,26) Bei der heute weitgehenden Realitätsverweigerung und Selbsttäuschung der Hierarchie, die mit sich zufrieden zu sein scheint, sind Kritik und die Forderung nach einer Reform nicht nur ein gutes Recht, sondern sogar schon eine moralische, eine religiöse Pflicht. Schweigen wird bereits zur Unterlassungssünde. Der Graben zwischen Kirchenleitung und Gläubigern wird immer unüberbrückbarer. Hier droht eine Schisma, aber von oben. Wenn und solange sich die Reformer alles gefallen lassen, wird die katholische Kirche an Katholizität verlieren.

„Zu unserem Leben gehört die Bewegung, die vollkommene Ruhe ist der Tod.“ (Blaise Pascal, wahrlich kein Ketzer) Zum Leben gehört nicht nur die körperliche, seelische, geistige, sondern für einen Gläubigen genauso noch die religiöse Bewegung bzw. Dynamik. Alle sind auf eine Neurogenese, d.h. auf die Neubildung von Nervenzellen, angewiesen. Mit der Kirche ist es wie mit den Neuronen: Bleiben die stimulierenden Außenreize aus, stirbt ein Großteil von ihnen ab. Wie in der Gesellschaft und in den Wissenschaften, so muss es auch in der Kirche einen Wandel, eine Erneuerung geben. Gemäß der Bibel geht es um „Neues und Altes“ (Mt 13,52). Man beachte, dass zuerst vom Neuen die Rede ist. Wir brauchen eine „Kirche neu“, einen Paradigmenwechsel. Das römische Kirchensystem leidet an Immobilität.

Das Memorandum „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“ wurde in Deutschland, Österreich und der Schweiz von 240 Professorinnen und Professoren unterzeichnet, dazu noch von 71 in anderen Ländern, zusammen also von 311 Personen. Die „Kölner Erklärung“ vom Jahre 1989 haben 220 Professoren unterschrieben. Das genannte Memorandum ist u.a. deshalb weit über die Theologie hinaus von besonderer Bedeutung, weil in der gegenwärtigen, sehr kritischen Situation die vielen, oft schon mutlosen und verzweifelten Reformer in der Kirche dadurch Auftrieb und Bestätigung erhalten, weil es auch für „Verheiratete Priester und Frauen im kirchlichen Amt“ eintritt, weil sich damit sehr viele Theologen wohl auch für eine Frauenordination und damit sehr klar und deutlich gegen die Enzyklika von Papst Johannes Paul II „Ordinatio Sacerdotalis“ aussprechen, der am 1. Mai 2011 selig gesprochen wurde, wo gesagt wird, dass die Kirche keine religiöse Vollmacht habe, Frauen die Priesterweihe zu spenden. Es wird dort von einer „unfehlbaren“, „definitiven“ und „unwiderruflichen“ Lehre gesprochen. Auch ein großer Rückschlag für die Ökumene, in derem Rahmen diese Möglichkeit schon längst realisiert ist. Man unterscheidet in der Kirche offiziell zwischen einem ordentlichen und einem außerordentlichen Lehramt. Das ordentliche, dazu gehören die Enzykliken, wurde von Rom selbst die längste Zeit als nicht unfehlbar, das außerordentliche („ex cathedra“) als unfehlbar angesehen. Das bedeutet genau und konkret, dass Enzykliken gar keine „unfehlbaren“ und „definitiven“ Lehren vertreten sollen und können. Ratzinger hat als Präfekt der Glaubenskongregation mit der „Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen“ vom 24.05.1990 das „definitive“ ordentliche Lehramt eingeführt, also quasi eine dritte Art der Lehramtsausübung, theologisch ungenügend begründet, von der Theologie zu Recht kritisiert. Es hat sich auch nicht wirklich durchgesetzt, auch wenn es wie ein Dogma aussehen sollte. Ist es aber nicht. Die „quaestio facti“ bleibt immer offen. (Siehe in meinem Buch S. 163f) Das Lehramt kann nur in Fragen der Glaubens- und Sittenlehre Unfehlbarkeit in Anspruch nehmen. Vom Zweiten Vatikanischen Konzil wurde der pastorale Charakter des Lehramtes betont, seither zu wenig beachtet. Am Ostermorgen ist Christus zuerst Frauen, dann erst den Aposteln erschienen.

Gegen das Memorandum wird weiters argumentiert, dass es keinen „substanziellen theologischen Beitrag“ bringe. So z.B. der deutsche Kurienkardinal Walter Kasper. Das ist natürlich nicht Aufgabe eines Memorandums, wie jeder wissen könnte und müsste. Es handelt sich um keine Abhandlung, kein Gutachten. Weitere Kritik am Memorandum: Es sei ein „Schisma innerhalb der Weltkirche“ zu fürchten, es behandle nur deutsche Probleme, blicke nicht über den deutschen Tellerrand, zeuge von „purem Provinzialismus“ (Kasper). Hier handelt es sich um keine Argumente, sondern nur mehr um Behauptungen, die natürlich auch nicht theologisch begründet sind, so auch nicht begründet werden können. Als ob z.B. der Zölibat und die Priesterweihe der Frau nur ein deutsches Problem wären. Übrigens haben Kasper und Ratzinger im Jahre 1970 zusammen mit weiteren 7 Theologien-Kollegen dringende Wünsche an die Deutsche Bischofskonferenz gerichtet, damit diese beim Papst für die Änderung des Zölibatsgesetzes eintreten. Kasper und Ratzinger als Papst wissen jetzt offenbar nichts mehr davon. Das Memorandum formuliert Wünsche für die gesamte Weltkirche. Wenn die Gefahr eines Schismas besteht, dann nur seitens der (Erz-)Konservativen. Ein Schisma riskieren die Reformverweigerer. Gemäß dem enorm einflussreichen Theologen, Philosophen und Jesuiten Francisco Suárez (1548-1617) „könnte auch der Papst zum Schismatiker werden.“ Dialog und Diskussion sind Praxis und Auftrag des Konzils. Die Reformer wollen verändern, nicht behindern, wollen einen Aufbruch, einen Durchbruch, keinen Bruch. Der überzogene Primat und der Zentralismus Roms haben zur Trennung zwischen der West- und der Ostkirche, zwischen Byzanz und Rom, geführt. Die Verweigerung der Reform hat zur Reformation und das Unfehlbarkeitsdogma hat zur Gründung der altkatholischen Kirche geführt.

Die ganze Kirchenkrise sei auf eine Gotteskrise, auf eine Glaubenskrise zurück zu führen, wird weiters behauptet, gerade auch von Kasper. Es ist wohl reichlich naiv, z.B. die Zölibatskrise einfach auf eine Gotteskrise zurück zu führen. Gott befindet sich übrigens nie und niemals in einer Krise, sondern nur wir Menschen, die Kirche, Gläubige wie Ungläubige. Die Kirchenkrise verschärft allerdings auch die Gottesfrage. So will man sich notwendige Reformen, Einsichten und Konsequenzen ersparen. Sehr viele von denen, die aus der Kirche austreten, nehmen ihren Glauben mit. Man muss also zwischen Kirche und Glauben sehr wohl unterscheiden. Gegen das Memorandum – aber auch in anderen Zusammenhängen – wird eingewendet, dass in der evangelischen Kirche schon alle Forderungen erfüllt seien. Dieser Kirche ginge es dennoch nicht besser. Aber es kommt doch wohl darauf an, ob die katholische Kirche Christus und der Bibel folgt, und nicht darum, wer mehr oder weniger Erfolg hat. Auch ein Irrtum kann sehr erfolgreich sein. Außerdem ist eine Evaluation der evangelischen und der katholischen Kirche nur sehr schwer durchzuführen, schwer vergleichbar.

Ein Kollege von unserer Theol. Fak. in Graz schrieb am 24.02.2011 in der Kleinen Zeitung: Beim Memorandum handle es sich „um die heißen Eisen in ihrer simpelsten Form“. Man fragt sich: Wer oder was ist hier simpel? So kann man die heißen Eisen sicher nicht abkühlen. Eine Kollegin der Fakultät hat an derselben bei einer Diskussion zur Krise in der Kirche am 09.03.2011 gemeint: Die Theologie hätte nicht zu sagen, was die Kirche tun soll. Hier handelt es sich um einen fundamentalen Irrtum. Natürlich sind Kirche und Theologie aufeinander bezogen. Peter Seewald hat in einem Interview mit Kath.Net gegen das Memorandum Stellung bezogen, das einem Pamphlet gleichkommt. Umso schlimmer, weil er sich im Lichte des Papstes wähnt. Ich finde es schamlos, dass und wenn sich Reformverweigerer auf das Konzil und die Bibel berufen, wie es immer wieder geschieht. Das Lehramt, die Kirchenleitung sollen mehr auf die moderne Theologie, auf das Lehramt der Theologie, auf das Kirchenvolk hören, nicht ständig kritisieren, dass diese zu liberal seien. Es geht nicht um eine „Krise der Theologie“ (Schönborn), sondern schon viel eher um eine Krise der Hierarchie. Typisch ist die Angst des Lehramtes, der Kirchenleitung vor der Theologie, vor den Medien. Angst ist kein guter Ratgeber. Die Theologie muss das Lehramt deutlicher kritisieren und korrigieren, deren wechselhafte und fehlerhafte Geschichte besser studieren, in einer für die heutigen Menschen verstehbaren Sprache lehren und publizieren. Die unverständliche und weit überzogene Kritik der Reformverweigerer am ohnehin milden Memorandum erfordert und berechtigt nun ein kritischeres und härteres Vorgehen, soll nicht alles umsonst sein.

Im Folgenden zitiere ich aus zwei Enzykliken von Papst Benedikt XVI.: „Die Liebe in der Wahrheit“ (Sozialenzyklika), „Über die christliche Hoffnung“: „Die Vernunft bedarf ständig der Reinigung durch den Glauben.“ Er spricht von „gefesselter Vernunft“, von „verblendeter Vernunft“. Umgekehrt würde die Vernunft aber autonom sein. Einmal wird der Glaube, ein anderes Mal die Vernunft zum übergeordneten Prinzip erklärt. Richtig und wichtig ist, dass Vernunft und Glaube, Wissenschaft und Religion einander nicht widersprechen. Wir brauchen die Religion, den Glauben und die Wissenschaft. Beide sind aber autonom, nicht ident, dürfen nicht aufeinander reduziert werden. Bei gegenseitiger Reduktion von Vernunft und Glauben lassen sich beide nicht verbinden. Man muss also Vernunft annehmen. Das ist auch wichtig für das Verhältnis von Kirche und Staat. Dem Lehramt stehe eine „Sendung der Wahrheit… zu allen Zeiten und unter allen Umständen“ zu, auch in sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Die Kirche würde „Bruchstücke“ der Wahrheit vorfinden und diese zu einer Einheit zusammenfassen. „Der Humanismus, der Gott ausschließt, ist ein unmenschlicher Humanismus.“ Weder Wahrheit noch Liebe würden „lediglich menschliche Produkte sein können.“ „Der Mensch braucht Gott, sonst ist er hoffnungslos.“

Was werden Nichtglaubende, Religions- und Konfessionslose, Atheisten dazu sagen? Meinem Verständnis nach muss man auch ihnen die Möglichkeit von Wahrheit, Hoffnung und Liebe, einen Humanismus ohne Gott, ja vielleicht sogar gegen Gott, zubilligen. Eine Heilsmöglichkeit auch außerhalb der Kirche wird vom Zweiten Vatikanischen Konzil sogar den Agnostikern und den Atheisten zugesprochen. Der Papst entspricht damit also nicht dem Konzil, wie leider auch sonst oft. Man verkündet den Glauben und ist unglaubwürdig. Man spricht und schreibt sehr häufig von Hoffnung – und enttäuscht sie. Man predigt Liebe – und geht lieblos vor. Diese Tugenden sind nicht an den Worten, sondern an den Taten, an den Früchten zu erkennen und zu messen. (Siehe Mt 7,16) Dem Papst steht nicht der Alleinbesitz von Vernunft und Wahrheit zu. Vernunft, Wahrheit, Glaube, Hoffnung und Liebe gibt es selbstverständlich auch außerhalb der Kirche. Die Kirche braucht eine „Kopernikanische Wende“, allerdings im umgekehrten Sinn, eine Hinwendung zur Welt und zum Menschen. Diese notwendige Hinwendung hat nichts mit der immer wieder beklagten „Verweltlichung“ der Kirche zu tun. Dem Dualismus und dem Widerspruch von Gott und Welt, von Geist und Materie, von Seele und Geist ist zu widersprechen.

Papst Johannes Paul II. schreibt in seiner Enzyklika „Glaube und Vernunft“: Nicht nur die christliche, sondern die gesamte Philosophie stehe „unmittelbar unter der Autorität des Lehramtes und seiner Prüfung.“ Alle Philosophen sollen sich „von der einzigen Autorität der Wahrheit leiten lassen.“ Die gesamte Philosophie müsse „die Forderungen und Einsichten der geoffenbarten Wahrheit respektieren.“ Die Österr. Theologenkommission (ÖTK), eine Einrichtung der Österr. Bischofskonferenz (ÖBK), hat unter meinem Vorsitz eine sehr kritische Stellungnahme zu dieser Enzyklika geschrieben, weitgehend von mir verfasst, die einstimmig angenommen wurde. Die Ansichten der genannten Enzykliken scheinen mir ein sicherer Weg zu sein, an Autorität, Glaubwürdigkeit und Einfluss zu verlieren, zum Schaden für den Glauben, für die Kirche; und bedeuten die Gefahr eines Kulturkampfes. Die katholische Kirche darf nicht mit dem Christentum, mit der Religion identifiziert werden, wie dies bei den letzten beiden Päpsten leider immer wieder anklingt.

Das Lehramt hat keinen Anspruch auf den Heiligen Geist und auf die Wahrheit in wissenschaftlichen, philosophischen, wirtschaftlichen und politischen Fragen. Das ist Missbrauch von Wahrheit und Missbrauch des Heiligen Geistes. Das Lehramt muss zum Lernamt werden. Der Primat Christi und der Bibel muss dem Primat des Papstes vorausgehen. Die Kirche ist weitgehend selber schuld, dass sie an gesellschaftlichem, kulturellem und wissenschaftlichem Einfluss verloren hat. Der Autonomie von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Medien kann sich die Kirche auf Dauer nicht widersetzen. Der Versuch des Lehramtes, die Wissenschaft unter ihre Kontrolle zu bringen, ist zu Recht gescheitert. Die Ausgrenzung und Verurteilung von Wissenschaft ist einer ihrer zentralen Fehler, der enormen Schaden angerichtet hat. Das muss gerade an einer Universität betont werden. Der neue Versuch des Lehramtes, des jetzigen Papstes, mit den Begriffen „Vernunft“ und „Aufklärung“ wieder an Boden zu gewinnen, geht weitgehend daneben. Nach ihm sei Religion „Vernunft“ und „Aufklärung“, es sei im Christentum „Aufklärung Religion geworden.“ Aufklärung ist in der Kirche und für die Kirche zu fordern und zu fördern, dies anstatt der Behauptung, Religion sei sowieso Aufklärung. Sowohl die volle Identität als auch die volle Differenz zwischen den beiden ist abzulehnen. Mit der Überbetonung von Vernunft und Aufklärung kommen die Mystik, die Gefühle, der Wille, das Irrationale, das Individuum und die Praxis zu kurz. Man soll nicht einerseits die Säkularisierung als Ursache des Schwundes von Religion verstehen, andererseits im Widerspruch dazu Säkularisierung und Religion identifizieren. Man soll nicht in Wissenschaft zu machen versuchen, wo es um Politik geht. Macht und Voll-Macht der Kirche befördern ihre Ohnmacht. Je mehr Macht, umso weniger Überzeugungskraft. Rom wird mit seinem Machtapparat an sich selbst scheitern. Die Machtentfaltung Roms macht den Widerspruch zur Offenbarung offenbar. Wer die Realität flieht und leugnet, wer Fehler der Vergangenheit nicht einsieht und nicht zugibt, nichts daraus lernt, der findet die Wahrheit nicht, dem kann nicht „vergeben“, dem kann nicht geholfen werden. Man denke an die Beichte. Die Päpste haben sich für ihre Fehler bisher leider nicht entschuldigt. Lesen Sie das Kapitel „Beichtgespräch mit einem Bischof“ in meinem Buch!


Insbesondere in Sozialenzykliken wird immer wieder das Subsidiaritätsprinzip betont und gelobt. Dieses sei „Ausdruck der unermesslichen Freiheit des Menschen“; ein Mittel gegen „eine gefährliche Macht moralischer Art“. Man solle in diesem Zusammenhang „die Stimme der betroffenen Bevölkerung hören“, die „Eigengesetze jeder Realität“ beachten. Man höre und staune! Ohne Subsidiarität gibt es jedenfalls keine Solidarität. Man schreibt in Enzykliken anderen vor, woran man sich selbst weitgehend nicht hält. So ähnlich auch Kardinal Schönborn in einem Interview mit Chefredakteuren, das in österreichischen Tageszeitungen am 11.03.2011 abgedruckt wurde. Vielleicht haben einige von Ihnen meine Antwort mit dem Titel „Kirchenreformer, vereinigt euch“ am 12.03.2011 in der Kleinen Zeitung gelesen. Solange der Zentralismus die zentrale Doktrin Roms bleibt, haben die Teilkirchen, die Kollegialität und die Subsidiarität umso weniger Chancen. Die Rechtfertigungsstrategie der Hierarchie widerspricht der theologischen Rechtfertigungslehre und der Unmöglichkeit einer Rechtfertigung seitens der Beschuldigten. Das kanonische Recht vom Jahre 1983 widerspricht in nicht wenigen Punkten einigen Grundtendenzen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die Gewaltenteilung ist überfällig.

Benedikt XVI. spricht von der „Dringlichkeit der Reformen“, weil sich seiner Meinung nach die Kirche in einer tiefen Krise befindet. Man kann ihm in diesem Punkt nur zustimmen. „Entwicklung heute“ sei eine zentrale Aufgabe. Wie wahr! Vor ca. einem Jahrhundert sah alles ganz anders aus, da wurden die Modernisten vom Lehramt gerade für ihr Eintreten für Entwicklung nachhaltig verurteilt. In seiner Enzyklika „Pascendi“ schreibt Papst Pius X.: Der „Gedanke der Entwicklung“ ist die „Quintessenz der Lehre“ der Modernisten, also der Sammelbegriff aller ihrer Irrtümer und Irrlehren. Papst Pius IX. (1846-1878, also Papst zur Zeit des Ersten Vatikanums 1869-1870): „Ich, ich bin die Tradition, ich, ich bin die Kirche.“ Welch falsches Kirchenbild, auch damals schon! Kardinal Henry E. Manning von Westminster, der Wortführer der Infallibilisten, sagte über das Unfehlbarkeitsdogma: „Das Dogma hat die Geschichte besiegt.“ Sollte nicht umgekehrt die Geschichte das Dogma „besiegen“? Auch ein kirchlicher Gesetzgeber hat die faktischen und geschichtlichen Folgen, Konsequenzen und Entwicklungen seiner Gesetze zu beachten. Die übertriebene Institutionalisierung und Verrechtlichung der Kirche verstärken ihre Verächtlichung, widersprechen der Individualisierung des Glaubens und des Gewissens.

Die Vernachlässigung der Geschichte, der jeweiligen Zeit, der Zeichen der Zeit, der Reformen, der Dynamik, der Entwicklung, der Zukunft ist ein fundamentales Problem, ein Fehler des Lehramtes, der Hierarchie. Ich meine: Entwicklung heißt der neue Name für Kirche. Die Sprache der offiziellen Kirche macht sehr viele sprachlos. Die Sprache der alttestamentlichen Propheten war nicht harmlos und hilflos, sie rüttelten auf, regten auf und trieben zum Handeln an. Jesus hat die „Tempelaristokratie“ (Benedikt XVI.), die Priesterhierarchie – und nicht das Volk der Juden, wir würden heute sagen das Kirchenvolk – aus dem Tempel vertrieben, kritisiert. Pius IX. ist selig und Pius X. ist heilig gesprochen worden. Angesichts ihrer Fehlentwicklungen eigentlich unverständlich. Wie kann man dann der „Lehre“ wegen noch jemanden verurteilen? Rom sollte eine sachliche Auseinandersetzung führen, statt zu verurteilen, zu bestrafen, auszuschließen, und dies noch immer ohne Anhörung und Rechtfertigungsmöglichkeit der Betroffenen. Solche Heilig- und Seligsprechungen dienen vor allem auch der Rechtfertigung, dem Machterhalt, der Finanzierung des Papsttums sowie der Ablenkung von anderen Problemen. Darüber hinaus entsprechen sie heute den Wünschen vieler Gläubiger. Unter Papst Johannes Paul II. gab es eine Fülle von Selig- und Heiligsprechungen. In Fällen von Päpsten sind diese besonders frag-würdig. Von Wundern erwartet man sich immer noch Wunder. Der Vatikan ist keine „Insel der Seligen“. Die Atheisten, die „Feinde“ der Kirche freuen sich über diese Entwicklungen und Probleme der Kirche: Sie brauchen nichts mehr zu tun, die Kirche richtet sich selber zugrunde.

Die Kirche bräuchte endlich einen außereuropäischen Papst, eventuell namens Erwin Kräutler oder namens Dalai Lama. Die Europazentrierung des Lehramtes, manchmal auch der Theologie, ist auch für Europa selbst ein Nachteil. Es gibt eine Engführung der lateinischen Kirche. Die Dritte Welt braucht nicht nur Geld, sondern einen Papst aus ihren Reihen. Von dort wird die Erneuerung der Kirche kommen. Es gibt nicht nur das Kreuz der Bischöfe, sondern auch das Kreuz mit Bischöfen. Das Problem der gegenwärtigen Kirche ist primär die Kirchenleitung. Sie leidet an Realitätsverlust, Betriebsblindheit und Feigheit, will uns beschwichtigen. Ein wesentlicher circulus vitiosus der Kirche besteht darin, dass konservative Päpste konservative Kardinäle und Bischöfe ernennen, dass diese Kardinäle wieder einen konservativen Papst wählen, die Bischöfe dem Papst Gehorsam geloben müssen. Manche Bischöfe wirken wie Statisten oder Automaten, wie die Schweizer Garde, die vor dem Papst habt Acht steht. Das Amt des Bischofs ist, gemessen am Neuen Testament, wo es nicht wirklich belegt ist, im Verlauf der Geschichte mit viel zu viel Macht ausgestattet worden. So werden das römische Herrschaftssystem, der absolutistische Macht-, Wahrheits- und Autoritätsanspruch aufrecht erhalten. Es geht weniger um eine „Diktatur des Relativismus“, die der jetzige Papst gern beschwört und kritisiert, sondern hier viel eher um eine Diktatur in Sachen Wahrheit und Moral. Die Sexualmoral (z.B. „Humanae vitae“) ist längst ein Stein des Anstoßes und ein Grund zum Kirchenaustritt geworden. Die Papstwahl müsste gründlich geändert werden. Es bedarf dringend der Reform des Petrusamtes. Die Bischofsbestellung muss wesentlich mehr demokratische Elemente erhalten. In Zukunft sollen sich die Bischöfe den Gläubigen gegenüber verantworten, und nicht umgekehrt, wie die Laieninitiative zu Recht fordert. Wir müssen die Bischöfe zur Verantwortung ziehen und dürfen nicht aus Angst vor ihren Entscheidungen schweigen. Wer Angst hat, ist leicht manipulierbar. Der Gläubige darf nicht wie eine Maus vor der Schlange erstarren.

Das Lehramt hat sich über Jahrhunderte gegen die Gleichheit aller Menschen, gegen die Menschenrechte, gegen die Meinungs-, Gewissens-, Religions-, und Pressefreiheit, gegen die Demokratie, gegen die Aufklärung, gegen die Evolutionstheorie, gegen die Juden („Gottesmörder“) ausgesprochen. In der Enzyklika „Humani generis“ vom Jahre 1950 hat Pius XII. die Meinungs- und Gewissensfreiheit noch immer als Irrtum bezeichnet. Die Menschenrechte und die Demokratie werden erstmals von Papst Johannes XXIII. (1958-1963) in seiner Enzyklika „Parcem in terris“ anerkannt, wenngleich im eigenen Bereich nicht ohne weiteres erfüllt. 1909 behauptete die römische Bibelkommission noch immer, dass der biblische Schöpfungsbericht wörtlich auszulegen sei. Sogar das quasi unfehlbare Lehramt hat die Auffassung vertreten: „ Extra ecclesiam nulla salus.“ (Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil) Das letzte Konzil hat diese Lehre fallen gelassen, ohne sich direkt darauf zu beziehen. Die „civitas Dei“ und die civitas ecclesiae sind nicht ein und dasselbe. Glaube und Christentum gibt es auch außerhalb der Kirche. Der Dissens des Lehramtes gegenüber Christus und der Bibel ist vielleicht fallweise größer und schlimmer, als jener, die dessen vom Lehramt beschuldigt werden. Man sieht, wie falsch und zum Teil verheerend Tradition sein kann. Je mehr die Kirche die Tradition beschwört, umso mehr wird sie zerstört. Eine Immunisierung und Mystifizierung der Kirche widerspricht der Bibel, ihrer Geschichte und unserer Zeit. Es geht um Lebensbedingungen der Kirche in der Moderne, in der Postmoderne. Das Sündenregister der Kirche lässt sich dadurch – zumindest teilweise – abbauen, dass man die Sünden nicht wiederholt, sie als solche erkennt und bereut. Man könnte meinen, dass die von mir genannten Probleme, das Lehramt, die Enzykliken das Kirchenvolk kaum erreichen und somit auch nicht beunruhigen. Sie sind aber die Gründe für die kirchliche Sexualmoral, für den Zentralismus, für die Politik des Vatikans, worunter fast alle leiden, die fast allgemein bekannt sind. Man muss die Ursachen erkennen und beheben, um eine Heilung zu erreichen.

Im umfangreichen Kapitel meines Buches „Dynamischer Seins-, Schöpfungs- und Wahrheitsbegriff ermöglicht die höchst fällige Erneuerung der (Sexual-)Moral, des Lehramtes und der Politik der Kirche“ nenne ich jene Leitlinien, Themen und Begriffe, die sich das Lehramt aneignen müsste, um seine dominant ewigen Wesen, ewigen Ideen und Wahrheiten, das Unveränderliche, das Bleibende, die reine Statik, das Absolute und Allgemeine endlich und wirklich mit dem Werden, der Entwicklung, der Evolution, der Geschichte, der Kollegialität, der Subsidiarität und der Individualität zu verbinden. Das legt auch die „creatio continua“, die Schöpfung im Werden, die noch immer andauert, nahe. Der Vatikan denkt nicht in Jahrhunderten, wie immer wieder in Anspruch genommen und behauptet wird, sondern häufig geschichtslos, oft hoffnungslos veraltet. Der Vatikan ist dem ewigen Eis vergleichbar: Es schmilzt. Die Kirche darf nicht ewig so tun, als ob sich nichts ändern würde. Die andauernde Erneuerung („ecclesia semper reformanda“) muss an die Stelle der bloßen Ewigkeit treten.

Wahrheit ist auch eine Tochter und ein Zeichen der Zeit. Geschichtslose Wahrheit besagt eine wahrheitslose Geschichte. Die Geschichte nimmt keine Rücksicht auf die Geschichtslosen. Wer nur aus der Vergangenheit lebt, gehört der Vergangenheit an. Wer die eigene Vergangenheit nicht bewältigt, hat keine Zukunft. Wer mit sich nicht im Reinen ist, kann nicht lieben. Die Kirche muss die eigenen Fehler wahr-nehmen. Diese Wahrheit wird sie frei machen. Der Missbrauch von Wahrheit als Mittel der Macht ist auch Wahrheit. Ohne Wirklichkeit gibt es keine Wahrheit. Wer die Fälle von Kindesmissbrauch vertuscht hat, soll nicht von Wahrheit sprechen, von dem will man sich nichts vorschreiben lassen. Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft, ohne Rückblick keinen Ausblick, ohne Rückbesinnung keinen Sinneswandel, ohne Einsicht keine Aussicht. Man soll also nicht den Reformern vorwerfen, bloß nach rückwärts gerichtet zu sein, sondern dem Papst und den Reformverweigerern. Das Wahrheitskriterium der Kirche muss auch ihre eigene Geschichte sein. Die Kirche nimmt ihre eigene Geschichtlichkeit, ihre eigenen Fehler nicht wahr, gibt sie nicht zu, lernt nicht daraus. Eine Kirche, die sich nicht bewegt, bewegt nichts. Das Wahrheitskriterium der Bibel besteht in der Übereinstimmung von Lehre und Leben, von Theorie und Praxis, von Denken und Sein, in der Gottes- und Nächstenliebe. Christus sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14,6) Die Wahrheit ist also eingebettet in den Weg, in das Leben. Stabilität ist ein Produkt der Variabilität. Identität entsteht aus Kontinuität und Variabilität. Außerdem gibt es eine Rangordnung der Wahrheiten.

Die Reformverweigerer wollen unter sich bleiben, „intra muros“, treten für eine kleine, sehr kleine Herde, für einen kleinen Rest ein und verstehen sich als die wahren, eigentlichen Christen, neuerdings auch als Elite. Damit werden die Reformer für unchristlich und für dumm verkauft. Welche Hybris! Welch kleine Sekte! Die Bischöfe dürfen jene Gläubigen, die die Kirche kritisieren, eventuell aus ihr austreten, nicht zu Randchristen degradieren. Die Krise hat bereits die Kernschichten erfasst. Die Kirche hat manchmal Lust am Verlust. Weil die Kirche zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, zu wenig ihre eigentliche Aufgabe erfüllt, die vielen vorhandenen Chancen zu wenig nützt, haben die Sekten eine umso größere Chance. Die Binnenperspektive übersieht laufend die Außenperspektive. Es geht nicht darum, Mauern zu bauen, sondern Wohnungen zu errichten. Im Jahre 2010 sind in Österreich 87.393 Katholiken aus der Kirche ausgetreten, in Deutschland im selben Jahr ca. 250.000. Man hat sich mit den soeben genannten Behauptungen getröstet, auch Schönborn. Nach einer Umfrage im Februar 2011 überlegen ca. 27 % der Katholiken in Österreich einen Kirchenaustritt. Ein Jahr früher waren es noch 17 %. Nicht wenige treten wegen des vielen Guten in ihrer Ortskirche, aus kulturellen Gründen nicht aus. Bei der Hierarchie fehlt es leider immer noch an diesbezüglicher Einsicht, an effizienten Gegenaktionen, an Reformen, an einem Aufschrei und Aufbruch. Die wahren Ursachen des Austrittes werden nicht gesehen, nicht eingestanden, nicht behoben.

Beim rechten Rand der Kirche, bei den Kath.Net-Vertretern handelt es sich zumindest zum Teil bereits um Pathologen, Psychopathen, Neurotiker und Fundamentalisten, die regressiv und aggressiv sind. Die treffsichere Kritik der Reformer, die Isolation, die Zwangsjacke, das Ghetto der „sehr kleinen Herde“ macht sie rabiat, schürt ihre Ängste, veranlasst ihre Wutausbrüche. Sie betreiben Nabelschau und halten sich für den Nabel der Welt. Sektenmitglieder sind oft labile und unsichere Menschen, die einen Drill, ein Korsett für das Leben brauchen. Einsicht und Selbsterkenntnis sind der erste und beste Weg zur Besserung. Die Kath.Net-Katholiken sind nicht nett. Man fragt sich manchmal, ob sie noch katholisch sind. Sie sollen vor allem für sich selber beten. Drehen Sie alle Vorwürfe der Reformverweigerer gegen die Reformer um, wenden Sie diese auf die Verweigerer an, und Sie liegen vollkommen richtig! Bei den radikalen Reformverweigerern handelt es sich um ein Signal einer Sekte, ein Zuviel an Servil, um Kälte in der Kirche, um Härte in den Herzen, einen Gang in das Ghetto, einen Weg in die Wüste. Die Vorbeter dürfen keine Nachbeter sein. Spiritualität statt Uniformität! Mit dem Ewiggestrigen und Immergleichen kann man heute fast niemand erreichen, niemand gewinnen. Die Reformverweigerer machen wahrscheinlich höchstens 20-25 % aus. Die Kirchenleitung tritt fast nur für diese ein, keineswegs für die Mitte, wie sie gerne behauptet, so z.B. Bischof Egon Kapellari. Sie verabreicht Placebos, Alibis und Ausreden, betreibt eine Kirchenpolitik gegen die überwältigende Mehrheit des Kirchenvolkes. Insbesondere in westlichen Demokratien führt solches Vorgehen zu verheerenden Folgen. Das Volk Gottes bewegt sich nicht außerhalb der Demokratie. Die Kirche darf kein Fremdkörper im Rechtsstaat sein. Der offenen Gesellschaft muss eine offene Kirche entsprechen. Der Vatikan gleicht einer prunkvollen Monarchie, vertritt eine triumpfalistische Kirche. Gott und Wohltat statt Gold und Weihrauch! Auf Dauer wird sich allerdings keine Monarchie ohne jedwede Demokratie halten lassen. Der Fall von Monopolen, Monologen und Monolithen in der arabischen Welt schwächt auch den Vatikan und dessen fundamentalistische Tendenzen. Der Fundamentalismus ist ein fundamentaler Irrtum. Manchmal wünscht man sich mehr Transparenz als Transzendenz.

„Die Konstantinische Schenkung“ wurde als Fälschung entlarvt, die Einheit bzw. die Verbindung von „Thron und Altar“ ist zum Glück weitgehend ent-bunden, obsolet, „der Gang nach Canossa“ geht nicht mehr, die Zweischwerterlehre hat ausgedient, der Kirchenstaat ist verloren, der politische Einfluss der Kirche weiter zurück gedrängt. Umso mehr verlegt sich das Lehramt auf den moralischen, geistigen, religiösen Einfluss, die entsprechende Machtausübung. Was nach außen fast nicht mehr geht, wird nunmehr verstärkt nach innen versucht. Durch den Missbrauch von Macht, Wahrheit, Vertrauen und Autorität – sie sind die eigentlichen und letzten Ursachen der Krise, auch des Kindesmissbrauchs in der Kirche – erreichen das Lehramt, die Hierarchie genau das Gegenteil, erzeugen Widerwillen und Widerstand und einen ungeheuren Reformstau, der sich – genauso wie gegen den früheren, überzogenen politischen Machtanspruch – in Zukunft entladen wird. Bei weiterer Reformverweigerung fürchte ich eine größere Katastrophe für die Kirche in den nächsten Jahrzehnten. Die Saat der Versäumnisse geht lange schon auf. Dem Stau folgt ein Gau, dem Überdruck eine Explosion, ein Ausbruch, nur verhinderbar durch Einsicht, Aufbruch und Reform. Sonst kommt ein „Tag des Zornes“, ein „Fall der Mauer“ (siehe Ninive und Berlin), ein „Auszug aus Ägypten“, eine Befreiung „aus der Knechtschaft“, um in das gelobte Land zu gelangen.

Ist der Missbrauch von Macht und von Wahrheit sowie des Heiligen Geistes nicht vielleicht sogar eine Sünde der Kirchenleitung, die wegen Uneinsichtigkeit und fehlender Reue nicht vergeben werden kann? Vielleicht handelt es sich um die eigentliche Sünde wider den Heiligen Geist. Der Papst und die Bischöfe hätten schon längst ein deutlich hörbares „Mea culpa“ sprechen müssen, auch im Zusammenhang mit dem Kindesmissbrauch. Es fehlt nach wie vor. Deren Schuldeinsicht scheint sehr gering zu sein. So muss man auch an deren intellektueller Redlichkeit zweifeln. Zum Thema „Kindesmissbrauch“ siehe meine Broschüre in der Literaturliste sowie das Kapitel „Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche“ in meinem Buch! Die Kirchenleitung sollte zumindest 10 Jahre lang nicht mehr von Wahrheit und Liebe sprechen, den Heiligen Geist nicht für eigene Fehlleistungen in Anspruch nehmen.

Es geht nicht mehr nur um Symptome, sondern um das ganze System, um eine Systemkrise, eine Vertrauenskrise, eine Führungskrise, eine Autoritätskrise der Kirchenleitung. Es gibt Kritiker, die meinen, dass dieses System nicht mehr oder überhaupt nicht reformierbar sei. Die Gläubigen haben nicht einfach Systemerhalter und Befehlsempfänger zu sein. Sie haben Anspruch auf eine Kirche, der sie vertrauen können. Der Teufel sitzt nicht im Detail, sondern im System. Er kichert aus den schweren und nicht aus den lässlichen Sünden. Glaube und Vertrauen sind hohe Güter der Kirche. Beide sind in Gefahr. Ohne Glaubwürdigkeit kann man den Glauben nicht glaubhaft verkünden. Wer Glauben verlangt, muss selbst glaubhaft sein. Der Feind „außen“ soll offensichtlich von inneren Problemen ablenken. Eine in der Politik längst bewährte Methode. Die Autorität des Papstes, der Bischöfe ist schwer beschädigt, primär durch sie selbst, nicht einfach durch interne Kritik oder durch die Medien, wie Reformverweigerer gerne behaupten. „Ja selbst die Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger, so gesteht die Kirche, war für sie sehr nützlich und wird es bleiben.“ (Gaudium et spes, 44) Aus Schwertern müssen Pflugscharen, aus Lanzen Winzermesser (Jes 4,2f), aus Mauern Wohnungen, aus Wahrheit Liebe, aus der Kirche ein Ebenbild Gottes werden. Es geht nicht um „Herren über euren Glauben“, sondern um „Hilfe zu eurer Freude.“ (2 Kor 1,24) Wo bleibt diese Hilfe? Wo bleiben der Frühling, der Regen, das Licht, die Würde des Menschen, die Menschenfreundlichkeit, die Orientierung, die Geborgenheit und die Freude? Wir brauchen eine Frohbotschaft statt einer Drohbotschaft. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – von der Kirchenleitung die längste Zeit verurteilt –, Glaube, Hoffnung und Liebe müssen an die Stelle von (Kadaver-)Gehorsam, Macht und Moral treten. Es darf nicht mehr Herren und Knechte geben. Die Bischöfe und der Papst („servus servorum Dei“) sollen den Gläubigen dienen, anstatt von ihnen Gehorsam zu verlangen, sich von ihnen bedienen zu lassen. Gehorsam in religiöser Hinsicht gebührt Gott allein. Treue schuldet man Gott und nicht dem Papst. Der Kult schließt den Personenkult aus. „Wo der Geist des Herren wirkt, da ist Freiheit.“ (2 Kor 3,17) Human, solidarisch und sozial können und wollen die Menschen, die Gläubigen nur in Freiheit sein. Kritik ist ein Zeichen von Freiheit, Sorge und Verantwortung. „Alle Menschen werden Brüder“ wird jetzt am Abend bei der Eröffnung der heurigen Festwochen in Wien gesungen. „Urbi et orbi“, semper ubique wird dem Papst, den Bischöfen, uns allen von Christus – wie einst Petrus gleich drei mal – die Frage gestellt: „Liebst du mich?“ (Joh 21, 15-17) Das ist die entscheidende Frage.

Die Gläubigen, die Laien sind keine „unmündigen Kinder“ (Eph 4,14), kein Schafstall, die Zeit des „Schweigens der Lämmer“ ist vorbei. Vorbei muss endlich auch die ständige Ausrede von Bischöfen sein, sie könnten nichts tun, nichts ändern, weil die Reform Sache der Gesamtkirche sei. Die Reform der Kirche hat immer „von unten“ begonnen. Die Kirche lebt nicht von den Vorschriften „von oben“, sondern von der Kraft „von unten“. Das Verhältnis von Universalkirche und Ortskirche ist schon höchst bedenklich geworden. Es ist verantwortungslos, die gegenwärtige Chance zur Reform nicht zu nützen. Wir müssen die Konsequenzen aus der Krise ziehen und wider alle Hoffnung hoffen. Es geht nicht um das „Letzte Gericht“, sondern vielleicht um die vorletzte Chance. Kirche, erkenne dich selbst! Friede dem Kirchenvolk, Widerspruch der Hierarchie! Es geht um die Glaubensnot sehr vieler Katholiken. Also: Nicht auf die Barrikaden, sondern auf die Schiffe, damit das Schiff Petri wieder flott wird! Nicht mit dem Strom, sondern gegen den Strom. Die Basis muss Taten setzen. Wesentlich öfter müssen sich wesentlich mehr Menschen, Gläubige, Pfarrer und Laien, Pfarrgemeinderäte, Priesterrat, Laien- und Frauenorganisationen, Vereine und Verbände öffentlich, kritisch und verstärkt zu Wort melden, vor allem über die (elektronischen) Medien, via Internet, müssen womöglich gemeinsam auftreten, um erfolgreicher zu sein, dürfen sich nicht alles gefallen lassen. Es tut sich was, wenn jeder etwas tut. Reden ist Gold, schweigen ist Feigheit. Die Kirchenleitung gibt fast immer nur unter öffentlichem, medialem Druck nach. Darum verurteilt sie so häufig die Medien. Der Vatikan schätzt die Rolle der Medien noch immer nicht richtig ein.

Folgen Sie Ihrem persönlichen, gebildeten, allenfalls auch irrigen Gewissen, nützen Sie Ihre Charismen, übernehmen Sie Verantwortung, importune, opportune, zeigen Sie Zivilcourage! „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ (Kant) Mit Prunk und Triumph, mit Pomp und mit Pracht, mit Macht und mit Wahrheit, mit Glanz und mit Glorie, mit Barock und Rokoko, mit dem Song seiner Sekte wird man die Kirche nicht retten. Statt Verbot Verheißung, statt Gebot Gebet, statt Urteil Vorteil, statt Beton Bedarf, statt Formeln Farben, statt Dogma Dienst, statt Herr Hirte, statt Verlogenheit Dialog, statt Tabu Turbo, Norm Reform.

Kirchenreformer, vereinigt euch, habt Mut, meldet euch zu Wort!

Graz, am 13. Mai 2011

Literatur:

Benedikt XVI., Jesus von Nazareth: Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Herder, Freiburg i.Br. 2006.
Benedikt XVI., Jesus von Nazareth: Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Herder, Freiburg i.Br. 2011.
Benedikt XVI., Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Herder, Freiburg i.Br. 2010.
Bucher, Anton, Die dunkle Seite der Kirche, Galila Verlag, Etsdorf 2010.
Kolb, Anton, Machtmissbrauch in Kirche, Wissenschaft, Politik und Medien. Engagement gegen Fehlentwicklungen und Reformvorschläge, Shaker Verlag, Aachen 2011, 431 Seiten, € 29,80.
Kolb, Anton, Kindesmissbrauch. Staatliches und kirchliches Aktionsprogramm gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, Eigenverlag, Graz 2003.
Krätzl, Helmut, Im Sprung gehemmt: Was mir nach dem Konzil noch alles fehlt, St. Gabriel Verlag, Mödling, 1998.
Krätzl, Helmut, …Und suchen dein Angesicht. Gottesbilder – Kirchenbilder, Wiener Dom-Verlag, Wien 22010.
Küng, Hans, Ist die Kirche noch zu retten? Piper, München 2011.
Lins, Josef (Hg.), Einstellungen zum Pflichtzölibat, Bd. 1: Österreichische Weltpriester, Bd. 2: Oberösterreichische Katholik/inn/en, Linz, 2010. (Siehe HP: http://www.soz.jku.at/wsr/content/e39/e261/e2515/files2516/BerichtZoelL…)
Ratzinger, Joseph/Flores d´Arcais, Paolo., Gibt es Gott? Wahrheit, Glaube, Atheismus, Berlin 42009.
Weißenböck, Franz J., Handbuch der Kirchenspaltung. Mit einem Vorwort von Weihbischof Helmut Krätzl und einem Gastkommentar von Walter Weiss, Edition Va bene, Wien-Klosterneuburg 2009.
Zulehner, Paul W., Wie geht’s, Herr Pfarrer? Ergebnis einer kreuz und quer-Umfrage: Priester wollen Reformen, Styria, 2010.

Enzykliken:

Benedikt VXI.:

Deus caritas est. (Gott ist die Liebe), 25.12.2005.

Spe salvi. (Über die christliche Hoffnung), 30.11.2007.

Caritas in veritate. (Die Liebe in der Wahrheit), 29.06.2009 (Sozialenzyklika).

Johannes Paul II.:

Fides et ratio (Glaube und Vernunft), 14.09.1998.

Veritatis splendor. (Glanz der Wahrheit), 06.08.1993 (Moralenzyklika).

Ordinatio Sacerdotalis. (Die Priesterweihe), 22.05.1994.

Paul VI.:

Humanae vitae. (Über die rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens), 25.07.1968 (Moralenzyklika).

Johannes XXIII.:

Pacem in terris. (Über den Frieden auf Erden), 11.04.1963.

Pius XII.:

Humani generis. 12.08.1950.

Pius X.:

Pascendi, 08.09.1907.

HP-Adressen:
Memorandum „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch. www.memorandum-freiheit.de

Liste der Unterschriften des Memorandums: www.memorandum-freiheit.de/?page_id=390

Walter Kasper: www.kardinal-kasper-stiftung.de/Theologen-Memorandum.html

Interview von Kath.Net mit dem Journalisten Peter Seewald vom 08.02.2011 zum Thema „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“: www.kath.net/detail.php?id=30063

Zusammenfassung des Buches von Anton Kolb, Machtmissbrauch in Kirche, Wissenschaft, Politik und Medien.
Engagement gegen Fehlentwicklungen und Reformvorschläge, Shaker Verlag, Aachen 2011, 431 Seiten, Preis 29,80 €; ISBN 978-3-8322-9610-0

In diesem Buch werden insbesondere die Priesterweihe der Frau, die generelle Aufwertung und die volle Gleichberechtigung der Frau, die Aufhebung des Pflichtzölibates, die Zulassung von viri probati, die Wiederzulassung der laisierten Priester, mehr pastorale und theologische Offenheit den Wiederverheirateten Geschiedenen gegenüber, eine grundlegende Reform der (Sexual-)Moral, die Aufwertung des Leibes, die Freigabe der Kondome, mehr Mitsprache bei den Bischofsernennungen, die volle und nicht nur die behauptete Umsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils – einschließlich der Aufwertung der Laien –, der Abbau des Zentralismus sowie die vollständige Anerkennung der Menschenrechte in der katholischen Kirche gefordert und begründet. Die Erfüllung aller dieser Forderungen ist biblisch, ist theologisch nicht nur selbstverständlich möglich, wie nachgewiesen wird, sondern auch dringend geboten, um aus der fundamentalen Krise herauszukommen. Dies würde einen ungeheuren Aufbruch für die Kirche bedeuten. Es handelt sich um ein aktuelles Programm zur Kirchenreform, zur Strukturreform mit konkreten Vorschlägen. Das Buch ist insbesondere wegen der Kirchenkrise von besonderer Aktualität.

Das Lehramt und die Kirchenleitung werden nur dann von ihrer bisherigen Verweigerung und Negierung dieser Aufgaben und Ziele abgehen (können), wenn sie einer Dynamisierung der Begriffe Sein, Schöpfung, Natur, Wesen, Substanz, Wahrheit, Geschichte, Vernunft und Glaube zustimmen, wenn sie von deren statischem Missbrauch, vom Missbrauch von Macht und von Wahrheit Abstand nehmen, die die eigentlichen und letzten Ursachen der Krise der katholischen Kirche, auch des Kindesmissbrauches in ihren Reihen, darstellen. Ein umfangreiches Kapitel befasst sich mit dem Kindesmissbrauch. Es werden neue theologische und philosophische Leitlinien und Begründungen für die Reform formuliert, ewige sowie unveränderliche Wesen und Wahrheiten in Frage gestellt. Nur durch eine tiefgehende Reform in allen genannten Punkten kann die Kirchenleitung ihre Realitätsverweigerung, ihre Scheinprobleme überwinden, ihre Aufgaben der Lebenswelt, der Zeit, der Gesellschaft und den Gläubigen gegenüber erfüllen. Sonst wird ihre „Wahrheit“ zur Unwahrheit. Auch der Missbrauch von Wahrheit ist Wahrheit. Wahrheit ist doch eine Tochter sowie auch ein Zeichen der Zeit. Die Hierarchie muss endlich ihre Verantwortung, ihre eigenen Fehler und Defizite, die Tatsachen und die Geschichte wahr-nehmen. Dem Papst steht nicht der Alleinbesitz der Wahrheit und der Vernunft zu. Das Lehramt bedarf selbst einer gründlichen Reform. Corruptio optimi pessima est. Der Primat Christi und der Bibel muss dem Primat des Papstes und der Dogmen vorausgehen. Man kann, soll und darf die eigene Ohnmacht nicht durch Macht überwinden, nicht durch Kompetenzüberschreitungen kompensieren wollen.

Im Buch wird an konkreten Beispielen (Korrespondenz mit Verantwortlichen) aufgezeigt, dass es einen Missbrauch von Macht und von Wahrheit auch in der Politik, in den Medien, ja sogar in der Wissenschaft gibt. Dadurch soll dieser Missbrauch nicht verharmlost, sondern genau im Gegenteil einsichtig gemacht, zur Kenntnis genommen und gemeinsam bekämpft werden. Auf diese Weise kann eine einseitige Schuldzuweisung vermieden werden. Es geht nicht um gegenseitige Vorwürfe, sondern um einen Dialog, um Einsicht, gemeinsame Probleme, um Zusammenarbeit, um die Realisierung der gemeinsamen Ziele von Humanität, Solidarität, Gemeinwohl und wahren Fortschritt, um mehr Verbindung und Einheit von Theorie und Praxis, von Geltung und Genesis in allen genannten Bereichen. Es handelt sich um ein Plädoyer für mehr Engagement gegen Fehlentwicklungen. Es werden sowohl „Argumente gegen die Einmischung der Religion in die Wissenschaft“ als auch „Argumente gegen die Einmischung der Naturwissenschaft in die Religion“ formuliert, gegen den „Qualitätsverlust der Medien“ und der Politik argumentiert. Eine monistische (natur-)wissenschaftliche Reduktion der gesamten Wirklichkeit auf die Natur ist genauso abzulehnen, wie jene auf die Übernatur. Dasselbe gilt für jeden extremen Dualismus. Aller Seiten Kompetenzüberschreitungen und Scheinprobleme müssen vermieden werden. Das „Verhältnis von Politik, Religion und Wissenschaft“ wird näher und adäquater zu bestimmen versucht.