Hans Küng, Ist die Kirche noch zu retten?

18.07.2011

Es gibt eine Therapie für die Kirche. Sie hat fünf Komponenten: Die Macht der Sprache. Die Macht der Tat. Die Macht der Gemeinschaft. Die Macht des Widerstands – und die der Hoffnung.

Fünf Therapiekomponenten bieten sich an:

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages aus: Hans Küng „Ist die Kirche noch zu retten?“ Piper 2011. 260 Seiten. 18,95 €.

1. Nicht schweigen: die Macht der Sprache. Der einzelne Gläubige soll nicht schweigen, sei es aus Opportunismus, Mutlosigkeit oder Oberflächlichkeit. Jedermann in der Kirche, ob im Amt oder nicht, ob Mann oder Frau, hat das Recht und oft die Pflicht, über Kirche und Kirchenleitung zu sagen, was er denkt und zu tun für nötig erachtet, also Vorschläge zur Verbesserung einzubringen.

2. Selber handeln: die Macht der Tat. Je mehr Leute in der Kirche nicht nur klagen und über Rom und die Bischöfe schimpfen, sondern selber handeln, umso mehr helfen sie mit, dass die Kirchengemeinschaft das belastende römisch-katholische System zu überwinden vermag. Viel Großes in den Gemeinden und in der gesamten Kirche ist durch die Initiative Einzelner in Gang gekommen. Und gerade in der modernen Gesellschaft hat der Einzelne Möglichkeiten, das kirchliche Leben positiv zu beeinflussen (man denke auch an die neuen Medien und das Internet). In verschiedener Weise kann er so auf besseren Gottesdienst, verständlichere Predigt und zeitgemäßere Seelsorge, auf Strukturveränderungen, auf ökumenische Integration der Gemeinden und ein christliches Engagement in der Gesellschaft drängen.

3. Gemeinsam vorgehen: die Macht der Gemeinschaft. Der Einzelne soll nicht allein vorgehen, im Gegenteil, wo immer möglich mit der Unterstützung von anderen, von Freunden, des Pfarrgemeinderates, des Priesterrates, der Pastoralräte und katholischen Laienverbände oder auch der freien Gruppierungen von Laien, der Reformbewegungen, der Priester und Solidaritätsgruppen. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppierungen darf nicht durch sektiererische Abkapselung erschwert, sondern muss um des gemeinsamen Zieles willen verstärkt werden. Insbesondere muss der Kontakt der reformerischen Priestergruppen mit den zahlreichen verheirateten Priestern ohne Amt aufrechterhalten werden im Hinblick auf deren Rückkehr in den vollen kirchlichen Dienst.

4.Zwischenlösungen anstreben: die Macht des Widerstands. Diskussionen allein helfen nicht. Oft muss man zeigen, dass man es ernst meint. Und dies durchaus mit gutem Gewissen. Denn ein Druck auf die Autoritäten im Geist christlicher Brüderlichkeit kann dort legitim sein, wo Amtsträger ihrem Auftrag nicht entsprechen. Die Volkssprache in der gesamten katholischen Liturgie, die Änderung der Mischehenbestimmungen, die Bejahung von Toleranz, Demokratie, Menschenrechten und so vieles in der Kirchengeschichte ist nur durch ständigen loyalen Druck von unten erreicht worden.

Für die Praxis heißt dies: Wo eine Maßnahme der übergeordneten kirchlichen Autorität ganz offensichtlich dem Evangelium nicht entspricht, kann Widerstand erlaubt und sogar geboten sein. Beispiele: Der bereits erwähnte erfolgreiche zivile Ungehorsam der deutschen Pfarrgemeinden gegenüber dem römischen Verbot von Ministrantinnen. Ebenso die Gründung der deutschen Initiative Donum Vitae, nachdem sich die katholische Kirche auf Druck Roms aus der Schwangerschaftskonfliktberatung zurückgezogen hatte. Weiter die Tatsache, dass in manchen Diözesen Laien (Männer und Frauen) trotz römischen Verbots predigen dürfen. Oder die Basler Gemeinde Röschenz, die erfolgreich auch beim weltlichen Gericht dafür kämpfte, dass sie einen vom Bischof widerrechtlich abgesetzten Pfarrer behalten konnte.

Wo eine dringend nötige Maßnahme der übergeordneten kirchlichen Autorität in unzumutbarer Weise hinausgezögert wird, können unter Wahrung der Kircheneinheit in kluger und maßvoller Weise provisorische oder alternative Lösungen in Gang gesetzt werden. Beispiele: Der frühere Bischof von Basel, Otto Wüst, der in eigener Verantwortung ohne römische Erlaubnis dem jungen Theologen Kurt Koch, jetzt Kurienkardinal, die kirchliche Lehrbefugnis für seine Lehrtätigkeit verlieh. Oder in Österreich, Deutschland und anderen Ländern die aufgrund der Verschleppung von Reformen gegründete Kirchenvolksbewegung. Und was das unbiblische und inhumane Zölibatsgesetz betrifft: Ein Priester, der nach reiflicher Überlegung zu heiraten gedenkt, möge sich nicht mehr heimlich von seinem Amt zurückziehen, sondern seine Gemeinde rechtzeitig informieren. Wünscht die Gemeinde sein Bleiben, so wird sie mit allen legitimen Mitteln darauf hinwirken, dass der betreffende Priester die Gemeinde nicht verlassen muss.

5. Nicht aufgeben: die Macht der Hoffnung. Bei der Rettung oder Erneuerung der Kirche wirkt als die größte Versuchung, oft auch als bequemes Alibi die Meinung, dass alles keinen Sinn habe, dass man doch nicht vorankomme und sich somit besser verabschiede. Wo indessen die Hoffnung fehlt, fehlt auch die Tat. Gerade in einer Phase der innerkirchlichen Restauration und Stagnation kommt es darauf an, in vertrauendem Glauben ruhig durchzuhalten und den langen Atem zu bewahren. Noch hoffen viele auf die Einsicht der Verantwortlichen. Hat doch die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle auch bei vielen Bischöfen langsam einen Bewusstseinswandel in Gang gesetzt. Und sie sind nun auch grundsätzlicheren Fragestellungen ausgesetzt: etwa nach der Macht und ihrer Ausübung in der katholischen Kirche, nach ihrem rigiden Dogmatismus oder nach der Sexualität und ihrer Verdrängung.
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Hans Küng wurde 1928 in Sursee in der Schweiz geboren. Der katholische Theologe lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Tübingen. 1979 wurde ihm die kirchliche Lehrbefugnis entzogen, weil er das Unfehlbarkeitsdogma angriff. Küng ist Präsident der Stiftung Weltethos. Er schrieb zahlreiche Bücher zur Kirche, zur Ökumene und zu den Weltreligionen.

Papst und Theologe

Ein schwarzes Buch mit einem roten Rücken, unter dem Schutzumschlag völlig schwarz, der Autor eine markante Persönlichkeit der katholischen Kirche, der Erscheinungstermin zeitgleich mit dem zweiten Band des päpstlichen Jesusbuches: Die beiden Autoren – Papst und Theologe – sind fast gleichaltrig (1927/28), sind seit jungen Jahren bekannt und waren gleichzeitig Professoren in Tübingen und Berater des damals tagenden Konzils (1962-65). Bis der zum Kardinal und Chef der römischen Glaubenskongregation aufgestiegene Ältere den Jüngeren als Theologieprofessor absetzte. Nun sind sie beide alten Herren – der eine noch amtierender Papst, der jüngere bereits emeritierter Professor – zwar nicht gerade verfeindet, jedoch kirchlich extrem verschieden engagiert: der Papst bewahrend, der Professor reformorientiert. Ein mehrstündiger Besuch in Rom hat daran nichts geändert. Das Jesusbuch des Papstes muss man nicht bewerben – es ist ein automatischer Bestseller. Das Reformprogramm im Buch des Professors wird sicherlich weniger Käufer, aber vielleicht mehr Leser haben. Denn es ist vorwärtsgerichtet und stellt die anstehenden Kirchenreformen in einen sorgfältig und sachkundig aufbereiteten Zusammenhang, stellt die theologischen und kirchengeschichtlichen Verflechtungen klar und ist – man glaubt es kaum – sogar gut bis spannend zu lesen. Denn die Geschichte ist auch in Kirchendingen eine gute Lehrmeisterin. Vielleicht sollte man beide Bücher lesen: das des Papstes über die Ursprünge, das des Professors über die Zukunft der Kirche. Jedem das Seine.

Peter Paul Kaspar

Hans Küng: „Ist die Kirche noch zu retten?, Piper Verlag, gebunden, 257 Seiten, € 19,50, ISBN 978-3-492-05457-7