In den 1970er Jahren organisierte der Tiroler Familienverband eine Ferienaktion für Heimkinder, und auch unsere Nachbarn nahmen ein Kind in den Ferien auf, die zehnjährige Angelika. So lernte sie ein normales, gewaltfreies Familienleben kennen und verständlicherweise war der Abschied, wenn sie also wieder zurück musste ins Heim, immer tränenreich. So auch nach den Osterferien 1973: die kleine Tochter des Hauses, Jacqueline, und Angelika saßen weinend auf der Terrasse. Die Mutter Jacquelines war damals mit ihrem dritten Kind hochschwanger. Da sie das Leid anderer aber immer sehr berührt hatte, sagte sie zu Angelika einfach: „Bleib da.“ Und Angelika blieb, bis zu ihrer Hochzeit. Durch die spontane Bereitschaft dieser Familie, die damals 12Jährige aufzunehmen und ihr eine Heimat zu geben, blieb Angelika die Rückkehr in das Heim in Scharnitz erspart, das, wie wir heute wissen, eine Hölle des Missbrauchs und der Gewalt war.
Nun ist eine Studie veröffentlicht worden, die das Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und das Wissenschaftsbüro Innsbruck durchgeführt haben (siehe Buchbesprechung unten). Sieben Tiroler Heime wurden untersucht, darunter auch das Haus der Benediktinerinnen in Scharnitz, in dem Angelika jahrelang gelebt hatte. Bei der Präsentation der Studie (DEMUT LERNEN) gab Angelika als Zeitzeugin auch eine Stellungnahme ab. Sie begann ihren Redebeitrag mit dem Satz: „Über die Hölle rede ich jetzt nicht.“
„Demut mussten wir lernen, Demütigkeit wurde von uns verlangt. Für mich als Opfer ist inzwischen längst Schluss mit demütig Sein-Müssen. Dieses Buch ist für mich ein Weckruf zur Sensibilisierung, dass niemals mehr solche Ungeheuerlichkeiten und Übergriffe passieren.
Danke an das Team Friedmann und Stepanek! Ihr habt euch mit sehr viel Einfühlungsvermögen und Sensibilität an dieses herausfordernde und bisher auch sehr polarisierende Thema herangewagt.
Wenn es drum geht, uns Betroffenen und Opfern die uns zustehende – vor allem moralische – Unterstützung zukommen zu lassen, braucht es vor allem ehrliches Zuhören und Wahrnehmen, eben eine Opfersensibilität.
Meiner Meinung nach wäre es sehr wichtig, auch aus präventiver Sicht, dass sich Zeitzeugen wie Pfarrer, Schwestern und andere Mitwisser – und es gibt noch Lebende! – auch endlich dazu äußern, Stellung beziehen und nicht zum eigenen Schutz schweigen.
Gut wäre das schon damals gewesen, aber der Mut, es heute zu tun, wäre weiterhin angebracht und wünschenswert und könnte auch sehr heilsam sein. Gerade in Zeiten politischer Veränderung ist jede und jeder von uns gefordert, Unrecht zu benennen und sich nicht durch Schweigen auch schuldig zu machen.
Ich fordere Opfersensibilität, erlebe und erlebte diese auch bei Ämtern, Gutachtern, Behörden, aber auch in der katholischen Kirche und bei Würdenträgern, allerdings le der oft viel zu wenig bis gar nicht.
Dieses Buch könnte dazu dienen, einen Beitrag zur Sensibilisierung von uns allen zu liefern.“
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Buchbesprechung: Demut lernen: Kindheit in katholischen Kinderheimen in Tirol nach 1945.
Forschungsprojekt im Auftrag der „Dreierkommission Martinsbühel“ von Ina Friedmann und Friedrich Stepanek
Im Rahmen des Forschungsprojekts „Studie zu Martinsbühel. Fremdunterbringung in katholischen Heimen in Tirol nach 1945“ haben sich Ina Friedmann und Friedrich Stepanek unter Projektleitung von Dirk Rupnow und begleitet von der sogenannten Dreierkommission Martinsbühel zwei Jahre lang intensiv mit sieben katholischen Einrichtungen auseinandergesetzt: von Kinderheimen über Sonderschulheime bis zu Pflegeeinrichtungen. Gemeinsam war ihnen neben der katholischen Trägerschaft, dass es sich nicht um klassische Erziehungsheime handelte, der Umgang mit den in ihnen lebenden Minderjährigen sich aber in vielen Aspekten heim- und ordensübergreifend ähnlich gestaltete.
Neben Archivrecherchen wurden Interviews mit75 Zeitzeug:innen – der Großteil von ihnen ehemalige Heimkinder – durchgeführt, deren Erinnerungen den Schwerpunkt des Buches darstellen. Mittels behördlicher bzw. institutioneller Dokumente werden regionale und kirchliche Strukturen, Vernetzungen, Finanzen und auch amtliche und heiminterne Beurteilungen der Kinder und ihrer Familien nachgezeichnet. Durch die Berichte der Betroffenen gelingt es zugleich ‚dahinter‘ zu blicken: In die Heime hinein mit ihrem Alltag, der Ausbildung, Freizeitgestaltung, aber auch Arbeitspflicht, Bestrafungen und Gewalt. Das vorliegende Buch verankert nun die erzählten Erfahrungen als Teil der Tiroler Zeitgeschichte.