Weiheamtsverständnis

von Univ. Prof. Marlis Gielen

Im Zuge der "Gespräche am Jakobsbrunnen" sprach Univ. Prof. Marlis Gielen (Paris-Lodron-Universität Salzburg) am 21.11.2023 über die Frage des Weiheamtsverständnisses aus neutestamentlicher Perspektive.

Die Frage nach dem Weiheamtsverständnis aus neutestamentlicher Perspektive1

Sie haben mich eingeladen, heute Abend zur Frage nach dem Weiheamtsverständnis aus neutestamentlicher Perspektive zu referieren. Für diese Einladung bedanke ich mich herzlich, zumal es die Einladung zu dem kürzesten Vortrag ist, den ich je halten durfte. Wieso das? Nun, in den neutestamentlichen Schriften finden sich keine Anhaltspunkte, geschweige denn Belege für ein Weiheamt. Denn ein solches Weiheamt hat sich erst im Laufe der Kirchengeschichte etabliert. Damit endet hier also bereits meine Zuständigkeit als Neutestamentlerin und mein Vortrag könnte zu Ende sein, bevor er noch richtig begonnen hat – eigentlich. Aber Sie ahnen es wohl schon: Ganz so schnell will ich mich heute Abend dann doch nicht von Ihnen verabschieden. In seiner dreistufigen hierarchischen Ausgestaltung (Diakon – Priester – Bischof), in seiner sakral kultischen Definition und in seiner Zugangsbeschränkung auf Männer gilt das kirchliche Weiheamt dem Lehramt der römisch–katholischen Kirche als unantastbar und unveränderlich. Denn es wird unter Berufung auf das Zeugnis des Neuen Testaments unmittelbar mit dem Kreis der Apostel kurzgeschlossen, der wie selbstverständlich enggeführt wird auf das von Jesus vorösterlich konstituierte Gremium der Zwölf. Und vor allem: Das Weiheamt wird damit auf den Stifterwillen Jesu selbst zurückgeführt.
Der Synodale Weg in Deutschland als Reaktion auf den schier unerträglichen Missbrauchskomplex, der die katholische Kirche global in den Abgrund blicken lässt, ebenso wie der laufende Prozess der römischen Weltsynode haben nun zweierlei gezeigt:
1. An der Basis der Ortskirchen (unter Einschluss sogar von bischöflichen Amtsträgern) wächst weltweit die Erkenntnis: Das kirchliche Weiheamt in seiner jetzigen Form bedarf einer grundlegenden Reform. Im Focus steht dabei vor allem der Abbau der dem Amt inhärenten, sakral begründeten Machtstrukturen sowie die Aufhebung der Zulassungsbeschränkung auf zölibatär lebende Männer.
2. Die Vertreter des römischen Lehramtes mit dem Papst an der Spitze bevorzugen dagegen den Appell an die individuelle Verantwortung der Mitglieder des Weihestandes, den Versuchungen der Macht und des Klerikalismus nicht zu erliegen und ihr Amt als Dienst zu verstehen und auszuüben. Eine Bereitschaft zu grundlegender Reform des kirchlichen Weiheamtes ist dagegen bisher nicht erkennbar. Und diese mangelnde Bereitschaft versehen die Verantwortlichen in Rom nur allzu gern mit dem Etikett einer Nichtbefugnis zur Reform aufgrund der neutestamentlichen Überlieferung.
Und genau hier setzt die kirchliche Verantwortung der katholischen Neutestamentler und Neutestamentlerinnen ein, das lehramtliche Argument einer neutestamentlich verbürgten sakrosankten und daher unveränderlichen Struktur des Weiheamtes als das zu entlarven, was es ist: ein Scheinargument.
Dieser Verantwortung möchte auch ich mich heute Abend einmal mehr stellen. Allerdings erlaubt der verfügbare Zeitrahmen es nur, ein paar wenige, allerdings aufschlussreiche Schlaglichter auf den neutestamentlichen Befund zu werfen.

Blicken wir zunächst auf das Wirken Jesu von Nazaret!
Die gesamte Verkündigung Jesu in Wort und Tat fasst das Markusevangelium knapp und treffend
so zusammen:

[14b] Er verkündigte das Evangelium/die gute Botschaft Gottes, indem er sprach:
[15] Die Zeit ist erfüllt und nahegekommen ist die Königsherrschaft Gottes.
Kehrt um und glaubt an das Evangelium/die gute Botschaft! (Mk 1,14b–15)

Jesus tritt auf als der Repräsentant der endzeitlich–endgültigen Königsherrschaft Gottes, die mit seinem Wirken bereits angebrochen ist und deren Vollendung er in naher Zukunft erwartet. Jetzt also ist die entscheidende Zeit (Kairos) da, in der die Beziehung Gottes zu seinem erwählten Volk Israel in eine neue Beziehung tritt. Und jetzt in dieser neuen, endzeitlichen Phase verfügt Gott jenseits der heilsgeschichtlichen Bundesbestimmungen auch neue Konditionen für Israel und dessen Gottesverhältnis. Der Aufruf Jesu „Kehrt um!“ bzw. zutreffender: „Wendet euren Sinn/Denkt neu!“ signalisiert also: Ihr könnt und dürft nicht weitermachen wie bisher! Dieser Aufruf geht jeden und jede in Israel an. Deshalb sendet Jesus die Zwölf, die er zuvor ausgewählt hat, als Multiplikatoren aus. Sie haben den Auftrag, die Botschaft Jesu an ganz Israel weiterzugeben und so Israel als Zwölfstämmevolk für die endzeitliche Gottesherrschaft neu zu sammeln. Diese Zentrierung von Jesu Botschaft auf Israel stellt besonders das Matthäusevangelium heraus, das sich vor allem an christusgläubig gewordene jüdische Menschen wendet. Dort lautet der Auftrag Jesu an die Zwölf so:

[6] Geht (vielmehr) zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel! [7] Geht und verkündet: Nahegekommen ist die Königsherrschaft der Himmel. (Mt 10,6f.)

Wie Jesus selbst also in Person die anbrechende Königsherrschaft Gottes repräsentiert, so repräsentiert der von ihm kreierte Zwölferkreis die zwölf Stämme Israels.
Doch was versteht Jesus konkret unter seinem Aufruf: Kehrt um, wendet euren Sinn? Die Antwort darauf kann ich hier nicht in ihren verschiedenen Facetten entfalten, sondern ich beschränke mich auf den für unser heutiges Thema entscheidenden Aspekt.
„Ihr könnt nicht mehr weitermachen wie bisher!“ Wie war es denn bisher gewesen? Bisher hatte sich Israel darauf verlassen (können), dass Gott selbst seinem Volk für jede Verfehlung und jedes bundesbrüchige Verhalten Sühnemöglichkeiten geschenkt hatte. Um diese zu nutzen, brauchte es jedoch die Priester, die das jeweilig vorgeschriebene Sündopferritual (einschließlich der Schlachtung des Opfertieres) im Jerusalemer Tempel vollzogen. Und genau diesen Weg, das durch Sünde gestörte Gottesverhältnis wieder zu sanieren, schneidet Jesus als endzeitlicher Repräsentant Gottes Israel nun ab. Das soll an zwei Punkten verdeutlicht werden:

[1.] Die Erzählung von der Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12 parr. Mt 9,1–8; Lk 5,17–26)zeigt,
worauf es jetzt – im heilsgeschichtlichen Kairos des endzeitlichen Handelns Gottes – ankommt. Jetzt nämlich zählt nicht mehr, dass das Sündopfer am Tempel vom Priester rite et recte dargebracht wird. Jetzt geht es vielmehr darum, sich glaubend ohne Wenn und Aber auf Jesus als den Repräsentanten der anbrechenden Königsherrschaft Gottes einzulassen. Wer so handelt wie der Gelähmte und seine Helfer, dem spricht Jesus direkt als Nichtpriester (!) ohne priesterliche Vermittlung die Sündenvergebung durch Gott zu.

[2.] Gegen Ende seines Wirkens fordert Jesus mit seiner Tempelaktion (Mk 11,15–17 parr. Mt 21,12–13; Lk 19,45–46; vgl. Joh 2,13–17) die Jerusalemer Tempelpriesterschaft heraus, Stellung zu ihm und seiner Botschaft zu beziehen. Indem er nämlich einige Geldwechsler und Verkäufer von Opfergaben im Tempelbereich bei ihrer Tätigkeit stört, entzieht er symbolisch dem Vollzug des Tempelkultes die Basis. Denn ohne Geldwechsler, die die gängigen Währungen in die Tempelwährung tauschen, keine Möglichkeit des Erwerbs von Opfergaben, ohne Verkäufer von Opfergaben keine Opfer! Mit seiner prophetischen Zeichenhandlung unterstreicht Jesus also noch einmal nachdrücklich, dass angesichts des von Gott initiierten und von ihm selbst proklamierten Neuanfangs der Tempel seine theologische Funktion als Ort der Sühne und der Sündentilgung eingebüßt hat. Damit jedoch entzieht Jesus zugleich dem Jerusalemer Tempelpersonal die priesterliche Existenzgrundlage. Das zu akzeptieren, dazu war die Tempelpriesterschaft allerdings nicht bereit.
Als sein gewaltsames Ende daher immer wahrscheinlicher wird, entzieht sich Jesus diesem Geschick nicht durch Flucht. Vielmehr feiert er mit den Männern und Frauen, die ihn nach Jerusalem begleitet haben, ein festliches Abschiedsmahl.2 Dadurch gibt er zu erkennen, dass er trotz des ihm drohenden Todes an der Gültigkeit seiner Botschaft festhält. Denn in Fortsetzung seiner bisherigen Mahlpraxis in Galiläa versteht Jesus auch sein Jerusalemer Abschiedsmahl als Ereignis der bereits begonnenen Gottesherrschaft und als Vorverweis auf das endzeitliche Festmahl in der bald vollendeten Gottesherrschaft. Dass Jesus überzeugt ist, selbst an diesem Festmahl teilzunehmen, bestätigt der sog. eschatologische Ausblick (Mk 14,25 parr.):

„Amen, ich sage euch: Ich werde gewiss nicht mehr trinken von der Frucht des Weinstocks bis zu jenem Tag, wenn ich erneut davon trinken werde in der Königsherrschaft Gottes.“
Fassen wir zusammen:

[1.] Die Botschaft Jesu von der jetzt anbrechenden endzeitlichen Königsherrschaft Gottes ist dezidiert anti–kultisch und damit anti–priesterlich ausgerichtet.
[2.] Jesus lebt in der Erwartung, dass sich diese Königsherrschaft Gottes schon bald endgültig durchsetzt, und er hält daran auch angesichts seines sich abzeichnenden Todes fest. Daher liegt es außerhalb seines Horizonts, für eine Fortdauer und eine Institutionalisierung seiner Nachfolgegemeinschaft mit Leitungsfunktionen und –ämtern in der vergehenden Weltzeit Sorge zu tragen.
[3.] Entsprechend ist auch der von Jesus eingesetzte Zwölferkreis kein „bischöfliches Urgremium“. Vielmehr repräsentiert er die zwölf Stämme Israels, die seine Mitglieder im Auftrag Jesu für die endzeitliche Gottesherrschaft neu sammeln sollten.

Doch wie geht es dann in der nachösterlichen Zeit weiter, als sich von Jerusalem aus die Botschaft des Evangeliums ausbreitet und sich in wachsender Zahl Gemeinden von Christusgläubigen bilden? Den Befund kann ich in den wesentlichen Punkten wiederum nur thesenhaft skizzieren:

[1.] Leitungsfunktionen, die von Gemeindemitgliedern wahrgenommen wurden, gab es offenkundig von Anfang an. So bezeugt Paulus bereits um das Jahr 50 in seinem Brief an die Gemeinde von Thessaloniki – dem ältesten Dokument im Kanon der neutestamentlichen Schriften:

[12] Wir bitten euch, Brüder und Schwestern: Erkennt die an, die sich unter euch mühen und euch vorstehen im Herrn und euch zurechtweisen! [13] Achtet sie äußerst hoch in Liebe wegen ihres Wirkens! (1Thess 5,12–13)

[2.] Allerdings – und damit bleibt man einem entscheidenden Merkmal der Jesustradition treu – findet sich in keiner neutestamentlichen Schrift ein Beleg für sakral–kultische, also priesterlich definierte Leitungsfunktionen innerhalb der Gemeinden der Christusgläubigen. Den einschlägigen griechischen Fachbegriff hiereus (lateinisch: sacerdos) sucht man im Bereich gemeindlicher Leitung vergebens.3 Dem entspricht, dass die von Anfang an praktizierte eucharistische Liturgie eben nicht als sakrales Opfermahl, sondern als anamnetisches Festmahl gefeiert wurde. D.h. in und mit dieser gemeindlichen Mahlfeier gedachten die Christusgläubigen der Lebenshingabe Jesu und ließen sie dadurch gegenwärtig werden. Das fasst Paulus treffend zusammen, wenn er im Anschluss an ein Zitat der ihm überlieferten Abendmahlstradition bemerkt:

„Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1Kor 11,26)

[3.] Nun leitet sich der Begriff Priester etymologisch – also von seiner Wortherkunft – aus dem griechischen Begriff presbyteros ab. Doch der Sache nach besteht zwischen einem Priester/hiereus und einem Ältesten/presbyteros im zeitgenössisch–antiken Verständnis, das selbstverständlich auch die neutestamentlichen Schriften teilen, ein himmelweiter Unterschied. Ein Ältester hat keineswegs eine dem Priester ähnliche oder gar vergleichbare Funktion. Einem Ältesten wird vielmehr aufgrund seines Alters und/oder aufgrund seiner Erfahrung eine besondere Kompetenz bei der Leitung eines Gemeinwesens zuerkannt. In aller Regel übt er die Leitung dabei nicht allein, sondern in einem Team/Gremium aus.
Älteste begegnen nun auch neutestamentlich in gemeindlicher Leitungsfunktion, allerdings nicht in frühester Zeit. So fehlen etwa Belege in den authentischen Paulusbriefen. Erst in neutestamentlichen Schriften, die gegen Ende des 1. Jh. bzw. in der ersten Hälfte des 2. Jh. entstanden sind, sind Älteste in den Gemeinden der Christusgläubigen bezeugt (Apg; Jak; 1Petr; 1Tim; Tit). Bezeichnenderweise begegnet die Bezeichnung fast ausschließlich im Plural (presbyteroi). Eine naheliegende und überzeugende Erklärung ist folgende: Mit fortschreitender Zeit, als die Zahl der Christusgläubigen ständig wuchs, entstanden auch immer mehr Hausgemeinden an einem Ort. Um nun den Zusammenhalt dieser Teilgruppen als Ortsgemeinde zu gewährleisten, bildeten die jeweiligen Hausvorstände (Männer wie Frauen4) als Älteste das Leitungsteam der Ortsgemeinde.

[4.] Bekanntlich bildet das Bischofsamt die höchste Stufe und die Vollgestalt des sakral–kultisch definierten Weiheamtes in der römisch–katholischen Kirche. Wiederum von seiner Wortherkunft leitet sich die Amtsbezeichnung Bischof vom griechischen Begriff episkopos ab. Der neutestamentliche Befund zu diesem Leitungsbegriff ist allerdings schon quantitativ mit vier Belegen (Phil 1,1; Apg 20,28; 1Tim 3,2; Tit 1,7) ziemlich ernüchternd. Hinzu kommt, dass episkopos von seiner Wortbedeutung wie von seiner profanen Verwendung her ein rein verwaltungstechnischer Begriff ist. Denn ein epi–skopos ist nichts anderes als ein in–spector, also ein Aufseher bzw. Aufsichtsbeamter. So dürften also Gemeindemitglieder mit einer Episkopenfunktion vor allem die für ein funktionierendes Gemeindeleben unverzichtbare organisatorische Leitung übernommen haben. Apg 20,17.28 sowie Tit 1,5–9 deuten darauf hin, dass ab der Wende 1./2. Jh. die Episkopenfunktion von den Ältesten/presbyteroi ausgeübt wurde. Dabei strebt der Autor der Past an, die Episkopenfunktion je Gemeinde in die Hände eines einzigen, und zwar männlichen Gemeindemitglieds zu legen und ihm zugleich die Aufsicht über die Lehre, d.h. über den Bereich der Verkündigung anzuvertrauen. Die Realität in den Gemeinden
sieht aber noch anders aus.

[5.] Der Zuständigkeitsbereich der Lehre bzw. der Verkündigung ist ursprünglich eng mit der Funktionsbezeichnung Diakon (diakonos) verbunden. Bezeichnenderweise spielt von den drei konstitutiven Begriffen der römisch–katholischen Amtsterminologie nur der Begriff diakonos und mit ihm stammverwandte Begriffe (diakonia; diakonein) in den authentischen Paulusbriefen und damit bereits Mitte des 1. Jh. eine nennenswerte Rolle. Im Blick auf die Grundbedeutung der Bezeichnung diakonos steht der Aspekt der Beauftragung, nicht des Dienstes im Vordergrund. Dabei wird schon bei Paulus als roter Faden, der sich durch die Verwendung der Bezeichnung diakonos und verwandter Begriffe hindurchzieht, die Beauftragung von Menschen – wiederum Männern wie Frauen – durch Gott bzw. Christus mit der Verkündigung des Evangeliums erkennbar. Dabei überschneidet sich die Bezeichnung diakonos mit anderen kerygmatischen Funktionsbezeichnungen bzw. Tätigkeitsbeschreibungen wie Lehrer/lehren; Propheten/prophetisch reden; Mitarbeiter/mitarbeiten oder Mühe/sich abmühen. Und in allen Fällen lassen sich gerade in den Paulusbriefen auch namentlich Frauen5 nachweisen, die diese verkündigenden Tätigkeiten in den Gemeinden wahrnehmen.

[6.] Zuletzt seien der Funktionsbezeichnung Apostel (apostolos) noch einige Bemerkungen gewidmet. Erst relativ spät war es dem lukanischen Doppelwerk an der Wende 1./2. Jh. vorbehalten, die Bezeichnung Apostel auf den von Jesus eingesetzten Zwölferkreis einzugrenzen. Entsprechend ist der Kreis der Apostel – wie vor allem wiederum die Paulusbriefe belegen –erheblich umfangreicher als der Zwölferkreis. Von der Wortbedeutung her ist ein Apostel ein Gesandter, der mit der Autorität des ihn Sendenden agiert. Wenngleich es auch Apostel gibt, die von einer Gemeinde ausgesandt werden (vgl. 2Kor 8,23; Phil 2,25), dominiert doch das Verständnis, dass ein Apostel von Gott bzw. Christus ausgesandt wird, das Evangelium zu verkünden. Damit also gibt es deutliche Überschneidungen zwischen der kerygmatischen Funktion eines Apostels und eines Diakons. Allerdings kann mit der Funktionsbezeichnung diakonos sowohl eine missionarisch–gemeindegründende als auch eine katechetisch–gemeindeaufbauende Verkündigungstätigkeit verbunden werden (z.B. 1Kor 3,5f.). Charakteristikum der Verkündigung eines Apostels aber ist es, dass sie spezifisch missionarisch–gemeindegründend akzentuiert ist (z.B. 1Kor 9,1f; 15,1–11). Und in einem solchen gemeindegründenden Sendungsauftrag war dann auch die Apostelin Junia unterwegs (Röm 16,7).

Fassen wir wiederum zusammen:
[1.] Leitungsfunktionen sind neutestamentlich von frühester Zeit an in den Gemeinden der Christusgläubigen belegt und sie werden von Männern wie Frauen gleichermaßen ausgeübt.
[2.] Keine dieser Leitungsfunktionen ist allerdings sakral–kultisch, also priesterlich definiert.
[3.] Die Funktionsbezeichnungen diakonos, presbyteros und episkopos, die für die römisch-katholische Amtsterminologie konstitutiv wurden, sind zwar allesamt im Neuen Testament bezeugt. Doch finden sich diese Funktionsbezeichnungen an keiner Stelle als hierarchisch konzipierte Ämtertrias noch entsprechen sie inhaltlich dem Aufgabenkatalog der heutigen Ämter. In seiner heutigen Ausgestaltung ist das dreistufige Weiheamt in der römisch–katholischen Kirche also nicht in den neutestamentlichen Schriften als der Urkunde unseres Glaubens verbürgt. Das Argument einer unveränderlichen, sakrosankten Ämterstruktur ist damit nicht tragfähig. Wenn sich allerdings das kirchliche Weiheamt einer nachneutestamentlich–geschichtlichen Entwicklung verdankt, bedeutet das: Es kann sich auch weiterentwickeln. Ja, mehr noch: Es muss sogar reformiert werden, wenn es eine glaubwürdige Verkündigung des Evangeliums an die Menschen und ein evangeliumsgemäßes Leben innerhalb der Glaubensgemeinschaft heute eher behindert als fördert.
Als Mitglieder der römisch–katholischen Kirche sollten wir uns genau dafür stark machen. Und wir können uns dafür berufen auf den Appell Jesu: Kehrt um, denkt neu! Denn dieser Appell gegen ein „Es war schon immer so und soll so bleiben“ richtete sich bereits damals auch gegen ein scheinbar jeder Infragestellung enthobenes Kultpersonal.

Anstöße für das notwendig neue Denken in der Ämterfrage bietet die alte Tauftradition, die Paulus im Galaterbrief zitiert:
[26] Alle nämlich seid ihr Söhne Gottes durch den Glauben in Christus Jesus.
[27] Welche ihr nämlich auf Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen.
[28a] Da ist nicht Jude noch Grieche,
[28b] da ist nicht Sklave noch Freier,
[28c] da ist nicht männlich und weiblich.
[28d] Ihr alle nämlich seid Einer in Christus Jesus.
(Gal 3,26. 27f.)

Diese Überlieferung macht allen Getauften – damals wie heute – bewusst, was die Taufe bei ihnen bewirkt hat: Sie haben Christus wie ein Gewand angezogen (V. 27). Ein Sprichwort sagt: Kleider machen Leute. Die Getauften haben also die Identität Christi und damit die Identität des Sohnes Gottes geschenkt bekommen. Nicht zufällig spricht daher Paulus selbst einleitend davon, dass alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus sind (V. 26). Das gilt für alle getauften Menschen, und zwar unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht und ihrer sexuellen Identität! Auf der Ebene der Erlösungsordnung („in Christus Jesus“) unterscheiden sich die Getauften also nicht mehr voneinander, sie sind vielmehr Einer (V. 28d). Auf dieser Ebene – konkret also innerhalb der Kirche als Gemeinschaft der auf Christus Getauften – gelten daher gesellschaftliche, geschöpfliche oder sonstige Unterschiede nicht mehr, die Menschen in bevorzugte und benachteiligte, in machtlose und in mächtige Gruppen trennen.

Was bedeutet das nun für eine überfällige Reform des kirchlichen Weiheamtes?
[1.] Aufgrund ihrer Taufwürde, die ihnen unterschiedslos Anteil gibt an der Gottessohnschaft Christi, besitzen alle Mitglieder der römisch–katholischen Kirche ein geradezu sakramental verbürgtes Mitspracherecht bei diesem anstehenden und unausweichlichen Prozess. Der von Papst Franziskus weltkirchlich forcierte synodale Modus bei der Entscheidungsfindung zu an stehenden Fragen dürfte hier ein erster Schritt in die richtige Richtung sein.
[2.] Die allen Mitgliedern der Kirche gemeinsame und unterschiedslose Taufwürde verbietet ihre Unterteilung in die mächtige Standesgruppe der Kleriker und die machtlose Standesgruppe der Laien. Für die Getauften muss gelten: Da ist weder Laie noch Kleriker! Es wird also nicht reichen, mit Papst Franziskus klerikale Auswüchse zu beklagen. Vielmehr muss dem Klerikalismus die Wurzel dadurch abgeschnitten werden, dass das kirchliche Verfassungsrecht die Unterscheidung zwischen Klerikern und Laien aufhebt. Die Beauftragung von Personen mit der Spendung der Sakramente sollte also nicht mehr verbunden sein mit der Eingliederung in einen privilegierten Stand innerhalb der Kirche.
[3.] Wenn jeder und jede Getaufte in der Taufe die Identität Christi als des Sohnes Gottes erhalten hat, begründet die Taufe die prinzipielle Befähigung aller Getauften, Christus zu repräsentieren – und zwar unabhängig von ihrem eigenen biologischen Geschlecht und unabhängig vom biologischen Geschlecht Jesu von Nazaret als Mann. Der lehramtliche Versuch, Frauen aufgrund ihres Geschlechts die Möglichkeit abzusprechen, Christus zu repräsentieren, und ihnen deshalb den Zugang zum kirchlichen Weiheamt zu verweigern, ist daher als theologisch unhaltbar zu beurteilen und entschieden zurückzuweisen.

Darüber hinaus verschafft der Blick ins Neue Testament keine Kopiervorlage für die konkrete Ausgestaltung kirchlicher Ämter im 21. Jahrhundert. Doch lehrt dieser Blick uns erkennen, dass die Gemeinden der Christusgläubigen sich von Beginn an die Leitungsfunktionen und –ämter schufen, die sie für eine optimale Verbreitung des Evangeliums wie für ein lebendiges Glaubensleben nötig erachteten. Gerade wenn also Evangelisierung und Glaubensstärkung das aktuelle Gebot für kirchliches Handeln heute ist – wie Papst Franziskus und viele Bischöfe mit ihm nicht müde werden zu betonen – gerade dann lässt sich vom neutestamentlichen Zeugnis der Mut lernen, sich dafür die passenden amtlichen Leitungsstrukturen zu schaffen.

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1: Hierzu eine kleine Auswahl an Literaturhinweisen: Martin Ebner, Braucht die katholische Kirche Priester? Eine Vergewisserung aus dem Neuen Testament, Würzburg 2022; Marlis Gielen/Joachim Kügler, Papst Franziskus und die Zukunft der Kirche. Neutestamentliche Orientierungsangebote (Theologie. Forschung und Wissenschaft 46), Berlin 2014; Christoph Heil, Da ist weder Laie noch Kleriker. Zu einem wesentlichen Aspekt neutestamentlicher Gemeindemodelle, in: Michaela Sohn–Kronthaler/Rudolf K. Höfer (Hgg.), Laien gestalten Kirche. Diskurse – Entwicklungen – Profile (Theologie im kulturellen Dialog 18), Innsbruck/Wien 2009, 11–21; Anni Hentschel, Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentlichen Ekklesiologie (BThSt 136), Neukirchen–Vluyn 2013.

2: Zum historisch plausiblen Kreis der Tischgäste Jesu bei seinem Abschiedsmahl vgl. Marlis Gielen, „Der Kelch des Segens, den wir segnen, ... das Brot, das wir brechen ...“ (1Kor 10,16). Beobachtungen zur Rolle der Gemeinde und zur Frage des liturgischen Vorsitzes bei den urchristlichen Mahlfeiern, in: Ulrich Busse/Michael Reichardt/Michael Theobald (Hgg.), Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung (BBB 166), Göttingen 2011, 469–482, hier: 471–473.

3: In den Evangelien sowie in der Apg dient hiereus bis auf eine einzige Ausnahme (Apg 14,13: heidnischer Zeuspriester) ausschließlich zur Bezeichnung der Mitglieder der jüdischen Tempelpriesterschaft. Darüber hinaus beschränken sich die Belege zu hiereus auf zwei Schriften, wobei der Hebr mit 14 Belegen hervorsticht. Alle diese Belege stehen im Dienst der spezifischen Christologie des Hebr, die Christus als den eschatologischen Hohepriester kontrastiert mit dem Priestertum in Israel. Die Christusgläubigen haben nur Christus als den einen und einzigen (Hohe–)Priester. Priesterliche Funktionen innerhalb der christlichen Gemeinden bezeugt
der Hebr gerade nicht. Die 3 Belege der Offb verwenden die Bezeichnung hiereus ebenfalls nicht als sakral–kultische Funktion, die von bestimmten Personen innerhalb der Gemeinden der Christusgläubigen ausgeübt wird. Vielmehr deklarieren sie alle Christusgläubigen als Priester (vgl. dazu auch 1Petr 2,9 innerhalb eines Jesajazitats: „Ihr seid ... eine königliche Priesterschaft ...“).

4: Namentliche Beispiele für weibliche Hausvorstände sind etwa Lydia in Philippi (Apg 16,14f.) oder Nympha (Kol 4,15). Auch bei Phoebe aus Kenchreä legt sich aufgrund der Hinweise des paulinischen Empfehlungsschreibens (Röm 16,1f.) die Vermutung nahe, dass sie ein Hauswesen leitete.

5: Vgl. etwa Phoebe (Röm 16,1); Priska (Röm 16,3); Maria (Röm 16,6); Tryphäna, Tryphosis und Persis (Röm 16,12); Evodia und Syntyche (Phil 4,2f.).

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