Bischof Reinhold Stecher (1921-2013)
Predigt von Bischof Manfred Scheuer beim Requiem für Alt-Bischof Reinhold Stecher am 2. Februar 2013 im Innsbrucker Dom.
Ihr seid ein Brief Christi! Reinhold Stecher hat tausende Briefe geschrieben. Seine Handschrift ist unverwechselbar. Vermutlich haben viele, die heute da sind, von ihm einen Brief bekommen. So sind die Briefe mit den Büchern und Bildern ein wichtiger Teil seines Vermächtnisses, sie geben auch heute noch zu denken und zu glauben, sie provozieren und ermutigen. „Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes.“ (2 Kor 3,3) Bei Bischof Reinhold ist der Brief Christi angekommen in einer Zeit, in der er bei vielen auf halbem Weg verloren gegangen war. Mit seinem Zeugnis wird er zu einem Trostbrief in der Anfechtung, zum Mahnschreiben in dunklen Phasen des Lebens und des Glaubens, in winterlichen Gezeiten der Kirche.
„Der Gang zur Quelle“
so ist der Fastenhirtenbrief von Bischof Reinhold aus dem Jahr 1990 überschrieben.
„Einer der größten Schätze unserer Heimat ist das Wasser. Die Faszination .. in Bächen, Wasserfällen und Bergseen hat es bis heute behalten. … Wenn ich an die … verdurstenden Siedlungen der Welt, die Kilometer weit Wasser schleppenden Frauen und Kinder, die schmutzigen Pfützen denke, dann fällt über den sprudelnden Wassersegen meiner Heimat ein Schatten und mit ihm eine Verpflichtung zur Solidarität mit den Durstenden“, begründet Altbischof Reinhold Stecher sein Engagement für die Initiative „Wasser zum Leben“. Bischof Reinhold ist ein „Brunnenbauer mit Wasserfarben“. Sein Name steht inzwischen in vielen Orten in Afrika und in Albanien.
„Der Gang zur Quelle“, der Fastenhirtenbrief von 1990 ist ein Wort zur Heiligen Schrift und er verweist auf das Wort Gottes als reine ergiebige Quelle. „So möchte ich auch Euch, einladen, zur Quelle zurückzuwandern, sich vor sie hinzusetzen, still zu werden, zu staunen, zu horchen, zu schauen und zu trinken und dann mit neuer Glaubensfreude weiterzugehen.“
Eine wichtige Quelle war für Reinhold Stecher das Gebet. Die Wegstrecke auf die Waldrast hat er nicht in Stunden, auch nicht in Höhenmetern, sondern in Rosenkränzen gemessen. Es ist für ihn ein Gebet der Stille, gelernt im Schweigen der Einzelhaftzelle, in der Stille im Schützengraben, am Krankenbett. „Geduld bringt Rosen. … Wir sind nun einmal sprunghaft-unruhig, nervös-unkonzentrierte Menschen des Augenblicks. „Momentanisten“ hat uns ein Verhaltensforscher genannt.“ Der Rosenkranz kann „uns in eine gewisse Ruhe hinein begleiten und ist so zeitgemäß. Das geduldige, rhythmische Treten ist etwas beschwerlich, aber es bringt nach oben.“ Bischof Reinhold ist für mich ein Deuter der scheinbar kleinen und unscheinbaren Dinge, ein Deuter des Alltags. Unter dem Staub verbirgt sich ein goldener, göttlicher Hintergrund, in der Entlegenheit eines Gletscherhahnenfusses erschließt sich Lebens- und Überlebenskraft. Seine Bilder und seine Sprache führen zu Aha-Erlebnissen, die Sprachphilosophie nennt das „disclosure“.
Erinnerungsarbeit
Der junge Reinhold Stecher kam wegen „Organisation einer Wallfahrt“ in Gestapohaft. Als Altbischof schilderte er, wie er als junger Theologe den seligen Provikar Carl Lampert erlebte: als Figur des Widerstandes, eine einsame und tragische Figur in Zeiten des Staatsterrors. Bei einem Gedenken an die Opfer der Progromnacht hat er das Entsetzen über die Ermordung von Innsbrucker Juden ausgedrückt. Er vermittelte aber auch den prophetischen Zorn des Amos über die Auflösung des Rechtsstaates. Dann forderte er das nüchterne Bedenken der Hintergründe, den Wurzelverzweigungen des Hasses nach zu graben, den Nährboden für Vorurteile, Sündenbocktendenzen, Horizontverengungen, Rassenstolzdummheiten und Aberglauben aufzuspüren. Schließlich hat er sich „vor den vielen unschuldigen Opfern“ verneigt. Bischof Reinhold hat bisher alle Gedenk- und Festreden für die jüdische Kultusgemeinde gehalten. Er ist für die Kultusgemeinde ein Freund und ein Zadik, ein Gerechter.
Am Samstag, 16. Dezember 1944, fielen zwei Bomben in das Innere der Kirche St. Jakob. „Diese schöne Kanzel war einmal ein Puzzle-Spiel. … Im 2. Weltkrieg hat eine Fliegerbombe den Dom auf dieser Seite getroffen. Diese Bombe hat sehr viel kaputtgemacht. Unter anderem hat sie die Kanzel in viele hundert Stücke zerschlagen. Niemand hat gehofft, dass man diesen Schaden noch einmal reparieren könnte.
Aber wie wieder Friede war, ist ein sehr alter, geduldiger und geschickter Meister gekommen und hat in monatelanger Arbeit das ganze Puzzle aus den vielen Trümmern wieder zusammengesetzt. … Diese Kanzel erinnert uns daran, dass Krieg und Hass in wenigen Sekunden zerstören, was viele Jahre mühsam geschaffen haben, und was man monatelang herrichten muss. Die zerbrochenen Engel konnte man ja reparieren. Aber was ist mit den Menschen, die zugrunde gegangen sind, und mit denen, die Arme und Beine verloren haben? Reinhold Stecher in seinem Kirchenführer für Kinder 6)
Bischof Reinhold ist einer, der die Trümmer der Vergangenheit zusammenfügt. Erinnerung hat eine versöhnende Kraft und ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit. Bischof Stecher erzählte, um die gegenwärtige Verantwortung zu unterstreichen, um zu verändern mit dem Blick auf die Verwirklichung einer Zivilisation der Liebe. Seine Erinnerung macht uns Mut, heute Menschen mit Zivilcourage zu sein, die entschieden jede Form des sozialen Todes, jede Form der Ungerechtigkeit ablehnen und sich unabhängig von menschlichen Unterschieden den Notleidenden zuwenden.
Der Wanderprediger
„Es führen viele Wege zu Gott, einer geht über die Berge.“ Den Menschen im Land Tirol und weit darüber hinaus ist Bischof Stecher als Wanderer und Bergsteiger in Erinnerung. Und er war auch bis zuletzt bei Bergmessen, bei Festen des Alpenvereins und hat Bücher über das Gehen und Wandern geschrieben. Gehen, Wandern und Bergsteigen erschließt Stecher auf eine Selbstaussage Jesu im Johannesevangelium hin: „Ich bin der Weg.“ (Joh 14,6) Voraussetzung für die Faszination des Bergsteigens ist bei ihm, dass der Berg unheimlich ist, Größe und Unendlichkeit ausstrahlt. Das Erlebnis des Heiligen speise sich immer aus der Mischung von Anziehendem und Abschreckendem, von „Fascinosum und Tremendum“. Bischof Reinhold war und ist ein Wanderer, ein Wanderprediger zwischen den Welten, die sich auf engstem Raum finden, säkulare Welten, fromme Milieus, ein Wanderer zwischen Kindern und Sterbenden, aus intellektuellen Milieus in einfachere. Da ist Vielsprachigkeit gefordert und Einfühlung, Verständnis, der Versuch von Kommunikation.
Kirchlichkeit und Kritik
„Wenn alle Bischöfe so wie Bischof Stecher wären, dann würden weniger Leute aus der Kirche austreten, dann würde die Kirche besser dastehen“, so habe ich es in diesen Tagen im Internet gelesen. Aber auch: „Bischof Stecher ist mit seinen liberalen Positionen eine Ursache für die Kirchenkrise.“ Bei Begegnungen mit Joseph Kardinal Ratzinger bzw. Papst Benedikt XVI. fragte dieser in den letzten Jahren fast immer: Wie geht’s Bischof Stecher? Was macht Bischof Stecher? Meine Antwort: er gibt Exerzitienkurse, hat einen ökumenischen Predigtpreis bekommen, hält Vorträge, geht wandern, malt Bilder für viele karitative Anliegen… Der Papst hat aber auch noch die Briefe von 1997 ganz genau in Erinnerung: diese sind ihm sehr nahe gegangen.
Bischof Stecher beklagte oft die Kluft einer emotionalen Entfremdung zwischen Bischöfen und alltäglicher Seelsorge und befürchtete das „sakramentale Austrocknen“ und eine schleichende Entpersonalisierung der Kirche. Und er hat sich über die Jahrzehnte hinweg für die Weihe von „viri probati“ zu Priestern ausgesprochen. Er hat aber auch vorgelebt, wie ein zölibatärer Bischof ohne das Gefühl zu vermitteln, zu kurz gekommen zu sein, ohne Ressentiment ziemlich vernünftig, emotional ausgeglichen, lebensfroh und bejahend, in guten Freundschaften leben kann.
Unterscheidung der Geister: „Wir haben diskutiert über die Schwierigkeiten der Kirche. Du [Reinhold] sagtest: Lass das Beiwerk nur wackeln, konzentriere Dich auf das Wesentliche, auf den Glauben an Gott und an die Auferstehung.“ (Dr. Bruno Miller) Bischof Reinhold sah die Kirche im Vierfarbendruck, nicht Schwarz-Weiß, nicht fundamentalistisch, auch nicht mit liberaler Gleichgültigkeit, sondern bunt. „Mit der kühlen Farbe des Blau“ umreißt Stecher im „Kirchenbild das Institutionell-Hierarchisch-Juridische“, mit dem die meisten Schwierigkeiten bestehen (6). „Über das Blau der Institution muss das Rot des Geistes gelegt werden. Es ist die biblischtheologisch-mystische Seite der Kirche.“ (11) Die Gelbschicht ist „die gemeindlichoffen, geschwisterliche, pastorale Kirche. Es ist die Kirche, die in die dunkle Welt ein wenig Helle bringen will.“ (13) Und schließlich: „Der Grau- oder Schwarzdruck“ ist „unsere eigene, persönliche Kirchenerfahrung, die positive und die negative, die Kirchenfreude und das Kirchenleid, die Kirchenlust und der Kirchenfrust.“ (17)
Vergelt’s Gott, Bischof Reinhold für Deine Briefe, für Dein Gebet, für die Seelsorge, für Deine Arbeit an Erinnerung und Versöhnung, für Deine kritischen Fragen, damit wir der Barmherzigkeit Gottes auf der Spur bleiben. Danke für Deine Kreativität in Sprache und Bild, für Deinen Humor und die Karikaturen, mit denen Du Freiräume und Spielräume in deprimierenden Situationen und Phasen der österreichischen Kirche erschließt. Vergelt’s Gott für den Gang zu den Quellen. Mit Deinem Gehen verweist Du auf den, der von sich sagt: „Ich bin der Weg.“ Du bist bei IHM angekommen. – Behüte Dich Gott!