Vom rechten Gehorsam und notwendigen Ungehorsam

04.03.2012, Theodor Gams

Homilie zum 1. Fastensonntag „B“, 26.Februar 2012 von Diakon Theodor GAMS, Donaucity Kirche Wien, Evangelium: Mk.1,12-15, Lesung: Röm.5, 11b-14,19

Liebe Schwestern und Brüder!

Der Aufruf zum Ungehorsam der Pfarrer-initiative (PI) bewegte im Juni 2011 zunächst die katholische Kirche Österreichs, nun aber auch die in anderen Ländern. Der Wiener Erzbischof nennt den Aufruf ein „Kampfwort“. P. Albert und ich sind Mitglieder der Initiative, und in unserer Gemeinde hielt bei der im Herbst erfolgten Gemeinde-Befragung eine überwältigende Mehrheit den Aufruf für richtig. Deshalb wurde entschieden, dass nach der heutigen Einleitung an weiteren vier Fastensonntagen auch Laien zu den Forderungen der PI Stellung nehmen werden. Zur Einleitung schien es mir sinnvoll, Antworten auf vier Fragen zum komplexen Thema von Gehorsam und Ungehorsam im Leben des Einzelnen, der Gesellschaft und der Kirche zu geben.

Zur ersten Frage:

Woher kommt der Ungehorsam? In der heute vorgetragenen Lesung aus dem Römerbrief schreibt der Apostel Paulus, dass durch den Ungehorsam des Menschen die Sünde in die Welt kam. Nun wusste zwar Paulus noch nichts von der Evolution, aber er kannte den biblischen Mythos vom Ungehorsam als Anfang der Menschheitsgeschichte. Am fünften Schöpfungstag, vor 650 Millionen Jahren wehrten sich Quallen mit ihrem ausgeprägten Nervensystem bei einem Angriff, indem sie blitzschnell mit ihren Nesseln zuschlugen. Sünde? Nein! Im Paradies der Pflanzen und Tiere gab es weder Ungehorsam noch Sünde.

Am sechsten Schöpfungstag, im Lauf der Evolution des Homo erectus vor weniger als 1 Mio. Jahren und des Homo sapiens vor ca.150.000 Jahren entwickelte der Mensch ein größeres Gehirn mit der Folge wachsenden Erkennens, Denkens und Vorausschauens. Es wächst sein Bewusstsein um Verantwortung, zunächst für seinen Clan, dann wohl für Großgruppe, für sein Volk und zuletzt für die Gemeinschaft aller Menschen. Nach und nach wird der Mensch sich bewusst, verantwortungsvoll oder verantwortungslos handeln zu können. Aus dem bloßen Geschöpf Gottes wird er Mensch in Freiheit, wird Gottes Abbild und Kind. Seine Freiheit aber schließt die Fähigkeit zu Ungehorsam und zur Sünde mit ein. Da der Mensch weiterhin die lebensförderlichen „animalischen“ Triebe in sich trägt, lebt er deshalb im Zwiespalt: zwischen der Erkenntnis dessen, was gut und förderlich ist für das Leben anderer Menschen und der Welt einerseits und seinen Ich-zentrierten Triebkräften andererseits. Der noch an die Erde gebundene Adam - übersetzt heißt er Erdling - war unfrei. Indem er aber, biblisch gesprochen, die Frucht vom Baum der Erkenntnis isst, wird er frei und lebt nicht mehr im Garten Eden, denn: Freiheit und Paradies sind auf Erden zugleich nicht zu haben.

Zum Menschen macht uns erst die Freiheit, deren Preis die Versuchung zur Sünde ist. In die Versuchung gerät in der Wüste auch Jesus, wie es das Evangelium berichtet. Der Zwiespalt zwischen Gehorsam und Ungehorsam, Freiheit und eigene Schuld bzw. Schuldverstrickung, als Erbschuld verstanden, bestimmt unser ganzes Leben.

Zur zweiten Frage:

Was ist rechter Gehorsam? berichtet das Evangelium, dass Jesus nach dem Aufenthalt in der Wüste nach Galiläa geht und verkündet: „Glaubt an das Evangelium! Das Reich Gottes ist nahe“. Er wird freiwillig zum neuen Adam, der sich bindet an die neue Erde, das Reich Gottes. Dieses ist dort, wo einer im Gehorsam Gott gegenüber Verantwortung für die Menschen übernimmt, denen aber den Gehorsam verweigert, welche erstarrte Gesetze über das Wohl der Menschen stellen.

Konkret erklärt Jesus (bei Mt. 16,21) seinen Jüngern, wie er Gehorsam versteht. Er wirft Petrus vor, dass er nicht das im Sinn habe, was Gott will, sondern das, was die Menschen wollen. Und Menschen, insbesondere Machthaber forderten immer schon Gehorsam, um ihre Macht, um Strukturen und den Status quo zu erhalten. Die Mächtigen in Israel brauchten, wie auch heute manche Politiker, Außenseiter zum Ausgrenzen. Denken Sie nur an den Gelähmten im Evangelium vom vorigen Sonntag (Mk 2,1-12), von dem sie meinen, er oder seine Eltern hätten gesündigt. Indem Jesus ihn aber mitten in der versammelten Menge aufnimmt, zeigt er ihm, dass seine Lähmung keine Folge von Sünde ist, womöglich aber die Folge der Ausgrenzung durch die Gesellschaft. In der Annahme durch Jesus löst sich die Verkrampfung des Gelähmten und als die wahren Sünder stellt er die Schriftgelehrten bloß, die ihn deshalb zuletzt ans Kreuz bringen. Jesus missachtet auch sinnlos gewordene Reinheitsgebote (Mk. 7, 1-23), gewinnbringende Tempelregeln (Mk. 11, 15-19) und die unmenschliche Sabbatgesetzgebung (Mk. 6, 1- 11). Er wirft ihnen Formalismus (Mt. 5,33-38), Blindheit, Taubheit (Mk. 8, 18), Hartherzigkeit (Mk. 10, 5) und Geltungssucht (Mk. 12, 38-40) vor. Statt Gehorsam dem Gesetz gegenüber fordert Jesus Gehorsam Gott gegenüber: nicht blinden Gehorsam, nicht die Aufgabe von Selbstbestimmung und eigenem Willen, sondern die unbedingte Nachfolge im Dienst an Mensch und Gesellschaft. Diesem Wohl haben alle Menschen zu dienen, insbesondere aber die in Leitungsfunktionen. Wenn diese aber von Anderen Gehorsam fordern, dann müssen sie die Freiheit des Menschen und seines Gewissens respektieren. (Herder´s Theologischem Taschenlexikon, 1972 K. Rahner Hrsg.) In jedem Fall aber gilt Apg. 5,29: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“.

Zur Beantwortung der dritten Frage:

Welche Bedeutung hat der Ungehorsam? dient ein Blick in die Geschichte. In Gesellschaft (z.B. Ghandi),Wirtschaft (z.B. Befreiungstheologen), Wissenschaft (z.B. Galilei) und Religion (z.B. Hus) gab es schon immer Märtyrer, die den Gehorsam verweigerten, um ihrem eigenen Gewissen und den Gesetzen der Menschlichkeit und Vernunft zu folgen. Ohne den Ungehorsam herausragender Menschen wäre die Entwicklung unserer Welt anders verlaufen. Der Ungehorsam eines Franz von Assisi hat die Kirche in schwieriger Zeit erneuert. Die Aufklärung hat die Welt bewegt, und ungehorsame Beschützer von Juden sind bis heute ein Leuchtfeuer in der Nacht der Nazizeit. Ungehorsam kann notwendig sein. Der jüdisch-deutsche Wissenschaftler Erich Fromm schreibt dazu, dass der Mensch, der nur Gehorsam leisten und den Gehorsam nicht verweigern kann, ein Sklave sei. Andererseits gelte aber auch, dass ein Mensch, der nur ungehorsam sein und nicht auch gehorchen könne, lediglich ein Rebell sei und kein Revolutionär, denn er handle aus Zorn, Enttäuschung oder Ressentiment, nicht aus Überzeugung oder Prinzip.

Was viertens den kirchlichen Gehorsam betrifft, so gehe ich nur einem Aspekt nach. Erst vor wenigen Tagen schrieb mir ein Freund, ein Diakon aus München, er sei stolz darauf, dem Papst gehorsam zu sein. Hier stimme ich Fromm zu, der sagt, dass jeder Gehorsam einer Person, einer Macht oder Institution gegenüber Unterwerfung ist. Wir sprechen von „heteronomem Gehorsam“. Ein solcher Mensch verzichtet auf seine Autonomie und akzeptiert stattdessen einen fremden Willen oder eine fremde Entscheidung. Er folgt nicht seinem eigenen Urteil, seiner eigenen Überzeugung und überlässt die Verantwortung Anderen. Das mag bequem sein, ist aber kein Zeugnis eines reifen eigenen Selbst. Wenn nun mein Freund sagt, dass ihm sein Gewissen den Gehorsam der kirchlichen Obrigkeit gegenüber gebiete, dann kann ich ihm nur mit der Aussage von Sigmund Freud antworten, wonach das eigene Gewissen durchaus auch die verinnerlichte Stimme einer Autorität sein kann, die wir keinesfalls verärgern möchten. Freud bezeichnet das als autoritäres Gewissen, als „Über-ich“: internalisierte Gebote und Verbote des Vaters, die der Sohn respektiert. Von einem solchen Gewissen unterscheidet sich das „humanistische Gewissen“, die in jedem Menschen gegenwärtige Stimme, die uns intuitiv sagt, was menschlich und unmenschlich ist, was Leben fördert und was es zerstört. Christlicher Gehorsam folgt dieser Stimme.

Zusammenfassend meine ich: Mit unserer von Gott geschenkten Freiheit der Kinder Gottes ist uns auch die Fähigkeit zum Ungehorsam gegeben. Gehorsam im Sinne Jesu ist die Voraussetzung für den neuen Menschen und für das Reich Gottes auf Erden, in dem der Ungehorsam der Obrigkeit gegenüber notwendig sein kann. Deshalb ist für mich der Aufruf der PI keine Kampfansage. Er steht vielmehr im Einklang mit Canon 212 des Kirchenrechtes, wonach es Recht der Gläubigen ist, ja deren Pflicht sein kann, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, den geistlichen Hirten mitzuteilen.

Wir alle aber dürfen uns nun in einem Augenblick der Stille fragen, wo wir stehen mit unserem Gehorsam Gott gegenüber zu Beginn der Fastenzeit, da Jesus uns sagt: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“.

AMEN.