Demokratie braucht Religion

 
von Martha Heizer, 12.7.2024

Der Soziologe Hartmut Rosa (Universität Jena) hat beim Würzburger Diözesanempfang 2022 ein vielbeachtetes Referat gehalten, das anschließend gedruckt wurde und inzwischen in der 9. Auflage (!) bei Kösel erhältlich ist. Hier die Verlagsbeschreibung:

Was wäre die Moderne ohne Religion?
Welche Position nimmt Religion im Gefüge unserer modernen Gesellschaft ein? Ist sie nur ein Anachronismus, der den Wachstumskurs im globalen Wettkampf stört? Nur eine Spielart des Aberglaubens, der man privat gerne nachgehen darf, öffentlich aber bitte verschweigen soll? Dass die christlichen Kirchen hierzulande - auch unabhängig der aktuellen Skandale - ein massives Problem haben, ist kein Geheimnis. Nicht nur der Mitgliederschwund belegt dieses Resonanzproblem. Was aber, wenn Religion insgesamt keine Resonanz mehr in der demokratischen Gesellschaft erzeugt?

Der renommierte Soziologe Hartmut Rosa stellt die Frage, die nicht weniger als zukunftsweisend für die Entwicklung unserer Moderne sein wird: Was verliert die Gesellschaft, was verliert die Demokratie, wenn die Religion darin keine Rolle mehr spielt? Worin liegt das Potenzial der Religion für unsere Zukunft als Demokratie? Ist es wirklich so klug, auf den reichen Schatz des Religiösen zu verzichten?

In gewohnt messerscharfer Manier analysiert Rosa unsere Moderne und wagt das Gedankenspiel, was geschieht, wenn das Ideenreservoir jahrhundertealter Religionen in einer hochmodernen Gesellschaft verloren geht. Ein leidenschaftlicher Text, der auf Rosas Vortrag beim Würzburger Diözesanempfang am 17. Januar 2022 beruht.

Mit einem Vorwort von Gregor Gysi.

Ich habe diesen Vortrag mit Gewinn gelesen. Die Gesellschaftsanalyse von Rosa ist nicht wirklich rosig. Er spricht von einem „rasenden Stillstand“, zerpflückt die Wachstumsideologie und erklärt, warum wir davon nicht loskommen. Ich habe die Bemühungen der Soziologie, unsere Welt und unsere Gesellschaft zu deuten, schon immer sehr erhellend gefunden. Sie haben nicht immer meine Zustimmung (hier schon), aber immer mein Interesse. Auch das Vorwort von Gregor Gysi, dem deutschen linken Politiker, ist faszinierend.

Ich möchte hier zwei Zitate wiedergeben, die die Tendenz dieses Büchleins verdeutlichen:

Zunächst aus dem Vorwort von Gysi:

„Als jemand, der nicht an Gott glaubt, ist es mir wichtig, dass der befreiende Gehalt religiöser Ideen, auch wenn er erst in einer Religionskritik sichtbar werden sollte, nicht verloren geht. Auch wenn Demokratie immer einen formalen Verfahrenskern hat, verkümmert sie, wenn sie ausschließlich als eine Ansammlung von Verfahren zur Herrschaftslegitimation begriffen wird. Letztlich geht es immer um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen…

Und es sind eben zurzeit nur die Religionen wirklich in der Lage, grundlegende Moral- und Wertvorstellungen allgemeinverbindlich in der Gesellschaft prägen zu können….

Nun wird mir oft entgegengehalten, dass doch bei den Kirchen nun wahrlich auch nicht alles im Lot sei und milliardenschwere Bistümer nicht unbedingt ein Hort sozialer Gerechtigkeit seien. Man kann andererseits aber eben auch nicht umhin, dass sehr viele Menschen in den Kirchen Moral- und Wertvorstellungen wie die Achtung der Menschenwürde, Solidarität, Barmherzigkeit durch ihr tägliches Tun leben und vermitteln und im besten Sinn zum Gemeingut machen, mit dem Entfremdungstendenzen der realen gesellschaftlichen Praxis zumindest teilweise kompensiert werden…“

Das klingt doch sehr bestätigend, nicht wahr? Es gibt wieder, was uns in unserem Bemühen um unsere Kirche nicht müde werden lässt.

Dazu passt das Schluss-Resümee von Hartmut Rosa:

Für mich ist die Grundidee dort, dass am Grund meiner Existenz nicht das schweigende Universum, ein kalter Mechanismus, der nackte Zufall oder gar ein feindliches Gegenüber liegen, sondern dass dort eine Antwortbeziehung steht. ‚Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!‘ Wenn das kein Resonanzappell ist!...

Das ist nicht nur ein theologischer Gedanke, sondern es ist eine gelebte religiöse Praxis…

Es geht mir um die Frage, welche Art von Weltbeziehung aus der oder in der religiösen Praxis entsteht. Mein letztes Wort ist deshalb: Religion hat die Kraft, sie hat ein Ideenreservoir und ein rituelles Arsenal voller entsprechender Lieder, entsprechender Gesten, entsprechender Räume, entsprechender Traditionen und entsprechender Praktiken, die einen Sinn dafür öffnen, was es heißt, sich anrufen zu lassen, sich transformieren zu lassen, in Resonanz zu stehen.

Wenn die Gesellschaft das verliert, wenn sie diese Form der Beziehungsmöglichkeit vergisst, dann ist sie endgültig erledigt. Und deshalb kann die Antwort auf die Frage, ob die heutige Gesellschaft noch der Kirche oder der Religion bedarf, nur lauten: Ja!“

Martha Heizer