15.01.2010, Univ.-Doz.Dr. Paul Weß
Aus: Die Furche 66 (2010), Nr. 1 vom 7. Jänner 2010, Seite 12
Was Ernst-Wolfgang Böckenförde für den freiheitlichen Staat formuliert hat, müsste längst auch auf europäischer und globaler Ebene weitergedacht werden: Es geht um einen mühsamen Prozess der Verständigung auf nicht-abstimmbare Voraussetzungen im Sinne einer moralischen Kultur, ohne die Demokratie nicht funktionieren kann.
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
So lautet das von Ernst-Wolfgang Böckenförde (in: Recht, Staat, Freiheit. Frankfurt a. M. 21992, 112f) formulierte Paradox oder Dilemma, das ebenso für eine Gemeinschaft freiheitlicher Staaten gilt. Es kann helfen, die eigentliche Problematik des Schweizer Votums gegen den Bau von Minaretten zu verstehen. Denn abgesehen davon, dass eine Zustimmung von 57,5 Prozent bei einer Beteiligung von 53 Prozent der wahlberechtigten Schweizer(innen) keine Schlüsse auf die tatsächliche Meinung der Mehrheit der Bevölkerung zulässt (auch das müsste kritisch durchdacht werden), geht es in dem Konflikt zwischen diesem Abstimmungsergebnis und dem Menschenrecht auf freie Religionsausübung letztlich darum, unter welchen Voraussetzungen diese und andere Freiheiten bestehen können, ohne die entsprechenden Freiheiten anderer, die sich dadurch bedroht fühlen, zu gefährden. Auch die Menschenrechte müssen untereinander (etwa das Recht auf Meinungsfreiheit mit jenem auf Schutz vor Verleumdung) sowie mit den korrelierenden Menschenpflichten in Einklang gebracht werden.
Vorrationales Ur-Gewissen
Die Staaten können die dafür nötigen moralischen Grundlagen bei ihren Angehörigen nicht mit einem Rechtszwang oder mit autoritativen Vorschriften durchsetzen, weil das gar nicht möglich ist. Noch weniger können diese Voraussetzungen und die auf ihnen beruhende Demokratie von außen einer Gesellschaft aufgezwungen werden. Denn es handelt sich um die Anerkennung ethischer Werte, die jede und jeder Einzelne selbst im eigenen Gewissen erkennen und in Freiheit bejahen können muss. Dieses (Ur-)Gewissen liegt noch vor den Gewissensurteilen, im vorrationalen Bereich des Herzens. Es muss geweckt werden und kann verschüttet oder verhärtet sein. Im Anschluss an Antoine de Saint-Exupéry könnte man sagen: Man sieht nur mit dem guten Herzen gut, was es bedeutet und verlangt, miteinander Mensch zu sein.
Eine freiheitliche Gesellschaft lebt also von den nicht-abstimmbaren Voraussetzungen menschlichen Zusammenlebens, die nicht einer „Volksherrschaft“ unterliegen, sondern mit dem Menschsein der Demokratie vorgegeben sind. Ihre freie Anerkennung durch die einzelnen Glieder der Gemeinschaft ist die Grundbedingung, dass diese funktionsfähig ist, ohne in eine Diktatur und einen Polizeistaat zu verkommen oder durch Korrup-tion und Kriminalität zugrunde zu gehen. Gerechte Strukturen sind nur unter Menschen mit gerechter Gesinnung möglich. Die dafür nötige Moral kann auch nicht durch einen Gesellschaftsvertrag abgesichert werden, weil die Verpflichtung, Verträge einzuhalten, nicht selbst wieder nur durch einen Vertrag begründet werden kann.
Freiheitliche Staaten können nicht davon ausgehen, dass ihre ethischen Grundlagen ohnehin geklärt wären und wenigstens mehrheitlich bejaht würden. Ohne das Ergebnis verordnen zu können, sollten sie daher unter Beteiligung aller weltanschaulichen Grup-pierungen einen – allerdings mühsamen – Prozess der Klärung und möglichst breiten Anerkennung dieser nicht-abstimmbaren Voraussetzungen ihrer Existenz in Gang setzen und fördern. Gerade im Pluralismus von Weltanschauungen und Religionen kann dies nicht der Macht der Stärkeren oder der Meinungsbildung durch die Medien und die Werbung überlassen werden. Ein schulischer Ethikunterricht, der nur über die ver-schiedenen ethischen Theorien informiert, ohne sie zu beurteilen, kann diese Aufgabe nicht erfüllen. Es genügt auch nicht, diese Aufgabe nur den weithin verunsicherten El-tern zu übertragen, die aber an einem solchen Prozess zu beteiligen sind.
Integration für In- und Ausländer
Die wichtigste Voraussetzung für eine Zuwanderung von Ausländern ist demnach nicht deren Sprachkenntnis oder ihr Wissen um historische oder andere Daten und einzelne gesetzliche Bestimmungen, sondern ihre Annahme dieser moralischen Grundlagen des Zusammenlebens. Dementsprechend sollten aber auch die eigenen Staatsangehörigen anlässlich der Erteilung des Wahlrechts und der Volljährigkeitserklärung gefragt werden, ob sie mit ihren Rechten auch die Pflichten übernehmen, die zur Erfüllung der Rechte der anderen nötig sind. Denn eine Regel im Sinn von „Ich habe die Rechte, die anderen haben die Pflichten“ kann nicht funktionieren.
Das gilt auch für weltanschauliche und religiöse Gruppen. Daher wären die Religions-gemeinschaften vor einer staatlichen Anerkennung daraufhin zu prüfen, ob ihr eigenes Selbstverständnis mit einem freiheitlichen Staat kompatibel ist und sie nach ihren Zielvorstellungen die Religionsfreiheit, die sie selbst in Anspruch nehmen, sowie die anderen Menschenrechte in einer säkularen Gesellschaft bejahen; und dies auch dann noch, wenn sie einmal eine qualifizierte Mehrheit erreichen sollten, die Verfassungsänderungen durchsetzen kann. Das müsste sich daran zeigen, dass sich dieselben Reli-gionsgemeinschaften in den Ländern, wo sie die Mehrheit bilden, für die Religionsfreiheit und die Wahrung der weiteren Rechte einsetzen; andernfalls müsste es zu einer ausdrücklichen Distanzierung kommen.
Wie die Unfähigkeit der Weltpolitik, den Turbo-Kapitalismus zu bändigen, und das faktische Scheitern der Weltklimakonferenz zeigen, mangelt es an dieser moralischen Substanz und Homogenität der Menschen weltweit. Denn es wäre eine falsche und ungerechte Vereinfachung, die Schuld daran einfach den Politikern anzulasten. Diese werden von Mehrheiten gewählt und können nicht gegen deren Willen handeln. Wenn daher die Mehrzahl der Menschen Politik nur als Dienst an der Verwirkli-chung ihrer je eigenen individuellen und nationalen Interessen versteht, ist ein globa-les Maßhalten nicht möglich. Dieses würde erfordern, die Allmachtsphantasie von einem unbegrenzten Wachstum aufzugeben und eine universale Solidarität des Wohlwollens - nicht nur eine zum je eigenen Vorteil - einzuüben. Damit zukünftige Generationen auf dieser Erde leben können, ist letztlich von allen ein Verzicht verlangt, der ihnen in der Gegenwart kaum etwas bringt (abgesehen von einem guten Gewissen). Das verlangt eine Ehrfurcht gegenüber der vorgegebenen Schöpfung und eine Liebe zu Menschen, die noch gar nicht auf der Welt sind und von denen man daher auch nichts haben kann, also an Stelle eines Sozialdarwinimus oder einer bloßen Tauschgerechtigkeit eine sehr hohe Moral.
Ringen um soziale Identität
Der Konflikt um Minarette in der Schweiz ist nur ein Symptom für eine viel tiefere Problematik: Es braucht in freiheitlichen Staaten und daher auch in der Europäischen Union sowie weltweit eine gemeinsame moralische Kultur, eine soziale Identität, die sich über die vorgegebenen und daher nicht-abstimmbaren Voraussetzungen menschlichen Zusammenlebens einig ist (der Begriff „Leitkultur“ ist dafür nicht gut geeignet, weil er im Sinn einer autoritär vorgegebenen Ordnung verstanden werden kann). Diese Grundfrage mit ihren Konsequenzen ist virulent geworden. Hoffentlich wird sie nicht in einer „political correctness“ unter den Tisch gekehrt, bis es einmal zu spät ist.
Lit.: Paul Weß, Welche soziale Identität braucht Europa? Essay. Mit einem Geleitwort von Kardinal Franz König und einem Nachwort von Erhard Busek. Wien (Czernin-Verlag) 2002.