Von Glaubensidealen zur Glaubenswirklichkeit

Warum „Lumen Fidei“ ungelöste Fragen hinterlässt

06.07.2013, Hermann Häring und Norbert Scholl

Welch eindrucksvolle und überzeitliche Symbolik, die bei archaischen Religionen und hellenistischen Kulten, bei indischen Vishnugläubigen und postmodernen Naturverehren zu Hause ist: Sonne und Licht als Quelle von Leben und Orientierung, in denen die Wirklichkeit aufstrahlt und das mitmenschliche Antlitz leuchtet. Sie lassen uns das Gute sehen und die Wahrheit erkennen. Diese fruchtbare und überzeugende Lichtmetapher durchzieht viele Partien der neuen Enzyklika, und warum sollten sich engagierte Christinnen und Christen nicht in all den Passagen wiedererkennen, in denen Benedikt und Franziskus den christlichen Glauben in dieses Licht hüllen: bei Abraham, den Patriarchen und Propheten Israels, bei Jesus von Nazaret mit seiner Botschaft von Liebe, Auferstehung und Geistsendung, bei überzeugenden Gestalten wie Franz von Assisi oder Mutter Teresa. Aber Symbole müssen intuitiv ankommen und funktionieren. Sie lassen sich nicht anbeweisen, sondern setzen zwischen Schreibern und Lesenden eine gemeinsame Grunderfahrung voraus.

Die ungenügende Welt

Genau diese Gemeinsamkeit ist von Anfang an belastet, denn schon dort wird der „Neuzeit“ pauschal ein unangemessener Stolz vorgeworfen, der den erhellenden Glauben ins Dunkel verbannt (Nr. 2). Den Glauben habe sie zum Lückenbüßer gemacht und die Menschen hätten auf die große Wahrheitssuche verzichtet (Nr. 3). Mehr noch, wir leben heute in einer Wahrheitskrise (Nr. 25), glauben technischen Wissenschaften oder akzeptieren nur noch, „was jeder innerlich empfindet“. In diesem Relativismus interessiere die Frage nach der universalen Wahrheit nicht mehr. Der „moderne Mensch“ spalte die Liebe von der Wahrheit ab (Nr. 27). Bevor der päpstliche Text überhaupt dazu kommt, Einzelfragen zu thematisieren, suggeriert er diesen großen Dualismus zwischen wahrheitsvergessener Moderne und der einzigen Wahrheitsquelle in Christus, zwischen einer enttäuschten Menschheit und der Kirche als der großen Hoffnungsträgerin, auf die wir jetzt zurückgreifen müssen. Ist sie wirklich die einzige Quelle des Lichts?

Welches Licht etwa bringen uns andere Religionen oder Weltanschauungen, die Wissenschaften und die Philosophie, die schon mehr als eine Selbstkorrektur erzwungen haben? Diese Frage wird schlicht vergessen, in keiner Weise gewürdigt. Ist die Welt wirklich so wahrheitsvergessen, wie es Benedikt unterstellt und von Franziskus kritiklos übernommen wird? Sie übersehen, dass ihre Vernunft‐, Wissenschafts‐ und Modernitätskritik schon lange vor ihnen – z.B. in religionskritischer Absicht – entwickelt wurde. Warum schmücken sie ihren Text ausgerechnet mit Nietzsche? Und warum wohl hat sich das Bild vom christlichen Dunkelmännerglauben durchgesetzt? Die Kirchen selbst waren es, die ihrem großen Glaubensprojekt die Glaubwürdigkeit genommen haben. Wäre Benedikt konsequent, müsste er die scharfe Weltkritik auf seine eigene Kirche und auf deren Glaubensauslegung ausdehnen. Diese Inkonsequenz spüren die Menschen und lassen sich deshalb vom unbestrittenen Gedankenreichtum des Textes kaum berühren. Gerade für die Kritischen und Selbstkritischen unter uns klingt diese Enzyklika selbstgerecht und überheblich.

Weltferne Projektion

Hinzu kommt ein zweiter Punkt, der uns noch hilfloser zurücklässt. In sich entfaltet das Rundschreiben eine vollendete Theorie vom Glauben, also ein strahlendes Glaubenskonzept, eine überzeitlich universale Idee von der Glaubenswahrheit, so wie sie der emeritierte Papst eben sieht. Viele werden darüber begeistert sein. Man sollte den Ex‐Papst nicht tadeln, auch wenn dieses Gebäude schwer zu begehen ist. Beim Berg Sinai macht man sich auch die Mühe, die nahezu 4000 Stufen mühsam hochzusteigen, um dort oben den strahlenden Sonnenaufgang zu erleben.

Sind wir aber mit Benedikt im Glaubenshaus unserer Gegenwart oder in dem des fünften Jahrhunderts? Halten wir uns nicht bei seinen merkwürdigen Väter‐Phantasien auf, die sich etwa die Frage stellt, warum denn die Geliebte im Hohenlied (1,15) zwei Augen hat, um dann vom Auge des Glaubens und dem der Liebe zu sprechen (Nr. 27). Solche Pretiosen kann man überschlagen.

Aber uns irritiert Benedikts Unterstellung, wir alle lebten wie Athosmönche in einem perfekten Glaubenshaus. Denn das ist nicht der Fall. Natürlich möchten wir uns alle vom Glaubenslicht leiten lassen. Aber unsere Glaubenserfahrungen, ‐versuche und ‐enttäuschungen kommen in diesen Zeilen nicht vor. Die Benedikt‐Kapitel I‐III bleiben merkwürdig abstrakt und weltfern. Die Rede ist vom Glauben an sich. Vergessen sind unsere kläglichen Versuche und unser Scheitern. Abgeblendet wird unsere tägliche Auseinandersetzung mit einer überanstrengten Welt, die ihre eigene Würde sucht. Ignoriert wird unsere moralische Empörung gegenüber machtvoll zynischen Institutionen, auch unsere Empörung gegenüber einer fragwürdig geworden Kirche. Warum bleiben wir mit diesen Fragen allein?

Nirgendwo spüren wir, dass Glaube ein sehr profaner, oft ein menschlich fragwürdiger Prozess sein kann, und niemand antwortet uns auf die Frage: Warum denn sind – in uns selbst ‐ Glaube und Unglaube, Licht und Dunkel, christliche Wahrheit und unchristliche Arroganz oft so nahe beieinander? Benedikt präsentiert uns einen Glauben in einer geradezu himmlischen, vielleicht mönchisch abgeklärten, platonisch überhöhten Gestalt, so als zeige er sich uns nicht in oft zerschlissenen und ärmlichen, enttäuschten, durch und durch menschlichen Gewändern. Spricht die Enzyklika wirklich von uns, von unseren Hoffnungen und Freuden, unseren Ängsten und den täglich neuen Versuchen? Vielleicht ist das der entscheidende Grund dafür, dass diese Enzyklika ‐ wie so viele zuvor – in wenigen Wochen wieder vergessen sein wird.

Ein autoritäres Angebot

Ein dritter Punkt kommt hinzu, der viele reformorientierte Christinnen und Christen wohl am meisten stört, weil er die Logik der gestellten Fragen fortsetzt und alle Gegenfragen ignoriert. Die Enzyklika stellt sich ja, wie wir sahen, gegen die (moderne) Welt. Sie macht sich also nicht die Mühe, auf die großen Fragen der Gegenwart (Gleichberechtigung, Sexualmoral, Menschenrechte, Armutsfragen) einzugehen. Ferner präsentiert sie den Glauben an Christus in einer weltfernen, metaphysisch ausformulierten Sprachperfektion. Von Nachfolge und neuen Glaubensformen, der Glaubenssprache in verschiedenen Kulturen und der Glaubenspraxis in globalen Kontexten ist nicht die Rede. Dieses Rundschreiben nimmt uns Frauen und Männer, Eltern und pastorale Verantwortliche nicht ernst in unserem modernen Alltag, der täglich neue Herausforderungen bringt.

Es gibt dafür einen einfachen, naheliegenden Grund: In der Enzyklika kommen genau diejenigen Christinnen und Christen nicht zu Wort, die die moderne Welt und deren Herausforderungen aufnehmen, in die Kirche hineintragen, das Christsein also unter neuen Bedingungen leben und sich ohne Anleitung diesen Spannungen stellen. Durch das ganze Dokument zieht seine autoritäre Linie. Wiederholt wird davon gesprochen, dass „die Kirche“ die Wahrheit des Glaubens weiterträgt; faktisch meint diese „Kirche“ deren hierarchischen Überbau (Nr. 1,6,22,36‐48). Wiederholt werden die Apostolische Sukzession (Nr. 4,5,7,49) und das päpstliche Lehramt (Nr. 7,36,49) genannt. Begriffe wie „Volk Gottes“, „Charismen“ oder „Gemeinsames Priestertum“ sucht man vergeblich, so als hätte es kein 2. Vaticanum gegeben. Selbst die Passagen über die Taufe (Nr. 41‐43) erinnern mit keinem Wort an die Würde, geschweige denn an die Rechte der Getauften in der Glaubensgemeinschaft. So reproduziert diese Enzyklika einmal mehr die Lebenssituation einer klerikalen und zölibatären Elite, die den schützenden Raum kirchlicher Häuser und Gemeinschaften nie verlassen, an der Peripherie also nichts gehört, nichts gesehen und auch nichts gelernt hat. Die „normalen“ engagierten, getauften Frauen und Männer aber, gemeinhin „Laien“ genannt, kommen in „Lumen Fidei“ nicht vor. Auch nicht die vielen überforderten Pfarrer, Seelsorgerinnen und Seelsorger, denen immer mehr Arbeit aufgelastet wird und die keine Zeit mehr finden, auf die Fragen und Nöte der Gemeindemitglieder einzugehen.

Leider hat auch Papst Franziskus den autoritären Charakter dieses Textes nicht durchbrochen. Damit hat er die erste große Chance seines Pontifikats verpasst. Weder aus seiner noch aus seines Vorgängers Hand möchten wir eine Enzyklika lesen, die sich in erster Linie an die Bischöfe richtet und kraft Anrede den normal Getauften und Gefirmten das Privileg abspricht, Gott geweiht zu sein.

Was ist daraus zu folgern? In den vergangenen Jahren haben reformorientierte Gruppen im Sinne der Kirchenerneuerung gelernt, in eigener Glaubensverantwortung eigene Wege zu gehen. Wir sollten gegen „Lumen Fidei“ nicht zu Felde ziehen und die intellektuelle Leistung des Dokuments nicht herunterspielen. Zumindest gilt dies: Nichts, was in ihr steht, ist unrichtig. Aber wir müssen fragen, warum dieses Rundschreiben seine Adressaten, nämlich die „Christgläubigen“, so umfassend verfehlt hat. Wir kommen in diesem Rundschreiben nicht vor. Deshalb werden wir es vor dem Hintergrund unserer Glaubenserfahrungen, unserer Rollen in unserer Welt und im Licht unserer Visionen vom Reich Gottes weiterschreiben. Wenn ein „Rundbrief“ denn überall ankommen soll, muss er auch aller Handschrift tragen.

Franziskus: ein neuer Weg?

Papst Franziskus hat die Enzyklika unterzeichnet und damit gegenüber seinem Vorgänger eine Geste der Kollegialität gezeigt. In dieser Freundlichkeit hat er aber zugelassen, dass der Grundton des Dokuments weitgehend von seinem Vorgänger bestimmt wird. Das ist schade. Gewiss, wenigstens Kapitel V hat die Tore kirchlichen Handelns weit geöffnet. Dort ist von der gestaltenden Kraft der Liebe die Rede. Es geht um Menschen und menschliche Gemeinschaften, die auf uns warten, um die Familie und die Gesellschaft als Orte christlichen Handelns. Das Glaubenslicht „erleuchtet nicht nur das Innere der Kirche, noch dient es allein der Errichtung einer ewigen Stadt im Jenseits; es hilft uns, unsere Gesellschaften so aufzubauen, dass sie einer Zukunft voll Hoffnung entgegengehen.“ (Nr. 51) Aber auch Papst Franziskus zerstört die Fiktion nicht, einzig eine hierarchische Kirche könne die unverfälschte Wahrheit verkünden, diese Wahrheit gehe einseitig vom hierarchischen Lehramt aus und der christliche Glaube dürfe das säkulare und interreligiöse Gespräch einfach vergessen.

Noch immer bleiben die Zukunftserwartungen unter Papst Franziskus im Dunkeln. Gepriesen werden sein bescheidenes und charismatisches Auftreten. Er wird selbst darauf achten müssen, dass man ihn nicht als Alibi‐ und Kultfigur missbraucht. Gepriesen wird seine „spirituelle Führerschaft“. Er sollte nicht vergessen, dass eine Organisation von 1,29 Milliarden Menschen über die spirituelle Führung hinaus einer Struktur bedarf, die Pluralität und Partizipation ermöglicht und schützt. Auch ein sympathischer Papst rechtfertigt keine Papsteuphorie. Dafür ist die Weltsituation zu ernst. Wir müssen uns deshalb selber klar werden, was wir wirklich wollen. Daran werden auch Dokumente wie diese Enzyklika zu messen sein.

Hermann Häring und Norbert Scholl am 6. Juli 2013