29.12.2012, Michael Haas
Ein interessanter Artikel aus der iPad-App der Süddeutschen Zeitung: Die Seite Drei, am 28.12.2012. Die amerikanischen Ordensfrauen werden mit dem Herbert-Haag-Preis für Freiheit in der Kirche am 14. April 2013 in Luzern ausgezeichnet.
Los Angeles - Was an Margaret Farrell auffällt, ist, dass an ihr nichts auffällt. Sie hat einen praktischen Pagenschnitt, die zierliche Gestalt steckt in einer bunt geblümten Bluse und einer beigen Hose. "Wenn ich hier in meiner Nonnentracht ankommen würde, würden alle auf Abstand gehen", sagt Schwester Margaret, 52. "Jesus hat gesagt, wir sollen uns einfach kleiden."
Eine Nonne im Tarnanzug. Alles andere an ihr ist auffallend ungewöhnlich. Am helllichten Nachmittag bricht einer ihrer Klienten mit nacktem Oberkörper durch die elektronisch gesicherten Eingangstüren vor ihrem Büro im Covenant Haus in Hollywood. Blut schießt aus mehreren Wunden an seinem Hinterkopf. Farrell rennt in ihr Büro, kommt mit einem Stapel Handtücher zurück und drückt sie dem Verletzten auf den blutenden Nacken, bis die Sanitäter kommen. Später wird sie ihn in der Notaufnahme besuchen: Schädelbasisbruch, Gehirntrauma. Möglich, dass er einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war. "Gangs!", sagt sie. "Vielleicht war das die Bewährungsprobe für den Neuling in einer Gang, vielleicht ein Bandenkonflikt." Sie hat gelernt, keine BHs mit Drahtkörbchen zu kaufen, weil man mit dem Metall nicht durch die Sicherheitsschleusen der Jugendgefängnisse kommt.
Was der Tag bringen wird, weiß sie nie so genau. Aber sie ist auf alles vorbereitet: Seit ein Klient sie mit dem Messer bedroht hat, steht ihr Schreibtisch so, dass sie schneller an der Tür ist als der Besucher.
Ihr winziges Büro dürfte zu den am vollsten gestopften acht Quadratmetern der Welt zählen. An der Tür hängt das Wort "Hoffnung" schief auf Holz genagelt, hinter ihr Martin Luther Kings "I have a Dream". Bis unter die Zimmerdecke stapeln sich Windeln, Teddybären, Spielzeugautos, Turnschuhe, Kleidung, Schminke, Cremes, Pflaster, Dankeskarten, Antragsformulare, Einweghandschuhe. Gleich neben dem Eingang ein Rottweiler mit Einwurfschlitz - für Spenden. Am Schrank hängt ein Foto von ihr mit einem dunkelhäutigen Findelkind, das in Mexiko aus einer Mülltonne gefischt wurde. Über dem Chaos thront ein pinkfarbener Jesus aus Plastik. Im Winter, wenn es auf den Straßen nachts empfindlich kalt wird, dürfen sich Besucher in dem Sammelsurium greifen, was sie brauchen können. Nur Jesus und Rottweiler nicht.
Seit 12 Jahren betreut die Ordensschwester mit dem irischen Akzent obdachlose Jugendliche im Covenant House. Damit ist sie eine dieser verdächtigen Nonnen, vor denen der Vatikan gewarnt hat. Am 14. April 2012 gab die vatikanische Glaubenskongregation ein Edikt heraus. Darin hieß es, die Dachorganisation katholischer Nonnen in Amerika, die Leadership Conference of Women Religious (LCWR), sei nicht linientreu genug. Im LCWR sind 80 Prozent der 57 000 amerikanischen katholischen Schwestern organisiert, auch Farrells Orden, die Sisters of Charity. Die Frauen kümmern sich zu viel um die Ärmsten und protestierten nicht laut genug gegen Empfängnisverhütung, Schwulenehe und die Ordinierung von Frauen, kritisierten die Glaubenswächter. Die Dachorganisation wurde unter die Aufsicht von drei konservativen Bischöfen gestellt. Kardinal William Levada befürchtet gar "radikalen Feminismus" bei den Nonnen. Und das bei einer Organisation, in der das Durchschnittsalter bei 73 Jahren liegt.
Margaret Farrell kennt die Vorbehalte: "Viele sagen, wie kann ich mich als Nonne nur mit solchen Menschen umgeben. Schwule, Transsexuelle, HIV-Infizierte. Denen sage ich: Lest die Bibel. Schaut, mit welchen Leuten sich Jesus umgeben hat."
In Südirland streng katholisch aufgewachsen, entschied sie sich mit 22 Jahren für den Orden. Eine befreundete Novizin überredete sie, mit nach Kalifornien zu kommen. Die Freundin flog nach wenigen Wochen wieder nach Hause, heiratete, bekam drei Kinder. Farrell blieb: um Bedürftigen zu helfen.
Die Sisters of Charity legen ein Gelübde ab, sich für die Ärmsten zu engagieren. Margaret Farrell sammelt die Gestrandeten auf, die vom Versprechen Hollywoods angelockt werden und am Straßenrand liegen bleiben. Menschen wie Octavio Del Castillo, der mit 13 Jahren von seinen katholischen Eltern verstoßen wurde, als er seine Homosexualität entdeckte. Erst kam er auf den Straßenstrich, dann zum Crack, dann zu Schwester Margaret. "Ohne sie wäre ich nicht mehr am Leben", sagt der Mexikaner. Er ist jetzt 25 Jahre alt und arbeitet als Manager bei einer Sandwich-Kette. "Sie ist meine Mutter, meine Patentante, mein Engel. Alles zusammen."
Er traf sie, als sie durch das Covenant Haus marschierte und "Kirche, Kirche" rief, um ihre Schützlinge für den Gottesdienst einzusammeln. Die meisten ihrer Klienten stammen aus christlichen Familien und wurden von ihren Eltern verstoßen, als ihre Sexualität nicht mehr zum Gebetbuch passte. Die meisten, auch Octavio, wollen deshalb eigentlich nichts mehr mit der katholischen Kirche zu tun haben. "Aber Schwester Margaret ist einfach immer da, wenn man Hilfe braucht", sagt er.
Margaret Farrell zeigt das Foto einer transsexuellen Frau mit kurz geschorenen Haaren: "Sie hätte mich bei unserem ersten Treffen beinahe angegriffen, als ich mich als Schwester vorgestellt habe", sagt die Nonne. Aber Farrells Herzlichkeit ist schwer zu widerstehen, vor allem nicht ihrer unbedingten Hilfsbereitschaft. In der Kapelle zeigt Farrell auf ein Gemälde, das die junge Frau nach fünf Jahren als Dank gemalt hat. Zwei Hände über einem Bibelspruch aus Jesaja 41.13: "Hab' keine Angst, ich werde dir helfen."
Ein ganzes Regal an der Wand von Margaret Farrell ist für die reserviert, die nicht so viel Glück hatten wie Octavio: Ileo wurde von einem Unfallflüchtigen vom Fahrrad gefahren. Michael wurde auf dem Straßenstrich erschossen. Jesse starb mit 20 Jahren an Aids, Schwester Margaret holte seine Asche ab, weil seine Mutter selbst nach seinem Tod nichts mit ihm zu tun haben wollte. Er solle, ließ die gläubige Christin ausrichten, ohne sie zur Hölle fahren.
Über den Konflikt zwischen der Sexualmoral der Kirche und der Lebensrealität ihrer Schützlinge will Farrell kein Wort verlieren. "Jesus richtet nicht", sagt sie, deshalb stehe es auch ihr nicht zu, zu richten.
Es geht hier nicht nur um ein paar Schwestern, es geht um Grundsatzfragen, es geht um die Rolle der Frauen und um die Zukunft der Kirche. Neben dem LCWR stufte der Kardinal noch eine andere Organisation als "verdächtig" ein: Network, eine "nationale, katholische Lobbyagentur für soziale Gerechtigkeit", die sich in Washington für die Armen und Unterprivilegierten einsetzt. Die Direktorin von Network, Ordensschwester Simone Campbell, gibt zu, dass ihr erst einmal ein Kraftausdruck entfahren sei, als sie vom Rüffel der Kirchenoberen hörte. Aber anstatt gekränkt zu sein, ging sie in die Offensive.
Im Frühjahr dieses Jahres feierte Network sein 40-jähriges Bestehen, es ging vor allem um eine Frage: Wie kann ich unsere Organisation bekannter machen? "Wir standen kurz vor dem Bankrott. Vier Tage später erhörte der Vatikan meine Gebete", sagt sie. "Das Edikt war ein Geschenk. Unser Laden ist seit der Vatikan-Kritik explodiert. Es ist, als würde ständig Feuer aus der Leitung kommen. 97 Prozent der Zuschriften sind positiv, und unsere Spenden sind nach oben geschossen."
Alle wollten plötzlich wissen: Wer sind diese rebellischen Schwestern? Mehr als 30 000 Katholiken haben ihre Solidarität bekundet. DieNew York Times schrieb: "Wir sind alle Nonnen". Im islamischen Kulturzentrum in Los Angeles, wo Simone Campbell einen Vortrag hielt, wurde sie empfangen wie ein Rockstar. Hunderte wollten ein Foto mit ihr, oder einen Händedruck. "Mach weiter, Mädel", riefen die Zuhörer. "Wir stehen zu den Nonnen", stand auf Stickern, oder nur "Nun-sense".
Nach dem gewaltigen Medienecho organisierte die Ordensschwester gleich noch eine PR-Tour: 2700 Meilen durch neun Bundesstaaten. "Nuns on the Bus!", war der Slogan, mit dem man gegen die Kürzungen im Sozialhaushalt protestierte. Sie besuchte einige der ärmsten Familien des Landes und die Büros der konservativsten Abgeordneten. Sie wurden mit "Danke"-Chören empfangen. Simone Campbell lächelte freundlich in die Kameras und vergas nie zu erwähnen, dass sich Paul Ryan, der gescheiterte Vizepräsidentschaftskandidat der konservativen Republikaner, auf den katholischen Glauben beruft, wenn er Sozialleistungen kürzen und medizinische Versorgung einsparen will. "Wenn er nicht gesagt hätte, das sei im Einklang mit katholischen Werten, hätten wir jetzt vielleicht gar keinen Nonnenbus", ruft Simone Campbell. "Damit hat er mich wirklich wütend gemacht." Dann ballt sie die Faust.
Dürfen katholische Schwestern das? Die Faust ballen? "Was heißt dürfen? Wir tun es", sagt sie und ballt die Faust noch einmal. Wenn Jesus eine PR-Sprecherin auf Erden suchen würde, sollte er Simone Campbell engagieren. Dezenter Lippenstift, Perlenkette, immer eine Provokation auf den Lippen. Im Fernsehen duellierte sie sich mit dem populären katholischen Fernsehkomiker Stephen Colbert. Ihre leidenschaftliche Rede beim demokratischen Parteitag hielt die Washington Post für die zweitbeste nach der von Clinton.
Ihre PR-Offensive trifft Amerika zu einer Zeit, in der die konservativen, oft ostentativ christlichen Politiker, um milde Steuersätze für Superreiche kämpfen, während sie die Sozialleistungen für die Ärmsten kürzen wollen.
Wie Margaret Farrell wuchs Simone Campbell als Katholikin auf, mit Eltern, die jeden Sonntag in die Kirche gingen, die "aber auch eine gehörige Portion Humor" hatten. Als Dreijährige half sie ihrem Großvater, einem Rechtsanwalt, seine juristischen Ratschläge zu einem Newsletter zusammenzukleben. Als Teenager begann sie, sich politisch zu organisieren und nahm an Sit-ins teil. Mit 18 legte sie das Ordensgelübde zu Enthaltsamkeit, Armut und Gehorsam ab. Sie studierte Jura und stand 18 Jahre lang unterprivilegierten Familien als Anwältin in Oakland zur Seite.
Gehorsam? Hat der Papst nicht "radikalen Gehorsam" eingefordert? Simone Campbell lacht. "Ach, die Gehorsamsfrage. Gefordert ist kein militärischer Gehorsam, sondern ein religiöser Gehorsam. Die Bischöfe wollen Religion neu definieren und denken, da werde stramm von oben nach unten durchgezählt, aber so funktioniert das nicht." Der Feminismus-Vorwurf? Sie lacht wieder. "Du lieber Himmel. Wir sind stark. Wir sind gebildet. Wir stellen Fragen. Wir sprechen für die Bedürftigen im Land. Das ist, was Jesus machen würde. Wir leben das Evangelium, das Evangelium ist größer als dieser Nonsens."
Der Vatikan? Ein Laden, der 350 Jahre gebraucht habe, um Galileo recht zu geben, sei nicht für schnellen Wandel berühmt, sagt Simone Campbell. "Von spiritueller Führung haben die keine Ahnung." Der LCWR untersteht dem Vatikan, Network nicht. "Ich kann sagen, was ich will. Dass ich zu viel Zeit mit Bedürftigen verbringe, ist eine Kritik, die ich wie ein Ehrenabzeichen trage." Empfängnisverhütung? Gerade erst haben die männlichen Bischöfe dagegen protestiert, dass Krankenversicherungen im Zuge von Obamas Gesundheitsreform Empfängnisverhütung bezahlen sollen. Simone Campbell ist Anwältin. Sie argumentiert mit Fakten. Sie zitiert Studien, die "eindeutig einen gesundheitlichen Vorteil für die Frau beweisen, wenn Verhütung verfügbar ist". Sie weiß, sie hat die Mehrheit christlicher Frauen hinter sich: 98 Prozent aller amerikanischen Katholikinnen haben schon einmal Empfängnisverhütung benutzt. Abtreibung? Sie sagt, jedes Leben sei schützenswert und erzählt von ihrer Begegnung mit der krebskranken Margaret, die mit ihrem Job auch ihre Krankenversicherung verlor. "Keine toten Margarets mehr. Da bin ich fürs Leben", sagt sie, wohlwissend, dass sie die Frage nach der Abtreibung umgeht und damit ihre konservativen Kritiker zur Weißglut treibt. Genau das kritisieren die Glaubenswächter: Dass die Schwestern sich nicht deutlich genug für zentrale katholische Dogmen aussprechen.
Die Ordination von Frauen zählt im Sündenregister der katholischen Kirche als ebenso schweres "Vergehen gegen die Kirche" wie der sexuelle Missbrauch durch einen Bischof. Dass die Bischöfe Sexualtäter in den eigenen Reihen deckten, aber die Schwestern auch wegen ihrer vermeintlich fehlenden Moral zurechtwiesen, hat viele Katholiken auf die Straße getrieben. Viele der ärmeren Amerikaner kennen die Sozialarbeit von Schwestern wie Margaret Farrell oder Simone Campbell aus ihrem eigenen Viertel. "Dass sie ausgerechnet die Nonnen angreifen", ereifert sich eine junge Frau bei Simone Campbells Vortrag, "das hat mich wirklich angefeuert, meine Solidarität zu zeigen." Sie hat sich ein T-Shirt drucken lassen, auf dem steht: "Hört auf, den Krieg gegen Frauen als Religionsfreiheit zu bezeichnen."
Campbell steht da in ihrem Kleid mit feuerroten Mohnblumen. Sie sieht aus wie eine politische Kandidatin, nur, dass sie häufiger "Amen" sagt und Jesus zitiert. Durch Frauen wie sie ist ein Flächenbrand entstanden, eine Bewegung, die sich in Amerika ausbreitet. "Ihr könnt ein paar Blumen zertreten, aber nicht den Frühling aufhalten", hat Pat Farrell, Präsidentin des LCWR, als Losung ausgegeben. "Vergesst Sister Act", schrieb erst kürzlich das Magazin Rolling Stone über den LCWR, "das ist eher Pussy Riot." Wehe dem, der sich mit den Schwestern anlegt.