Plädoyer für die Freiwilligkeit des Zölibats der lateinisch-katholischen Priester

 

26.09.2011, Georg Kraus

Da in den letzten Monaten einige Bischöfe in verschiedenen europäischen Ländern öffentlich die Priesterweihe von verheirateten „viri probati“ befürwortet haben1, ist eine neue theologische Reflexion des Zölibatsgesetzes eine zeitgerechte Forderung. Es geht um die Grundfrage, ob das Gesetz des Zölibats in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Konstellation und vor allem in der gegenwärtigen pastoralen Notsituation der Kirche noch aufrechterhalten werden soll. Verantwortungsbewusst wird in der wissenschaftlichen Theologie dafür plädiert, das Gesetz des Zölibats als ausschließliche Zugangsbedingung zum Priestertum aufzuheben und Verheiratete zur Priesterweihe zuzulassen. Wie sieht das Problemfeld des Zölibats im Detail aus?

Der Zölibat bedeutet Ehelosigkeit und grundsätzliche sexuelle Enthaltsamkeit. Dieser Zölibat wird in der katholischen Kirche von Ordenspriestern durch ein persönliches Gelübde übernommen, während er den Weltpriestern als gesetzliche Verpflichtung auferlegt ist, die sie vor der Ordination in einem Versprechen annehmen.

Da die Weltpriester für den Dienst in Gemeinden ordiniert werden, ist die Auswirkung des Zölibats für die Pastoral in den Gemeinden ein entscheidendes Kriterium. Derzeit leidet die Pastoral in den westeuropäischen Kirchenprovinzen unter einem extremen Priestermangel. Von dieser konkreten Notsituation her wird deshalb in der Theologie die Frage diskutiert, ob die Ausgrenzung von Verheirateten pastoral noch zu verantworten ist oder ob – konstruktiv gesagt – die Ordination von verheirateten Männern, die sich im Glauben und in der Ehe bewährt haben („viri probati“), eine pastorale Notwendigkeit ist.

Angesichts dieser Problemlage soll nun ausgiebig erörtert werden: 1. Worin sieht das kirchliche Lehramt den positiven Sinn des Zölibats? 2. Mit welchen Argumenten plädiert die Theologie für die Freiwilligkeit des Zölibats und für die Ordination von Verheirateten?

1. Der positive Sinn des Zölibats in lehramtlicher Sicht

Gegenüber vorausgehenden Diskussionen über die gesetzliche Koppelung von Zölibat und Priesteramt hat das 2. Vatikanische Konzil die traditionelle Position prinzipiell bestätigt, aber in PO 16 eine differenzierte Stellungnahme abgegeben. In der Folgezeit hat Papst Paul VI. 1967 in seiner Enzyklika „Sacerdotalis coelibatus“ (Priesterlicher Zölibat) den Zölibat für die Weltpriester voll verteidigt. Auch die römische Bischofssynode von 1991, wo es um „Die Priesterbildung im Kontext der Gegenwart“ ging, hat den Fortbestand der gesetzlichen Zölibatsverpflichtung bekräftigt. Dies hat Papst Johannes Paul II. in seinem Nachsynodalen Schreiben „Pastores dabo vobis“ (Ich gebe euch Hirten) verstärkend zusammengefasst.

a. Die positive Sicht des Zölibats in PO 16

Im Dekret über den Dienst und das Leben der Presbyter befasst sich das Konzil auch mit der Zölibatsverpflichtung und erörtert diese differenziert in PO 16.

Das Konzil versteht den Zölibat in Anknüpfung an Mt 19,12 als „die vollkommene und ständige Enthaltsamkeit um des Himmelreichs willen“. Bei der näheren Beschreibung unterscheidet das Konzil Notwendigkeit und Angemessenheit des Zölibats sowie freiwillige Enthaltsamkeit und gesetzlichen Zölibat.

In dogmatischer Hinsicht ist die eindeutige Aussage grundlegend, dass das Priestertum nicht notwendig mit dem Zölibat verknüpft ist. Der Zölibat „ist nicht vom Wesen des Priestertums selbst gefordert“. Diese Feststellung wird belegt mit dem Hinweis auf „die Praxis der frühesten Kirche und die Tradition der Ostkirchen, wo es … hochverdiente Priester im Ehestand gibt“. Das Konzil bestätigt ausdrücklich, dass in den mit Rom unierten Ostkirchen das Recht auf verheiratete Priester bestehen bleibt. Verbunden mit einer Mahnung an die verheirateten Priester, dass sie „in ihrer heiligen Berufung ausharren“, anerkennt das Konzil, dass die verheirateten Priester „mit ganzer Hingabe ihr Leben für die ihnen anvertraute Herde einsetzen“ (PO 16,1).

Dann aber vertritt das Konzil die Angemessenheit des Zölibats: „Der Zölibat ist jedoch in vielfacher Hinsicht dem Priestertum angemessen“. Ganz dicht werden einige Gründe für Angemessenheit aufgelistet. Demnach fördert die Ehelosigkeit bei den Priestern als Grundhaltungen: Die Priester hängen Jesus Christus leichter ungeteilten Herzens an; sie schenken sich freier dem Dienst für Gott und die Menschen; sie dienen ungehinderter dem Reich Gottes; sie widmen sich in ungeteilter Hingabe der ihnen anvertrauten Aufgabe; sie weisen hin auf den geheimnisvollen Ehebund Jesu Christi mit seiner Kirche; sie sind ein lebendiges Zeichen für die zukünftige, vollendete Welt (PO 16,2).

Schließlich verweist das Konzil auf die geschichtliche Entwicklung von einer Empfehlung des Zölibats bis hin zur Verpflichtung durch ein Gesetz: „Der Zölibat wurde zunächst den Priestern empfohlen und schließlich in der lateinischen Kirche allen, die die heilige Weihe empfangen sollten, als Gesetz auferlegt (lege impositus)“. Neben der Unterscheidung zwischen einer empfohlenen freiwilligen Ehelosigkeit und einem gesetzlichen Pflichtzölibat ist noch die Festestellung wichtig, dass der gesetzliche Zölibat für die Priester nur in der „lateinischen Kirche“ (in Abgrenzung zu den unierten Ostkirchen) gilt. Freilich wird dann die Gültigkeit für die lateinische Kirche dezidiert bestätigt: „Diese heilige Synode billigt und bekräftigt von neuem das Gesetz für jene, die zum Priestertum ausersehen sind“ (PO 16,3).

b. Die positive Sicht des Zölibatsgesetztes in zwei päpstlichen Verlautbarungen

Papst Paul VI. vertritt 1967 in seinem Rundschreiben „Priesterlicher Zölibat“ sehr entschieden die gesetzliche Verpflichtung der Priester zur Ehelosigkeit. Das Schreiben listet zuerst „Einwände gegen den priesterlichen Zölibat“ auf (Nr. 5-12). Dann wird die Zölibatsverpflichtung eingeschärft als „kennzeichnendes Merkmal für den Stand und die Stellung des Priesters“ (Nr. 14). Schließlich werden konstruktiv Gründe für die Berechtigung und Einhaltung des Zölibats erläutert (Nr. 17-34), und zwar unter der dreifachen Perspektive der christologischen, ekklesiologischen und eschatologischen Bedeutung des Zölibats. Christologisch wird die Ehelosigkeit Jesu herausgestellt als das Vorbild der „Ganzhingabe an den Dienst für Gott und für die Menschen“ (Nr. 21); der Zölibat ist damit das „Zeichen einer Liebe ohne jeden Vorbehalt und Antrieb zu einer Liebe, die für alle offen steht“ (Nr. 24). Ekklesiologisch gesehen fördert der Zölibat „das Wachsen des Priesters an innerem Vermögen im Dienst, in der Liebe und eifervollen Hingabe an das ganze Volk Gottes“ (Nr. 30). Eschatologisch ist die vollkommene Enthaltsamkeit um des Himmelreiches willen „ein besonderes Zeichen der himmlischen Güter“, denn „sie kündigt die Gegenwart der letzten Heilszeit auf Erden mit der Entstehung einer neuen Welt an“ (Nr. 34).

Papst Johannes Paul II. unterstreicht 1992 in seinem Schreiben „Ich gebe euch Hirten“ nochmals die „feste Entschlossenheit der Kirche“, „an dem Gesetz festzuhalten, das den zur Priesterweihe nach dem lateinischen Ritus ausersehenen Kandidaten den frei gewählten, ständigen Zölibat auferlegt“. Dabei wird der Zölibat in seinem Kern bestimmt als „Selbsthingabe in und mit Christus an seine Kirche und Ausdruck des priesterlichen Dienstes an der Kirche in und mit dem Herrn“ (Nr. 29).

2. Plädoyer gegenwärtiger Theologie für die Freistellung des Zölibats und für die Ordination von Verheirateten

Eine Reihe von repräsentativen Theologen2 sieht angesichts der kirchlichen Situation in der Welt von heute die dringende Notwendigkeit, eine mutige Reform der Zulassungsbe-dingungen zur priesterlichen Ordination durchzuführen. Konkret wird die päpstliche und bischöfliche Kirchenleitung eindringlich aufgerufen, das Gesetz des Zölibats aufzuheben und Verheiratete zur Ordination zuzulassen.

Grundlegend würde die Aufhebung des Zölibatsgesetzes im dreifachen hegelschen Sinn bedeuten: das Gesetz der Zölibatsverpflichtung beseitigen; das Ideal priesterlicher Ehelosigkeit bewahren; den priesterlichen Dienst emporheben. Mit der Unterscheidung von Gesetz des Zölibats und Ideal des Zölibats ist ein doppelter Weg eröffnet. Zum einen sollte der Weg beschritten werden, die gesetzliche Verpflichtung zum Zölibat zu ersetzen durch die Empfehlung zur Ehelosigkeit; zum anderen sollten alle spirituellen und pädagogischen Mittel eingesetzt werden, um Kandidaten für das Ideal der priesterlichen Ehelosigkeit zu motivieren und um ehelos lebende Priester bei der Verwirklichung des Ideals zu unterstützen. So kann auf beiden Wegen der priesterliche Dienst in seiner Einzigartigkeit und Unersetzlichkeit hervorgehoben und gefördert werden.

Unter diesen fundamentalen Prämissen können dann die einzelnen Argumente verstanden werden, die von der Theologie vorgebracht werden: kritisch gegen eine gesetzliche Koppelung von priesterlichem Dienst und Zölibat; konstruktiv für die Verbindung von priesterlichem Dienst und Eheleben. Bei ihrem Plädoyer für eine Reform des Zölibatsgesetzes arbeitet die Theologie mit kirchengeschichtlichen und dogmatischen Argumenten.

a. Kirchengeschichtliche Argumente für die Reform des Zölibatsgesetzes

Es gibt historische Fakten, die bestätigen, dass (wie es das Konzil in PO 16 formuliert) der Zölibat „nicht vom Wesen des Priestertums selbst gefordert ist“.

Entscheidende Ansatzpunkte liegen bereits im neutestamentlichen Zeugnis, wo eine Differenz vorliegt zwischen Empfehlungen und praktischem Verhalten. – So lebt Jesus selbst Ehelosigkeit und empfiehlt Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen mit dem Hinweis „Wer das erfassen kann, der erfasse es“ (Mt 19,12). Aber faktisch macht Jesus die Ehelosigkeit nicht zur Bedingung bei der Berufung der Apostel. Gerade vom Apostel Petrus wissen wir das Faktum, dass er verheiratet war, weil Jesus „im Haus des Petrus“ dessen kranke Schwiegermutter vom Fieber geheilt hat (Mt 8,48f). – Auch der Apostel Paulus lebt selbst in Ehelosigkeit und er empfiehlt die Ehelosigkeit wegen der ungeteilten Hingabe an den Herrn (1 Kor 7,32-34). Aber Paulus unterscheidet ausdrücklich zwischen Gebot und Rat: „Was die Frage der Ehelosigkeit angeht, so habe ich kein Gebot vom Herrn. Ich gebe euch nur einen Rat“ (1 Kor 7,25). Außerdem betont Paulus, dass er in ganz persönlicher Freiheit die Ehelosigkeit gewählt hat, weil er – wie Petrus (= Kephas) – das Recht hätte, eine Ehefrau auf den Missionsreisen mitzuführen: „Haben wir nicht das Recht, eine gläubige Frau mitzunehmen, wie die übrigen Apostel und die Brüder des Herrn und wie Kephas?“ (1 Kor 9,5). – Schließlich finden wir in der frühesten Kirche, nämlich in den Gemeinden der Pastoralbriefe, das Faktum verheirateter Episkopen (1 Tim 3,2), Presbyter (Tit 1,6) und Diakone (1 Tim 3,12). Ausdrücklich heißt es beispielsweise beim Episkopen: „Deshalb soll der Bischof ein Mann ohne Tadel sein, nur einmal verheiratet … Er soll ein guter Familienvater sein und seine Kinder zum Gehorsam erziehen. Wer seinem eigenen Hauswesen nicht vorstehen kann, wie soll der für die Kirche Gottes sorgen?“ (1 Tim 3,2.4f). – Zusammenfassend lässt sich zum neutestamentlichen Zeugnis, das die entscheidende kirchliche Norm bildet, konstatieren: Nach dem Beispiel Jesu und des Apostels Paulus ist die Ehelosigkeit nur eine Empfehlung und kein Gesetz; die Ehelosigkeit ist in persönlicher Freiheit gewählt und durch keine gesetzliche Verpflichtung auferlegt. Umgekehrt gilt in der frühen Kirche: Die Ehe ist für alle kirchlichen Dienstträger die vorgeschriebene Regel. So gehört am Ursprung der Kirche der Zölibat eindeutig nicht zum Wesen des kirchlichen Dienstes.

Ebenso klar zeigt die geschichtliche Entwicklung des Zölibats, dass die Ehelosigkeit nicht innerlich notwendig mit dem kirchlichen Dienst verknüpft ist. Erst im 4. Jahrhundert setzte sich in Spanien auf der regionalen Synode von Elvira (306) eine asketische Strömung durch, die den verheirateten Priestern innerhalb ihrer Ehe eine geschlechtliche Enthaltsamkeit auferlegte. Die theologische Hauptbegründung lag im Ideal der kultischen Reinheit, wonach sich ein Priester (aus alttestamentlicher Sicht in Lev 22,3f) nicht in Unreinheit, die beim Geschlechtsverkehr verursacht wird, den heiligen Opfergaben nähern darf. Da also nach dieser Auffassung die Ausübung des Geschlechtsverkehrs als Verunreinigung galt, sollten die
Priester wegen ihrer regelmäßigen kultischen Handlungen dauernd enthaltsam mit ihrer Frau zusammenleben.

Während es im ersten Jahrtausend um die Enthaltsamkeit innerhalb der Priesterehen ging, setzte sich im 12. Jahrhundert die Tendenz durch, für die Priester die Ehelosigkeit, also den Zölibat, verpflichtend zu machen. Dies geschah lehramtlich auf dem 1. Laterankonzil 1123 mit der Bestimmung: „Priestern untersagen wir strengstens das Zusammenleben mit Konkubinen und Ehefrauen“ (DH 711). Im Anschluss an das 2. Laterankonzil 1139, das im Kanon 7 alle Klerikerehen für ungültig erklärte, wurde der Zölibat für Weltpriester all-gemeines Gesetz. In dieser Zeit waren zwei Begründungsmotive für den Zölibat vor-herrschend. Zum einen galt das ökonomische Motiv, dass die Kirchengüter bewahrt blieben, wenn eine Vererbung an Kinder ausgeschlossen war. Zum anderen galt das Spiri-tualitätsmotiv, dass die Ehelosigkeit höher bewertet wurde als die Ehe, was noch im Trienter Konzil 1563 zum Ausdruck kam in der Formulierung, dass der Zölibat „besser und seliger“ (melius ac beatius) sei als der Ehestand (DH 1810).

Im Resümee kann aus den Fakten der geschichtlichen Entwicklung des Zölibatsgesetzes konstatiert werden: Im ganzen ersten Jahrtausend gab es für die Priester (zwar die Forderung nach Enthaltsamkeit innerhalb der Ehe, aber) nicht die gesetzliche Verpflichtung zur Ehe-losigkeit. Bei der Begründung des im 12. Jahrhundert neu eingeführten Zölibatsgesetzes wirkten die sehr fragwürdigen Motive: kultische Unreinheit, ökonomische Bewahrung der materiellen Güter der Kirche, Abwertung der Ehe. So bestätigt sich auch aus dem historischen Werdegang, dass die gesetzlich auferlegte Ehelosigkeit nicht von innen heraus zum Wesen des priesterlichen Dienstes gehört.

Ferner zeigt ein Blick auf die mit Rom unierten „katholischen Ostkirchen“, dass die Ehelosigkeit der Priester kein allgemein gültiges katholischen Prinzip ist. Denn die unierten Ostkirchen haben bezüglich des Zölibats die gleiche Rechtsordnung wie die ursprünglichen orthodoxen Kirchen, wo die Priester verheiratet sind (und wo nur für Bischöfe Ehelosigkeit als Voraussetzung verlangt ist). Diese Regelung bei den unierten Ostkirchen hat das 2. Vatikanische Konzil im „Dekret über die katholischen Ostkirchen“ (Orientalium Ecclesiarum = OE) neu bekräftigt, indem es betont, dass die katholischen Ostkirchen in Eigenständigkeit „ihr kirchliches Recht“ (OE 3) und „die ihnen eigene Ordnung“ (OE 6) haben. – So stehen wir vor dem nachdenklich stimmenden Faktum, dass es innerhalb der katholischen Kirche zweierlei Grundrechte gibt: Die Priester der Ostkirchen haben das Recht zur Ehe, während die Priester der lateinischen Kirche vom Recht her zur Ehelosigkeit verpflichtet sind. Prinzipiell liegt hier ein weiterer Beweis vor, dass priesterlicher Dienst und Ehelosigkeit nicht notwendig miteinander verbunden sind. Zusätzlich erhebt sich die praktische Frage der Gerechtigkeit: Warum ist den einen erlaubt, was den anderen verboten ist? Oder konstruktiv gefragt: Könnte das Ernstnehmen dieser Gerechtigkeitsdiskrepanz nicht ein starker Impuls sein, um auch in der lateinischen Kirche Verheiratete als Priester zuzulassen?

Schließlich ist aus der neuesten Kirchengeschichte seit 1950 ein widersprüchliches Verhalten bei den Päpsten festzustellen. Einesteils schärfen die Päpste für die Priester der lateinischen Kirche die Ehelosigkeit ein; andererseits genehmigen sie verheirateten Geistlichen, die aus anderen christlichen Konfessionen zur katholischen Kirche übertreten, dass sie ihre Ehe im kirchlichen Dienst fortführen dürfen. Solche päpstliche Dispens von der Ehelosigkeit wurde und wird erteilt bei der Konversion von lutherischen Pastoren, episkopalistischen Geistlichen und anglikanischen Priestern. – Zu diesem Verhalten der Päpste wird kritisch gefragt: Wo bleibt da die Sensibilität gegenüber den eigenen, zum Zölibat verpflichteten Priestern, die mit viel Mühe die nicht leichte Ehelosigkeit leben? Oder: Ist es gerecht, eigene Priester, die sich zur Ehe entschließen, völlig aus dem priesterlichen Dienst zu entfernen, während die Konvertiten mit Ehefrauen und Kindern den priesterlichen Dienst ausüben dürfen?

b. Dogmatische Argumente für die Reform des Zölibatsgesetzes

Ausgangsbasis ist die klare, lehramtlich höchste Erklärung des 2. Vatikanischen Konzils, dass der Zölibat „nicht vom Wesen des Priestertums selbst gefordert ist“, sondern dass er in späterer Zeit „in der lateinischen Kirche … als Gesetz auferlegt wurde“ (PO 16). Damit steht fest: Der Zölibat hat keine dogmatische Verbindlichkeit, sondern er ist ein kirchenrechtliches Gesetz. Da dieses Gesetz geschichtlich entstanden ist und da Gesetze in neuer geschichtlicher Situation geändert werden können, ist es der Dogmatik gestattet oder es ist sogar Pflicht der Dogmatik, vom Evangelium her Gründe vorzubringen, die eine Änderung des Gesetzes nahe legen.

In der Perspektive der Dogmatik ist zuerst auf das Zeugnis der Heiligen Schrift und der kirchlichen Tradition zu schauen, weil Schrift und Tradition auch für die Kirchenleitung die entscheidenden Normen bilden. Wie wir bereits gesehen haben, gibt es im Neuen Testament nur eine Empfehlung der Ehelosigkeit. Zudem gibt es keine von Beginn an bestehende Tradition für die Ehelosigkeit der Priester, sondern der Zölibat wurde erst im 12. Jahrhundert unter bestimmten historischen Bedingungen verpflichtendes Gesetz. So kann unter neuen historischen Bedingungen von der Dogmatik her eine Änderung des Zölibatsgesetzes mit begründeten Argumenten angeregt und urgiert werden.

Die Orientierung an den „Zeichen der Zeit“ ist ein Grundprinzip des 2. Vatikanischen Konzils, das auch in der Zölibatsfrage anzuwenden ist. Denn zur Erfüllung „ihres Auftrags obliegt der Kirche allezeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ (GS 4).

In der gegenwärtigen Zeit besteht in bestimmten Regionen der katholischen Kirche die Situation eines extremen Priestermangels. So hat sich in Westeuropa und Nordamerika die Zahl der Priester während der letzten 50 Jahre mehr als halbiert. Der faktische Grund liegt darin, dass nur noch eine sehr geringe Zahl von jungen Priestern nachkommt. Die tieferen Ursachen für den Priesterschwund sind vielfältig. Zum einen liegen die Wurzeln in einem ganzen Bündel von gesellschaftlichen Veränderungen, die bestimmt sind von neuen säkularen Wertvorstellungen. Zum anderen wird der Priesterschwund innerkirchlich verursacht, und zwar vor allem dadurch, dass junge Menschen, wie Umfragen eindeutig belegen, den pflichtmäßigen Zölibat nicht mehr auf sich nehmen wollen.

Wie reagieren die konkret zuständigen Bischöfe auf dieses Zeitphänomen des akuten Priestermangels? Derzeit reagieren sie mit einer Verwaltungsreform: Die Zahl der Pfarreien wird an die geringe Zahl der vorhandenen Priester angepasst. Beispielsweise wurden 2007 im Erzbistum Bamberg die bisherigen 367 Pfarreien zu 96 „Seelsorgebereichen“ zusammen-gelegt und im Erzbistum München-Freising wurden 2009 aus 747 Einzelpfarreien 279 „Seelsorgeeinheiten“ (47 Einzelpfarreien und 232 Pfarrverbände) gebildet. In den Pfarrver-bänden zeigt sich als eine Hauptfolge: Es ist nur noch ein Priester für mehrere Pfarreien vorhanden; damit wird zwangsweise aus dem Priester ein Manager gemacht; zugleich ist es faktisch unmöglich, dass am Sonntag in jeder Pfarrei eine Eucharistiefeier stattfindet.

Wie ist diese schlimme pastorale Situation aus dogmatischer Sicht zu beurteilen? Prinzipiell sind zwei Leitlinien zu beachten: das Recht der Gemeinden auf die sonntägliche Eucharistiefeier und die eigenverantwortliche Sorge der Ortsbischöfe als Hirten ihrer Ortskirche.

Das Recht der Gemeinden auf die sonntägliche Eucharistiefeier: Das 2. Vatikanische Konzil hat sehr dezidiert herausgestellt, dass die Eucharistiefeier „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (LG 11) ist bzw. noch konkreter für die Pfarreien, dass die Eucharistiefeier „Mitte und Höhepunkt des ganzen Lebens der christlichen Gemeinde“ (CD 30) ist. In diesen fundamentalen Aussagen ist das Recht auf die sonntägliche Eucharistiefeier begründet. So erklärt LG 37: „Die Laien haben … das Recht, aus den geistlichen Gütern der Kirche, vor allem die Hilfe des Wortes Gottes und der Sakramente, von den geweihten Hirten reichlich zu empfangen“. Noch konkreter heißt es im Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe: Es „gelte als Regel, dass jeder Diözese nach Zahl und Eignung wenigstens genügend Kleriker zur Verfügung stehen, um das Gottesvolk recht zu betreuen“ (CD 23). Ausdrücklich bestätigt die 2004 publizierte römische Instruktion „Redemptionis Sacra-mentum“ das Recht der Gemeinden auf die sonntägliche Eucharistiefeier : „Die christliche Gemeinde wird nur auferbaut, wenn sie Wurzel und Angelpunkt in der Feier der heiligsten Eucharistie hat. Das christliche Volk hat darum das Recht, dass am Sonntag … die Eucharistie gefeiert wird“ (Nr. 162).

Die eigenverantwortliche Sorge der Ortsbischöfe als Hirten ihrer Ortskirchen: Überall, wo in Ortskirchen ein extremer Priestermangel herrscht, der den Gemeinden das Recht auf die sonntägliche Eucharistiefeier nimmt, sind die Ortsbischöfe aufgerufen, „genügend Kleriker zur Verfügung zu stellen“. Die Bischöfe müssen in ihrer besonderen Notsituation ihre Eigenverantwortung wahrnehmen und neue Wege beschreiten, um in ihrem Bereich den Priestermangel zu beheben. In unabschiebbarer Verantwortung müssen die Bischöfe hier und jetzt eigenständig handeln, auch gegenüber der Zentrale in Rom. Denn – laut Kirchenkonstitution – sind die Bischöfe „nicht als Stellvertreter der Bischöfe von Rom zu verstehen, denn sie haben ihre eigene Gewalt inne“. „Diese Gewalt, die sie im Namen Christi persönlich ausüben, kommt ihnen als eigene, ordentliche und unmittelbare Gewalt (propria, ordinaria et immediata potestas) zu“ (LG 27). Mit solcher eigenverantwortlichen Gewalt ausgestattet sollten es die Bischöfe im Verbund ihrer regionalen Bischofskonferenz wagen, unkonventionelle Schritte zu unternehmen, um mehr Priester zu bekommen.

Was ist in der Notsituation des Priestermangels aus dogmatischer Sicht zu tun? Oberstes Prinzip für alles kirchliche Handeln ist das Heil der Menschen, konkret der Heilsdienst an den Menschen. (Auch der Codex des Kirchenrechts von 1983 bekennt sich in seinem letzten Satz zum Prinzip: „das Heil der Seelen, das in der Kirche immer das oberste Gesetz sein muss“, CIC 1983 can. 1752). Wenn nun in vielen Bistümern durch den Priestermangel der heute nötige Heilsdienst an den Menschen nicht mehr geleistet werden kann, sind die Bischöfe eigenverantwortlich verpflichtet, neue Wege zu beschreiten. Da der Priestermangel entscheidend durch die abschreckende Wirkung des Zölibats verursacht ist, müssen die Bischöfe geschlossen als Bischofskonferenzen entschieden in der Zentrale in Rom dafür eintreten, dass die gesetzliche Koppelung des Priesterdienstes mit dem Zölibat aufgehoben wird. Zumindest müssen sie sofort für ihre Region eine Ausnahmeregelung erreichen, dass sie für den Heilsdienst in ihrer Notsituation „viri probati“ (also im Glauben, in Beruf und Familie bewährte Männer) als Priester ordinieren können. Es ist eine unverantwortliche Ausflucht, wenn Bischöfe sagen: Der Zölibat ist ein gesamtkirchliches Gesetz; wir können daran nichts ändern. In der pastoralen Notsituation müssen sie zum Heil der ihnen anvertrauten Menschen hartnäckig in Rom wenigstens für eine regionale Ausnahmeregelung eintreten.

Abschließend ist für die Dringlichkeit der Aufhebung des Zölibatgesetzes – bei Wahrung des Ideals der freiwilligen Ehelosigkeit – grundsätzlich festzuhalten: Die Bischöfe sind unmittelbar für das Heil der Menschen in ihren Ortskirchen verantwortlich. In den säkularen Regionen, wo der Priestermangel herrscht, ist eine missionarisch nachgehende Pastoral nötig, die eine außerordentlich große Zahl von Priestern (und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) erfordert. Die jetzt praktizierte Methode, Pfarreien zu großräumigen Pfarr-verbänden zusammenzulegen, geht am Grundauftrag der Pastoral vorbei: Pastoral braucht räumliche und personale Nähe; Pastoral braucht persönliche Gespräche und Begleitung; Pastoral braucht in den säkularen Regionen nachgehende Kontakte und persönliche Kommunikation. Das wird durch die Großraumstruktur mit nur einem Priester vom System her unmöglich gemacht.

Das Zeichen der Zeit fordert: nicht institutionelle Not verwalten, sondern pastorale Not wenden. Zur Wendung der pastoralen Not sind mehr Priester nötig. Insofern das Gesetz des Zölibats den heute notwendigen pastoralen Heilsdienst wesentlich behindert, muss es aufgehoben werden. Die eigenverantwortlichen Bischöfe müssen sich vor ihrem Gewissen fragen: Steht ein Gesetz höher als das Heil der Menschen? Der Heildienst an den Menschen ist vom Auftrag Jesu Christi her eine absolute, immer gültige Notwendigkeit, der Zölibat ist ein kontingentes, änderbares menschliches Gesetz.

Prof. Dr. Georg Kraus

Anmerkungen:

1 In der letzten Zeit sind vier deutschsprachige Bischöfe öffentlich in Interviews für eine offene Diskussion um die Freiwilligkeit des Zölibats eingetreten. - Bischof N. Brunner, der Vorsitzende der Schweizer Bischofskonferenz erklärte am 29.11.2009 in der „Neuen Züricher Zeitung“: „Es sollte die Möglichkeit geben, verheiratete Männer zu Priestern zu weihen“, weil „es keine Wesensverbindung zwischen Zölibat und Priestertum gibt“. – Der Salzburger Erzbischof A. Kothgasser sagte am 12.3.2010 im Österreichischen Fernsehen zum Zölibat: „Die Zeiten und die Gesellschaft haben sich verändert“… „Und deswegen wird die Kirche überlegen müssen, wie sie diese Lebensform weiterpflegen kann, oder was sie verändern muss“. - Der Hamburger Weihbischof H-J. Jaschke äußerte am 13.3.2010 im „Hamburger Abendblatt“: „Man sollte darüber nachdenken, ob es in der katholischen Kirche durch verheiratete Priester nicht eine größere Vielfalt geben könnte“. - Der Bamberger Erzbischof L. Schick regte am 8.5.2010 in „Spiegel online“ an: „Ob jeder Pfarrer den Zölibat leben muss“ … „Ich wäre dafür, dass man ernsthaft darüber nachdenkt“.

2 Für die Freiwilligkeit des Zölibats und für die Weihe von viri probati treten beispielsweise in Dogmatik und Fundamentaltheologie ein: M. Kehl, Plädoyer für die „viri probati“, in: ders., Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg 1992, 449f. – P. Hünermann, Eucharistie – Gemeinde – Amt, in: ders., Ekklesiologie im Präsens, Münster 1995, 243-247. P. Knauer, Die „Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen“ und das Zölibatsgesetz, in: StZ 120(1995)823-832. – J. Werbick, Ubi sacerdos, ibi parochia? Pastorale Konzepte und theologische Schlüsselfragen, in: J. Först, F. Lappen, J. Rahner (Hg.) Abbruch oder Aufbruch. Von der Eigendynamik des kirchlichen Strukturwandels, Münster 2010, 77-82. - In der Pastoraltheologie äußern sich dezidiert: St. Knobloch, Seelsorge mehr als Strukturreform. Die Zeichen der Zeit verstehen, in: Anzeiger für die Seelsorge 118(2009)5-7. - O. Fuchs, Im Innersten gefährdet. Für ein neues Verhältnis von Kirchenamt und Kirchenvolk, Innsbruck 2009; 22010, 21-25,129-131,137f. - P. Zulehner, Kirche in Ruf- und Reichweite. Priestermangel, raumgerechte Seelsorge, Kirchenentwicklung, in: StZ 135(2010)279-282.
Eine Rückblende auf relevante theologische Aussagen, die mehr als dreißig Jahre zurückliegen , macht sehr betroffen, weil bis heute daraus noch keine praktischen Konsequenzen gezogen wurden. Die Aussagen stammen von Dogmatikprofessoren, die derzeit höchste Positionen in der katholischen Kirche innehaben. - So sagte der heutige Papst Benedikt XVI. als J. Ratzinger 1969 im hessischen Rundfunk bei einer Prognose für das Jahr 2000: Die Kirche der Zukunft „wird klein werden… Sie wird viele der Bauten nicht mehr füllen können…Sie wird auch gewiss neue Formen des Amtes kennen und bewährte Christen, die im Beruf stehen, zu Priestern weihen“ (J. Ratzinger, Glaube und Zukunft, München 1970,123). - Der heutige Kurienkardinal W. Kasper erklärte 1978 sehr eindeutig: „Wenn es stimmt, dass wir genügend Laien haben, die menschlich und christlich befähigt sind, de facto den Dienst eines Pfarrers zu versehen, … dann frage ich mich, weshalb man solche Laien, die sich bewährt haben, die also viri probati sind, nicht auch de iure zu Pfarrern macht, d.h. warum man ihnen nicht die Hände auflegt, und sie zu Priestern weiht“ (W. Kasper, Ausweg aus der Not des Priestermangels, in: ders., Zukunft aus dem Glauben, Mainz 1978, 10f.) - Der heutige Kardinal K. Lehmann argumentierte 1979 angesichts der Notsituation in den Gemeinden für einen neuen Weg zu Gewinnung von mehr Priestern mit dem Hinweis, „dass im Ernstfall das geistliche Wohl der Gemeinden vor bestimmten geschichtlichen Ausformungen des kirchlichen Amtes, sofern diese nicht göttlichen Rechtes sind, den Vorrang haben. Darum darf auch nicht Halt gemacht werden vor dem Gedanken, ob die dogmatisch mögliche Entkoppelung von Priestertum und Zölibat für bestimmte Personengruppen verwirklicht werden kann“; das heißt, es „muss unter veränderten Bedingungen die Frage nach der Ordination von `in Ehe und Familie sowie Kirche bewährten Männern` neu gestellt werden“ ( K. Lehmann, Eucharistische Gemeinschaft und kirchliches Amt, in: zur debatte 2(1979)9.

3 Zum Recht der Gemeinden auf die sonntägliche Eucharistie vgl. G. Kraus, Die Unersetzbarkeit der sonntäglichen Eucharistiefeier durch einen Wortgottesdienst, in: A. Hierold (Hg.) „Umbruch“ - ein Zeichen der Zeit, Münster 2007, 119-136.

Zum Autor:

Georg Kraus 1938 in Haidlfing, Kreis Landau geboren und ist ein deutscher römisch-katholischer Theologe. Er studierte von 1959 bis 1963 Philosophie an der Philosophisch-theologischen Hochschule Passau und an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Von 1963 bis 1966 studierte Kraus Theologie an der Universität München. 1967 wurde Kraus zum Priester geweiht. Von 1988 bis 2003 war Kraus als Professor für Dogmatik an der Universität Bamberg tätig.