„Ein widersprüchlicher Theologe, der ein schweres Erbe hinterlässt“
Wir sind Kirche zum Tod von Joseph Ratzinger, dem früheren Papst Benedikt XVI. am 31.12.2022
Die KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche sieht den verstorbenen Kardinal Joseph Ratzinger, den ehemaligen Papst Benedikt XVI., als höchst widersprüchlichen Theologen, der die römisch-katholische Kirche über Jahrzehnte in rückwärtsgewandter Weise geprägt hat wie kein anderer nachkonziliarer Kirchenführer. Seinem Nachfolger Papst Franziskus und der ganzen Kirche hat er mit einem Klima der Angst und einem theologischen Stillstand ein schweres Erbe hinterlassen, das bis heute nachwirkt.
Während Joseph Ratzinger als junger Theologe und Berater die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) mitgeprägt hat, erwies er sich später in seinen 31 Jahren im Vatikan (1982-2005 als Präfekt der Glaubenskongregation unter Papst Johannes Paul II., 2005-2013 als Papst Benedikt XVI.) als ein von Misstrauen getriebener und in Angst erstarrter Theologe, der mit seinen Leitungsaufgaben überfordert war.
Joseph Ratzinger entwickelte kein Verständnis für die Zukunftsdimension des Glaubens. Vielmehr versuchte er, die Reformimpulse des Konzils zu begrenzen oder sogar zurückzunehmen. Er erwies sich damit als unerbittlicher Reaktionär, der letztlich gescheitert ist. Auch als „Papa emeritus“ meldete er sich trotz seines anderslautenden Versprechens immer wieder in höchst problematischer Weise zu Wort. Mit seinen unglaubwürdigen Stellungnahmen zum zweiten Münchner Missbrauchsgutachten hat er selbst seinen Ruf als Theologe und Kirchenführer und als „Mitarbeiter der Wahrheit“ (sein Bischofswahlspruch) schwer beschädigt. Zu einem persönlichen Schuldeingeständnis war er nicht bereit. Damit hat er dem Bischofs- und Papstamt großen Schaden zugefügt.
Sein anerkennenswerter Rücktritt im Jahr 2013 hat das Papstamt entmystifiziert. Folgerichtig wäre es allerdings gewesen, wenn er auch in den Kardinalsstand oder Bischofsstand zurückgetreten wäre und die weiße Soutane abgelegt hätte.
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Hintergrund
Anreihung fataler Entscheidungen für die Weltkirche
Während seiner langen Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation (1982-2005) hat Kardinal Ratzinger noch im Jahr 2001 alle Missbrauchsfälle weltweit unter das „päpstliche Geheimnis“ gestellt. Eine fatale Entscheidung, die erst durch Papst Franziskus aufgehoben wurde. Wenn es diesen „Geheimerlass“ nicht gegeben hätte, wäre vielen Tausend Betroffenen schwerstes Leid erspart geblieben und die fundamentale Glaubwürdigkeitskrise der römisch-katholischen Kirche hätte vermieden werden können.
Ebenfalls darf nicht vergessen werden, wie sehr Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation mehr als 23 Jahre lang Lehrverbote ausgesprochen (www.wir-sind-kirche.de/files/212_2006movingforwardbylookingback_31-38.pdf), die Theologie der Befreiung verurteilt (z.B. die Jesuiten Jon Sobrino und den Franziskaner Leonardo Boff), Frauen in der Kirche ausgegrenzt und die Ökumene mit den Kirchen der Reformation blockiert hat („Dominus Jesus“ 2000). Auch gegen Wir sind Kirche intervenierte er mehrfach (www.wir-sind-kirche.de/?id=318#13). Als Glaubenspräfekt hat er seine eigene Theologie zum Massstab gemacht und diese als Theologie der kath. Kirche hingestellt.
Theologischer Stillstand und Klima der Angst
Dies steht in einer Linie mit zahlreichen weiteren von ihm beeinflussten Entscheidungen wie z. B. der Instruktion über die Diözesansynoden (1997), der Laien-Instruktion (1997), dem Vatikan-Papier gegen homosexuelle Lebensgemeinschaften (2003) und der Liturgie-Instruktion (2004). Für die katholische Kirche in Deutschland war der wesentlich von ihm betriebene Ausstieg der deutschen Bischöfe aus der Schwangerschaftskonfliktberatung eine besonders schwere Zerreißprobe. Der unter seiner Ägide entstandene theologische und pastorale Stillstand sowie das Klima der innerkirchlichen Angst und Erstarrung haben lange nachgewirkt. Anders als angekündigt, hat er sich auch während des Pontifikats seines Nachfolgers Franziskus immer wieder ungebeten zu Wort gemeldet.
Relativierung des Zweiten Vatikanischen Konzils
Ratzinger, der immer wieder die „Diktatur des Relativismus“ beklagte, betrieb selber die Relativierung des Zweiten Vatikanischen Konzils, vor allem durch die völlige Freigabe des vorkonziliaren Tridentinischen Ritus für die Messfeier (2007, die erst im Juli 2021 durch Franziskus wieder korrigiert wurde), durch die nicht akzeptable Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte zur „Bekehrung der Juden“ (2008) und schließlich durch die äußerst problematische Annäherung an die konzilsfeindliche Priesterbruderschaft Pius X. im Januar 2009. Die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit der Piusbruderschaft mag für Ratzinger auch ein persönliches Trauma sein, hatte er sich doch im Auftrag von Papst Johannes Paul II. seit 1988 mit deren Gründer Erzbischof Marcel Lefebvre vergeblich um eine Wiedereingliederung bemüht.
Der unter ihm 1992 veröffentlichte „Weltkatechismus“ entspricht in zahlreichen Aussagen nicht dem Stand der heutigen Exegese und theologischen Ethik. Manche bezweifeln gar, ob Kardinal Ratzinger die Aufklärung, die er so heftig kritisierte, in ihrer ganzen Dimension richtig verstanden hat. Ratzingers sakrale Überhöhung des Priesteramts hat zu einer Überhöhung des Klerikalismus geführt, gegen den Franziskus jetzt zu Recht immer wieder angeht. Umso tiefer war der Sturz durch die Aufdeckung der vielen weltweiten Fälle von sexualisierter Gewalt gerade durch Kleriker, die jahrzehntelang unter Androhung der Exkommunikation vertuscht worden ist. Dass Ratzinger mit der modernen Welt gar nichts anfangen konnte, ja regelrecht Angst davor hatte, hat sein Handeln immer wieder scheitern lassen: als Professor, Bischof, Glaubenswächter, Papst und Ex-Papst. So hat er – wie sein Vorgänger Karol Wojtyła, Papst Johannes Paul II. – wohl mehr zum Glaubensverlust in der katholischen Kirche beigesteuert als böswillige Ungläubige.
Analysen der Theologie Joseph Ratzingers
- Hermann Häring: „Im Namen des Herrn. Wohin der Papst die Kirche führt.“(Gütersloh 2009, 192 Seiten, ISBN-13: 978-3579064932
- Sigrid Grabmeier und Christian Weisner: Klerikaler Machtverlust. Transformationsprozesse in der katholischen Weltkirche, in: Forschungsjournal soziale Bewegungen 35. JG. 4 ǀ 2022
> www.wir-sind-kirche.de/?id=665&id_entry=9632 - Dokumentarfilm “Verteidiger des Glaubens“ von Christoph Röhl aus dem Jahr 2019
https://de.wikipedia.org/wiki/Verteidiger_des_Glaubens_(Film) - Von Marktl in den Vatikan – und oft in der Kritik: Papst Benedikts bewegtes Leben
> merkur.de 29.12.2022