Bewährungsprobe für den Reformpapst

 

25.09.2013, Hans Küng

In einem Gastkommentar in der neuen Züricher Zeitung (NZZ ) schreibt der Schweizer Theologe Hans Küng am 25. September 2013 zum Thema: «Kirche der Armen»

Papst Franziskus zeigt Zivilcourage: Nicht nur durch sein furchtloses Auftreten in den Favelas von Rio. Auch durch die Aufnahme eines offenen Dialogs mit nichtgläubigen Kritikern. So antwortet er offen dem führenden italienischen Intellektuellen Eugenio Scalfari, Gründer und langjähriger Chefredakteur der grossen linksliberalen römischen Tageszeitung «La Repubblica». Unter den von diesem gestellten Fragen scheint mir die vierte für eine reformbereite Kirchenleitung von besonderer Wichtigkeit zu sein. Jesus sah sein Reich nicht von dieser Welt: «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist.» Gerade die katholische Kirche aber sei allzu oft der Versuchung nach weltlicher Macht erlegen und habe zugunsten der Weltlichkeit die geistliche Dimension der Kirche verdrängt. Scalfaris Frage: «Repräsentiert Papst Franziskus schliesslich doch den Vorrang einer armen und pastoralen Kirche vor einer institutionellen und verweltlichten Kirche?» Halten wir uns an die Fakten: Papst Franziskus hat von Anfang an auf päpstlichen Pomp und Protz verzichtet und hat den spontanen Kontakt mit dem Volk gesucht. In seinen Worten und Gesten hat er sich nicht als geistlicher Herr der Herren, sondern als der «Diener der Diener Gottes» (Gregor der Grosse) präsentiert. Er hat angesichts zahlreicher Finanzskandale und der Raffgier von Kirchenmännern Reformen der Vatikanbank und des päpstlichen Kirchenstaates initiiert und Transparenz gefordert. Er hat durch die Einsetzung einer Kommission von acht Kardinälen die Notwendigkeit der Kurienreform und die Kollegialität mit den Bischöfen betont.

Aber die Bewährungsprobe als Reformpapst steht ihm noch bevor. Dass für einen lateinamerikanischen Bischof die Armen in den Vorstädten der grossen Metropolen im Vordergrund stehen, ist verständlich und erfreulich. Doch kann ein Papst der Gesamtkirche nicht übersehen, dass in anderen Ländern andere Gruppen von Menschen, die unter anderen Formen von «Armut» leiden, ebenso eine Verbesserung ihrer Lage ersehnen. Schon in den synoptischen Evangelien ist eine Ausweitung des Armenbegriffs erkennbar. Im Lukasevangelium meint die Seligpreisung der Armen ohne einen Zusatz offensichtlich die wirklich armen Leute, die Armen im materiellen Sinn. Im Matthäusevangelium aber gilt die Seligpreisung den «Armen im Geist», den geistig Armen, die sich als Bettler vor Gott ihrer geistigen Armut bewusst sind. Sie meint also ganz im Sinne der übrigen Seligpreisungen nicht nur die Armen und Hungernden, sondern auch die Weinenden, Zukurzgekommenen, Marginalisierten, am Rande Stehenden, Zurückgesetzten, die Verstossenen, Ausgebeuteten und Verzweifelten. Und so vervielfältigt sich denn die Zahl der Armen, die Hilfe erfahren sollen, um ein Vielfaches. Hilfe gerade vom Papst, wo er mehr als andere wegen seines Amtes helfen kann. Hilfe von ihm als dem Repräsentanten der kirchlichen Institution und Tradition meint mehr als nur tröstende und ermutigende Worte, meint Taten der Barmherzigkeit und Liebe. Spontan fallen einem da drei riesige Gruppen von Menschen ein, die innerhalb der katholischen Kirche «arm dran» sind.

Erstens die Geschiedenen: Sie zählen in vielen Ländern nach Millionen, von denen viele wegen Wiederverheiratung für ihr ganzes Leben von den kirchlichen Sakramenten ausgeschlossen sind. Die stärkere Mobilität, Flexibilität und Liberalität in den heutigen Gesellschaften sowie die deutlich längere Lebensdauer stellen für die Partner erhöhte Anforderungen an eine lebenslange Bindung. Gewiss wird der Papst auch unter diesen erschwerten Umständen die gebotene Unauflöslichkeit der Ehe mit Nachdruck vertreten. Aber man wird dieses Gebot nicht als eine apodiktische Verurteilung derer verstehen, die scheitern und keine Vergebung erwarten dürfen. Es handelt sich auch hier um ein Zielgebot, das lebenslange Treue einfordert, die ja auch von unzähligen Paaren gelebt wird, aber nicht schlechthin garantiert werden kann. Gerade die von Franziskus geforderte Barmherzigkeit würde eine Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zu den Sakramenten gestatten, wenn sie ernsthaft gewünscht wird.

Zweitens die Frauen, die wegen der kirchlichen Einstellung zu Empfängnisverhütung, künstlicher Befruchtung und Abtreibung von der Kirche geächtet werden und nicht selten in seelischer Not sind. Auch von ihnen gibt es auf der ganzen Welt Millionen. Das päpstliche Verbot «künstlicher» Empfängnisverhütung wird nurmehr von einer winzigen Minderheit von Katholikinnen befolgt und die künstliche Befruchtung von vielen mit gutem Gewissen praktiziert. Abtreibung soll nicht banalisiert und gar als Mittel der Geburtenregelung eingesetzt werden. Doch verdienen Frauen, die sich, meist unter grössten Gewissenskonflikten, aus ernsthaften Gründen dazu entscheiden, Verständnis und Barmherzigkeit.

Drittens die Priester, die wegen Heirat aus dem Amt ausscheiden mussten: Ihre Zahl geht in den verschiedenen Kontinenten in die Zehntausende. Und viele geeignete junge Männer werden wegen des Zölibatsgesetzes gar nicht erst Priester. Eine freiwillige Ehelosigkeit von Priestern wird zweifellos auch weiterhin in der katholischen Kirche ihren Platz haben. Aber eine für Amtsträger gesetzlich vorgeschriebene Ehelosigkeit widerspricht der im Neuen Testament gewährleisteten Freiheit, der ökumenischen kirchlichen Tradition des 1. Jahrtausends und den modernen Menschenrechten. Die Aufhebung des Zwangszölibats wäre die effektivste Massnahme gegen den überall spürbaren katastrophalen Priestermangel und den damit verbundenen Zusammenbruch der Seelsorge. Wird der Pflichtzölibat beibehalten, ist auch an die wünschenswerte Ordination von Frauen zum Priesteramt nicht zu denken.

In seinem am 20. September in der Jesuitenzeitschrift «La Civiltà Cattolica » veröffentlichten ausführlichen Interview anerkennt Papst Franziskus die Wichtigkeit von Fragen wie Empfängnisverhütung, Homosexualität und Abtreibung. Aber er wendet sich dagegen, dass diese Fragen allzu sehr ins Zentrum der Verkündigung gerückt werden. Mit Recht fordert er ein «neues Gleichgewicht» zwischen diesen Moralfragen und den wesentlichen Impulsen des Evangeliums selber. Dieses Gleichgewicht kann aber nur dadurch erreicht werden, dass die immer wieder aufgeschobenen Reformen realisiert werden, damit nicht die im Grunde zweitrangigen Moralfragen der Verkündigung des Evangeliums «die Frische und die Attraktivität» rauben.