08.08.2013, Matthias Kamann
Matthias Kamann schrieb am 4. August 2013 in der Zeitschrift "Die Welt" nachstehenden Artikel.
Franziskus erkennt, dass die römische Hierarchie seine Autorität nicht mehr garantieren kann. Daher muss er aufs Kirchenvolk zugehen und den Gläubigen Freiräume eröffnen. Das ist eine große Chance. Frage nicht, was die Kirche für dich tun kann. Sondern frage, was du für den Glauben tun kannst. Meist sagen das linientreue Apparatschiks des Katholizismus. Nach dem Motto: Kommt uns Bischöfen nicht mit Reformforderungen, sondern seid brav fromm.
Doch der Aufruf lässt sich auch anders verstehen. Nicht als Entlastung für Hierarchen, nicht bequem für Kardinäle, sondern selbstbewusst: Man mache sich nicht abhängig von Rom, sondern nehme die Dinge selbst in die Hand. Hierzu ermuntert Papst Franziskus. Er eröffnet neue Perspektiven für das Verhältnis von Gläubigen und Kirche.
Diese Perspektiven allerdings gibt es am wenigsten dort, wohin derzeit alle gucken: im Vatikan, wo Franziskus offenbar aufzuräumen gedenkt. Gewiss, er muss das tun, weil die Kirche eine Leitung benötigt, um deren Funktionieren sich der Papst kümmern muss.
Aber angenommen, Franziskus hätte dabei Erfolg – was würde dies Katholiken nutzen? Wollen sie ihr Vertrauen auf Jesus Christus davon abhängig machen, ob in einem Zwergstaat reaktionäre Schwulen-Seilschaften existieren? Ob dort intrigiert, verschwendet und in rote Schühchen investiert wird oder nicht? Wir halten es doch auch nicht für weltbewegend, was in Andorra passiert.
Glaubwürdigkeit lässt sich nicht delegieren
Wer nun einwendet, dass die Spitze der Weltkirche sauber sein müsse, um den Glauben glaubwürdig verkündigen zu können, läuft schon in die Falle. Denn er delegiert Glaubwürdigkeit nach oben, an die Hierarchie. Glaubwürdigkeit lässt sich nicht delegieren. Und selbst wenn sie oben herrscht, nutzt dies wenig.
Man schaue in Deutschland auf die evangelische Kirche. Die hat trotz mancher Schlamperei eine ordentliche Leitung mit solider Synodalverfassung. Trotzdem schwindet die protestantische Glaubenskraft. Ergo: Franziskus möge in Rom aufräumen, aber entscheidend ist das nicht.
Etwas Irrelevantes hat auch, was er in der vergangenen Woche im Flugzeug auf der Rückreise von Brasilien sagte. Zwar kann es als bemerkenswerte Bekräftigung jüngerer Kirchendebatten gelten, dass der Papst den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen überdenken will.
Doch neu ist das nicht, und dogmatisch unerheblich sind seine Sätze über schwule Priester und die Rolle der Frau. Die Tür zur Priesterinnenweihe bleibe geschlossen, betonte er. Und was die schwulen Priester betrifft, über die er nicht "richten" will: Katholische Priester sollen Zölibatäre sein. Da ist es egal, ob sie hetero- oder homosexuell veranlagt sind. Soll es ein Fortschritt sein, wenn Priester künftig nicht nur das Verlangen nach Frauen, sondern auch das nach Männern unterdrücken dürfen?
Dieser Papst hat einen anderen Sound
Und dennoch: All das klingt bei Franziskus neu. Nicht wegen des Inhalts, sondern wegen der Art, wie er es vorträgt. Und wegen des Resonanzraums, den er den Sätzen verschafft. Sie klingen offener, polyfon. Der Papst scheint zu wollen, dass die Musik mit mehr Stimmen gespielt wird.
Das fängt an mit dem Flötenton des Wörtchens "schwul" ("gay"), den Franziskus in seine Ausführungen über die Priester einflocht, als wolle er hörbar machen, dass es eine unbefangene Weise gibt, über Homosexualität zu sprechen. Wenn er bei diesem Thema mit der Wendung "Wer bin ich, dass ich verurteile?" die Sündigkeitsverdikte infrage stellt, erschüttert er zudem die Selbstgerechtigkeit klerikaler Schwulen-Verdammer.
Außerdem eröffnet er Freiräume für jene, die Homosexualität und Kirche zusammenzudenken versuchen. Denn wer dies zu verbieten versucht, wird sich künftig entgegenhalten lassen müssen: "Wer bist du, dass du verurteilst?"
Gegenstimmen zur herrschenden Musik
Franziskus ermuntert dazu, Gegenstimmen zur herrschenden Musik zu spielen. Wenn er seine Verachtung vatikanischer Autoritätsinszenierungen bekundet, fordert er dazu auf, sich von Kardinälen weniger beeindrucken zu lassen. Werdet selbstbewusster! "Die Jugend hat die Verantwortung, die Kirche am Leben zu halten", soll er in Brasilien einer Pilgerin zugeflüstert haben.
Gewiss: All das sind nur Worte und Gesten. Mehr aber steht einem Papst gar nicht zur Verfügung. Ein durchgreifender Diktator wäre inakzeptabel. Es ist gut, dass Franziskus – sieht man vom tatsächlichen Handlungsdruck im vatikanischen Zwergstaat ab – nur reden kann.
Entscheidend ist nicht, ob er redet, sondern wie er es tut. Ob er das Machtgefüge stabilisiert oder dazu auffordert, es zu hinterfragen. Ob er konservierend spricht oder erfrischend. Und am wichtigsten, weil entscheidend für jede theologische Rede: Ob diese die Menschen zu Rezipienten von Verwaltetem degradiert oder ob sie in ihnen Subjekte erkennt, die den Glauben in vielstimmigem Jubilieren vergegenwärtigen können.
Der Papst stand nicht immer im Rampenlicht
Mit seinen Appellen zum Selbersingen nimmt Franziskus entscheidende Modifikationen am gegenwärtigen Papst-Verständnis vor. Dieses ist ja keineswegs 2000 Jahre alt, sondern eine Erfindung des 19. Jahrhunderts.
Von der Spätantike bis in die Neuzeit hinein waren die Bischöfe von Rom nicht zentralistische Glaubensautoritäten für alles und jeden. Vielmehr mussten sie sich – sofern sie nicht gerade mit kirchenstaatlicher Machtpolitik oder der Legitimationsstiftung für Herrscherhäuser beschäftigt waren – mit der Rolle moderierender Gesprächspartner von eigenständigen Bistümern und Orden begnügen, die vieles selbst regelten.
Erst im 19. Jahrhundert wurde der Papst zum absoluten Monarchen einer in sich geschlossenen katholischen Gegenwelt aufgebaut, zum, wie der Religionshistoriker Thomas Großbölting schreibt, "Oberhaupt einer streng auf Rom hin orientierten Massenorganisation und gleichzeitig zum Objekt einer überbordenden religiösen Verehrung".
Doch nachdem diesem immer heikler gewordenen Papst-Monarchismus durch den Rücktritt Benedikts XVI. ein vernichtender Schlag versetzt wurde, scheint Franziskus zu erkennen, dass ihm Hierarchie und Dogmen nicht mehr genügend Halt bieten.
Die Rettung des eigenen Charismas
Daher sucht er neue Bündnispartner beim Kirchenvolk, zumal den Armen. Das ist nicht uneigennützig: Die Tänzer vom Weltjugendtag in Rio de Janeiro sollen ihm jenes Charisma retten, das ihm die Institution nicht mehr garantiert.
Insofern haben die Verehrer dieses Papstes allen Grund, sich die Stärke ihrer Rolle als Bündnispartner bewusst zu machen, also ihm etwas abzuverlangen und vor allem die Freiräume zu nutzen, die er ihnen nolens volens eröffnet.
Diese Freiräume gibt es. Man kann in der Kirche jetzt offener reden über das Schwulsein. Man darf Skepsis zeigen gegenüber angemaßten Autoritäten. Vor allem kann der Eigensinn von Orten zur Geltung gebracht werden.
Das ist ja das Elektrisierende an den Besuchen dieses Papstes auf der italienischen Mittelmeer-Insel Lampedusa und in einer brasilianischen Favela: dass er damit nicht nur, was schon viel ist, die Hinwendung zum Elend der Flüchtlinge und der Benachteiligten bekundet, sondern auch umgekehrt dazu einlädt, die dort präsenten Hoffnungen der Gestrandeten und Bedürfnisse der Armen in die Kirche zu tragen.
Orte wie diese sollen Ausgangspunkte des Glaubens sein. Das gilt es selbstbewusst zu nutzen: Frage nicht, was die Kirche für dich tun kann. Sondern frag, was du für den Glauben tun kannst.
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