»Monströse Unkeuschheit«

 

19.08.2013, Klaus Mertes

"Die Zeit" stellt am 6. Juni 2013 das neue Buch von Klaus Mertes SJ "Verlorenes Vertrauen" vor. Dabei druckt sie Auszüge aus diesem Buch ab. 2010 löste der Jesuit Mertes eine Welle von Enthüllungen kirchlicher Gewalt aus, indem er den sexuellen Missbrauch von Schülern am katholischen Canisius-Kolleg in Berlin aufdeckte. Er war damals Rektor des Gymnasiums, später wurde er zum öffentlichen Anwalt der Opfer. Das Buch: Klaus Mertes: Verlorenes Vertrauen; Katholisch sein in der Krise. Herder Verlag 2013,19,99 €
Wie Priester zu Tätern wurden – eine Bilanz des Missbrauchs in der katholischen Kirche

Machtmissbrauch durch sexualisierte Gewalt ist der monströse Fall, der zwei Themen unübersehbar auf die Tagesordnung der Kirche setzt: Macht und Sexualität. Da es bei sexualisierter Gewalt im Kern um den Missbrauch von Macht geht, kann man sogar zuspitzen: Die Schlüsselfrage ist die nach dem Umgang mit Macht in der Kirche. Wenn über Macht in der Kirche gesprochen wird, kommt schnell der Hinweis, Kirche habe heute doch gar keine Macht mehr. In den Ohren der Opfer klingt das wie Hohn. Sie haben die missbrauchende und missbrauchte Macht der Kirche kennengelernt. Die geistliche Macht, welche die Kirche innehat, wirkt in die Welt hinein. Sie ist auch Macht. Schließlich geht es der Kirche ja um das Heil der Welt, nicht nur um das Heil der Kirche.

Im Sprechen über Missbrauch wird immer wieder verräterisch deutlich, wie sehr der Kirchenbegriff hierarchiefixiert ist: »Die Missbräuche haben der Kirche geschadet« – ja, aber gerade deswegen, weil sie den Opfern geschadet haben, nicht weil sie dem Ansehen der Kirche geschadet haben.

Macht und Priestertum

Missbrauch priesterlicher Macht bringt eine besondere Fallhöhe mit sich, weil die Priester für eine Institution stehen, die hohe moralische Ideale predigt, gerade in Fragen der Sexualmoral. Ein Fußballverein stellt keine vergleichbaren Ansprüche an seine Mitglieder oder gar an die Welt. Die besondere Fallhöhe bei Priestertätern wird noch gesteigert, weil das Weihepriestertum nach katholischem Verständnis die Priester von den übrigen Getauften nicht nur dem Grad, sondern dem Wesen nach unterscheidet. Wer ontologisch höher steht, fällt ontologisch tiefer.

Auch die kritische Öffentlichkeit teilt diese Einschätzung. Das hat die Debatte der letzten Jahre deutlich gemacht. Unter dem Firnis der Säkularisierung ist die Vorstellung vom Priester als einem Menschen, der eine besondere Nähe zu Gott hat, lebendig geblieben. So ist die Wut der Öffentlichkeit nach der Aufdeckung der Missbräuche nicht nur als Ausdruck von Kirchenfeindschaft zu verstehen, sondern auch als Ausdruck tiefer Enttäuschung.

Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Priestertum und Missbrauch. Aber es gibt ein über- zogenes Priesterbild und Priesterverständnis. Als Opfer versuchten zu sprechen, hörten sie Sätze wie: »So spricht man nicht über einen Priester.« Die überzogene Aura des Priesterlichen schützte die Täter. Die Priestertäter ihrerseits hatten und haben in der Regel ein klares Bewusstsein für ihre starke Position in der katholischen Kirche. Macht ermöglicht Nähe, geistliche Macht ermöglicht geistliche Nähe. Die Aura des Priesterlichen ist für die Täter die Eintrittskarte in das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen – und dasselbe gilt letztlich für alle seelsorglichen Verhältnisse. Wer eine besondere Nähe zu Gott hat, ist besonders vertrauenswürdig. Schließlich ist Gott die Vertrauenswürdigkeit schlechthin.

Priester haben aber keine besondere Nähe zu Gott. Davon steht nichts im Evangelium, nichts in den Texten der Weiheliturgie. Sie strahlen auch keine besondere göttliche Energie aus. Wenn es überhaupt so etwas gibt wie Menschen, die eine besondere Nähe zu Gott haben, so ist das unabhängig von der Weihe. Franziskus von Assisi war kein Priester. Teresa von Avila auch nicht. Das Problem liegt in dem Wort »besonders«. Man kann es auch umgekehrt formulieren: Gott ist jedem Menschen besonders nahe. Die Gleichheit aller Menschen hebt ihre jeweilige Einzigkeit und Besonderheit nicht auf. Die Gleichheit der Menschen vor Gott ist bunt, nicht einfarbig.

Jesus war kein Tempelpriester. Aus der pharisäischen Synagogentradition stammend, schloss er sich Johannes dem Täufer an, der bewusst nicht im Tempel in Jerusalem wirkte, sondern in die Wüste an den Jordan ging. Jesus hielt erkennbar Distanz zum Tempel. Er trug ebenso wie Johannes keine priesterliche Kleidung. Den Gottesdienst holte er Mahl feiernd wieder in die Häuser der Menschen zurück. Seine Kritik an den religiösen Eliten seiner Zeit passt heute auf kirchlichen Klerikalismus ebenso wie auf Bigotterie und Scheinheiligkeit. Gerade bei den religiösen Führern waren ihm Frömmelei und Eitelkeit untrügliches Indiz für eine andere Innenseite: »Ihr seid wie Gräber, die außen weiß angestrichen sind, innen sind sie aber voll Knochen, Schmutz und Verwesung.«

Macht und Sexualität

Wie kommt es, dass die Kirche, deren Botschaft von Gottes bedingungsloser Liebe handelt, mit so vielen Liebeserfahrungen von Menschen auf Kriegsfuß steht? Eltern verstoßen ihre Tochter, weil sie einen Mann heiratet, dessen erste Ehe gescheitert ist. Paaren wird die kirchliche Trauung verweigert, weil sie schon vor der Ehe zusammenleben und das nicht als Sünde sehen. Schwangere Schülerinnen fliegen von der katholischen Schule. Viele dieser Herzlosigkeiten haben mit der christlichen Lehre überhaupt nichts zu tun. Von Augustinus stammt der Satz: »Liebe, und tu, was du willst.« Damit meinte er sicherlich nicht, dass alles geht. Es ist ein absurder Aspekt der gegenwärtigen Diskussion in der katholischen Kirche, dass jede differenzierende, nachdenkliche Frage gleich als Plädoyer für ein anything goes argumentativ totgeschlagen wird. Die sexuellen Missbräuche haben sehr deutlich gemacht, dass im Namen der Liebe etwas ganz anderes geschehen kann als Liebe; dass Sexualität sich mit Machtinteressen verbinden kann, mit Gewalt, Schamlosigkeit und Selbstbespiegelung.

Ethische Maßstäbe für den Umgang mit Sexualität sind unumgänglich. Aber muss die Alternative zum anything goes ein Regelwerk sein, dessen Anwendung in der Lebenswirklichkeit der Menschen oft den Preis herzloser Härte kostet oder – um diese Härte zu vermeiden – den Preis stillschweigend geduldeten Doppellebens? Mit all dem Verdrucksten, das für viele Menschen inzwischen als typisch katholisch gilt?

Unkeuschheit

Einkostbares Wort der KirchlichenTradition ist >>Keuschheit«. Sie wird oft mit sexueller Enthaltsamkeit verwechselt. Das ist ein Missverständnis. Ehepaare sind nicht unkeusch, wenn sie nicht sexuell enthaltsam leben. Die Liebe zum geliebten Menschen konkurriert eben nicht mit der Liebe zu Gott. In dem berühmten australisch-amerikanischen Film Die Dornenvögel trennt sich der Kardinal von seiner Geliebten mit dem Satz: »Ich liebe Gott mehr als dich.« Ich empfehle als Gegentext einen der Briefe Léon Bloys an seine Braut, veröffentlicht im Jahre 1922: »Sie haben mir geschrieben: ›Ich liebe Gott mehr als Sie.‹ Ich könnte Ihnen so etwas nicht schreiben, einfach deshalb, weil ich diese Teilung nichtvornehmen kann. Ich liebe Gott in Ihnen, durch Sie hindurch, Ihretwegen, ich liebe Sie vollkommen in Gott, wie ein Christ seine Gattin lieben soll. Die Idee, diese zweieinige Flamme der Liebe auseinanderzureißen, das ist für mich eine Klügelei, eine Grübelei, die mir überhaupt nicht in den Sinn kommt.«

Die priesterliche Enthaltsamkeit hat nur Sinn, wenn sie als Lebensform der Gottes- und Menschenliebe gelebt wird, als eine Lebensform, die das Herz weitet. Sexueller Missbrauch ist der monströse Fall von Unkeuschheit. Von daher kann näher bestimmt werden, was »Keuschheit« meint: Respekt vor der Intimsphäre, vor dem Lebensgeheimnis des anderen, auch vor dem Geheimnis seiner oder ihrer persönlichen Beziehung zu Gott; absichtslose Zuwendung, »reines Herz«. Unkeuschheit dagegen ist Manipulation, interessegeleiteter Blick auf die andere Person, Übergehen von Schamgefühlen, Ausnutzen von Unsicherheit, übergriffige Nähe.

Es gibt unkeusche Formen von Seelsorge schon vor der monströsen Grenzüberschreitung im sexuellen Missbrauch. Etwa den Versuch, ganz schnell ganz nah dran zu sein am anderen. Pastorale Strategien sind strukturell unkeusch, wenn sie von der Frage ausgehen: »Wie kommen wir an die Leute ran?« Die biblische Metapher vom Menschenfischen kann missbraucht werden. Doch es geht in der kirchlichen Seelsorge nicht darum, Menschen für Interessen – für volle Kirchen, für Ordens- und Priesternachwuchs – einzuspannen. Es geht auch nicht darum, sie an ihrem eigenen Urteil vorbei für etwas zu gewinnen, was man selbst für sie für das Beste hält.

Der Beichtstuhl ist nach wie vor der Ort, auf den übergriffige Seelsorge besonders gern hinarbeitet. Mit eigenen Ohren höre ich immer wieder Berichte, dass es heute noch Priester gibt, die Sündenkataloge im Beichtstuhl abfragen, vornehmlich zu Themen der Sexualmoral. Wie die Missbrauchstäter im Großen, so merken solche »Seelsorger« auch hier im Kleinen gar nicht, dass es übergriffig ist, die moraltheologische Kasuistik zu gebrauchen, um im Beichtstuhl aktiv nach Regelübertretungen im Intimbereich herumzustochern: »Onanieren Sie? Wie oft? Tags? Nachts? Vor dem Fernsehen? Wann sonst noch?«

Kürzlich riefen Jugendliche bei mir an: Sie waren bei der Vorbereitung ihrer Firmung im Beichtstuhl so intensiv zum Themenbereich Sexualität ausgefragt worden, dass sie sich bedrängt fühlten. Durch die Debatte der letzten Jahre waren sie zugleich selbstbewusster geworden. Sie wagten, ihren Eindruck auszusprechen, dass der Priester sie ausfragte, weil er sich an den Antworten selbst erregte. Es ist eine Falle der kirchlichen Sexualmoral, dass sie wegen ihrer thematischen Verengung auf den Geschlechtsakt voyeuristische Interessen gerade bei denjenigen bedienen kann, die Moral mit großem Pathos predigen.

Keuschheit ist Reinheit des Herzens. Der keusche Seelsorger tritt der anvertrauten Person nicht mit der Verdächtigungsperspektive entgegen. Das unreine Herz hingegen verdächtigt den anderen, ein unreines Herz zu haben. Eine alte Geschichte aus der Mönchstradition konfrontiert diesen Mechanismus: »Zwei Mönche gehen eine morastige Straße entlang. Am Straßenrand steht eine junge, hübsche Frau in kostbaren Gewändern. Sie will offensichtlich auf die andere Straßenseite, traut sich aber nicht in den Morast. Der eine der beiden Mönche hebt sie auf, trägt sie über die Straße und setzt sie dort ab. Die beiden Mönche gehen weiter. Nach einiger Zeit sagt der eine vorwurfsvoll: Bruder, wie konntest du als Mönch die Frau anfassen? Darauf der andere: Ich habe die Frau über die Straße getragen und abgesetzt. Du aber trägst sie noch immer mit dir herum!«

Überwindung der Gewalt

Die Vision vom Reich Gottes antwortet auf das gravierendste Problem im Zusammenleben der Menschheit: Gewalt. Gewalt zerstört Vertrauen. Die Praxis Jesu weist einen Weg, wie die durch Gewalt beschädigten Vertrauensressourcen unter Menschen und Völkern wieder neu zum Sprudeln gebracht werden können. Dabei bedeutet »Reich Gottes« nicht einfach die Wiederherstellung eines ursprünglich heilen, paradiesischen Zustandes der Gewaltlosigkeit. Vielmehr geht die Perspektive nach vorn: Im Reich Gottes werden Menschen und Völker, die zueinander kein Vertrauen mehr aufbringen können und sich deswegen in der Spirale gegenseitiger Gewalt verstrickt haben, versöhnt. Die Versöhnung ist mehr als die bloße Abwesenheit von Misstrauen und Gewalt. Die Versöhnung ist eine Steigerung gegenüber dem friedlichen Urzustand vor der ersten Gewalttat.

Die Realität der Versöhnung zeigt sich im Evangelium in den großen Festmählern, die Jesus feiert. Zum einen fordert das Evangelium, den Dienst am Mammon ganz zu lassen und stattdessen den eigenen Reichtum zu teilen – eindrücklich dargestellt in den großen Speisungen mitten in der Wüste, die dadurch möglich werden, dass einige beginnen, alles, was sie dabeihaben, zu geben. Der Dienst am Mammon versklavt, das Teilen befreit aus diesem Dienst. Zum anderen sammeln sich in den Festmählern diejenigen, die zu keinem Clan gehören. Mit der Einladung zu den Festmählern gehören sie aber zugleich zu einem neuen Clan, zu den wahren »Schwestern und Brüdern« des einen Vaters im Himmel. Das Reich Gottes ist also verbunden mit der Überwindung trennender Gegensätze zwischen Clans, Gruppen und Nationen. Sie spielen keine Rolle mehr. Trotzdem ist für Jesus das Reich Gottes keine gesetz- und strukturlose Größe. Doch im Reich Gottes herrscht das Gesetz, um den Menschen zu dienen. Es ist zusammengefasst im Gebot der Nächstenliebe.

Das Evangelium schlägt als Alternative zur Gewalt den Weg der Gewaltlosigkeit vor: Sie meint aber gerade nicht Resignation gegenüber der Gewalt, sondern Widerstand gegen sie. Man kann die »Leistung« Jesu am Kreuz so beschreiben: Dem Misstrauen und der Gewalt, die auf ihn prallen, gelingt es nicht, sein Vertrauen zu besiegen. Sein Tod ist kein äußerliches Opfer, sondern versöhnende Hingabe des Lebens, weil er bis zum Schluss aus Vertrauen lebt. Gott ist vertrauend.