Glaube braucht Zweifel

25.08.2009, Dr. Norbert Scholl

Sind Zweifel ein Zeichen für einen schwachen Glauben? Obwohl das Erste Vatikanische Konzil lehrte, ein Gläubiger könne nur durch schwere Sünde in Glaubenszweifel geraten, zeigen gerade die biblischen Geschichten, dass Gott wohlwollend mit einem zweifelnden Menschen rechnet.

Der Artikel ist aus „CHRIST IN DER GEGENWART“ Nr. 34 vom 23. August 2009

Seit der Väterzeit gibt es eine Traditionslinie, wonach Wissen in Glaubenssachen das Verdienst des Glaubens schädigt. Diese Linie beruft sich -zu Unrecht -auf das vielzitierte Wort Jesu im Johannesevangelium: "Selig sind, die nicht sehen und doch glauben" (Joh 20,29). Nach der Lehre des Ersten Vatikanischen Konzils (1869/70) kann ein Katholik nicht ohne schwere Sünde in den Zustand des Zweifels am Glauben geraten. Vielleicht hat Friedrich Nietzsche diesen Satz gekannt. Denn er spottete: "Man soll ohne Vernunft, durch ein Wunder, in den Glauben hineingeworfen werden und nun in ihm wie im hellsten und unzweideutigsten Elemente schwimmen: Schon der Blick nach einem Festlande, schon der Gedanke, man sei vielleicht nicht zum Schwimmen allein da, schon die leise Regung unserer amphibischen Natur -ist Sünde! Man merke doch, dass damit die Begründung des Glaubens und alles Nachdenken über seine Herkunft ebenfalls schon als sündhaft ausgeschlossen sind. Man will Blindheit und Taumel und einen ewigen Gesang über den Wellen, in denen die Vernunft ertrunken ist!"

Interessant ist jedoch, dass dasselbe Konzil einem irrationalen, bloß emotionalen Glaubensverständnis und einer fideistischen Abwertung der Vernunft eine deutliche Absage erteilt. Die Konzilsteilnehmer erkennen die Würde und den Eigenwert der Vernunft an. Sie betonen sogar die Notwendigkeit einer Verantwortung des Glaubens vor der Vernunft. Die Vernunft trage zur Erhellung des Glaubens bei; die Vernunft werde durch den Glauben positiv gefördert. Allerdings baut dieser Vernunftoptimismus auf einem unhistorischen Verständnis der Vernunft auf: Das Problem einer zeitbedingten, gar evolutiven Vorstellung von Glaubenswahrheiten wird nicht gesehen. Bei Konflikten steht der -unfehlbare -Glaube über der -fehlbaren -Vernunft.

Der lachende Abraham

Christlicher Glaube, so das Konzil -und damit wird die Sache wieder kompliziert -, bezieht sich auf alles, "was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche durch feierliches Urteil oder durch das gewöhnliche und allgemeine Lehramt als von Gott geoffenbart zu glauben vorgelegt wird". Dieser Glaube wird von einem unfehlbaren Lehramt vorgelegt. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten sind bei einem solchen Glaubensverständnis tabu. Tiefere Einsicht in die Inhalte des Glaubens braucht nicht allen Mitgliedern gegeben zu sein. Es genügt, wenn sie der mit Unfehlbarkeit ausgestattete Oberste Hirte hat.

Den Vätern des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) genügte das nicht. Sie forderten von den Gläubigen "das Zeugnis eines lebendigen und gereiften Glaubens, der so weit gebildet ist, dass er Schwierigkeiten klar zu durchschauen und sie zu überwinden vermag", wie es in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes heißt (ArtikeI2l). Und Papst Johannes XXIII. war davon überzeugt, "dass es dem heute Geforderten besser entspricht, wenn sie (die Kirche) die Triftigkeit ihrer Lehre nachweist, als wenn sie eine Verurteilung ausspricht". Vielleicht dachte er dabei an Sigmund Freud: "Der Zwang ist ein Versuch zur Kompensation des Zweifels."

Zweifel sind ein Zeichen dafür, dass jemand sich Gedanken über etwas macht. Dass ihm eine Sache wichtig und darum bedenkenswert erscheint. Der Philosoph Descartes sah im Zweifel geradezu ein Kennzeichen des denkenden Menschen: "Was bin ich? Ein denkendes Wesen. Was ist das? Ein Wesen, welches zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will, auch einbildet und empfindet."

Der ernsthaft glaubende und denkende Mensch darf das Nachdenken über Glaubensfragen nicht den Profis überlassen, sondern muss selbst seinen ihm gegebenen Verstand einsetzen, um "alles zu prüfen" und das Gute zu behalten (vgl. 1 Thess 5,21). Die Einbindung des Zweifels in das Nachdenken über Gott und seine Botschaft an die Welt gehört darum zur Aufgabe der Theologen und aller, die sich ernsthaft mit dem überlieferten Glaubensgut befassen. Theologie definiert sich seit alters her als gläubige und zugleich vernünftige "Rede von Gott". "Fides quaerens intellectum" ("der Glaube, der den Verstand sucht"), so formulierte es Anse1m von Canterbury (1033-1109). Glaube soll ein "obsequium rationabile" sein, ein von der Vernunft getragener sittlicher Akt, so sahen es die mittelalterlichen Theologen.

Die glaubend Zweifelnden und die zweifelnd Glaubenden können sich auf prominente Vorbilder in der Schrift berufen. Zwei besonders erwähnenswerte sind Abraham und Thomas.

Abraham gilt als ,,Vater des Glaubens" (Gen 15,6). Im Jakobusbrief wird er als "Freund Gottes" bezeichnet (2,23). Aber im Alten Testament gibt es eine Szene, die ihn als Zweifelnden vorstellt. Da wird erzählt, Abraham habe als Hundertjähriger von Gott Besuch erhalten, und Gott habe ihm und seiner Frau Sara, die auch schon neunzig Jahre alt war, noch einen Sohn verheißen. "Da fiel Abraham auf sein Gesicht nieder und lachte. Er dachte: Können einem Hundertjährigen noch Kinder geboren werden, und kann Sara als Neunzigjährige noch gebären?" (Gen 17,1 -22; bes. 17). Äußerlich vollzieht er Gott gegenüber die schuldige Demutsgeste. Innerlich aber zweifelt er. Und er lacht über das Gotteswort -hörbar und direkt. Eine unerhörte Szene, deren theologische Brisanz die traditionelle Exegese gern herunterspielt. Der "vor Gott anbetend niedergestreckte und zugleich lachende Abraham ist ... eines der abgründigsten Bilder der Heiligen Schrift", so der Alttestamentler Walter Groß.

Dem Apostel Paulus erschien das offensichtlich unerträglich. Er schrieb die Geschichte einfach um: "Ohne im Glauben schwach zu werden, war er, der fast Hundertjährige, sich bewusst, dass sein Leib und auch Saras Mutterschoß erstorben waren. Er zweifelte nicht im Unglauben an der Verheißung Gottes, sondern wurde stark im Glauben, und er erwies Gott Ehre (Röm 4,19f). Das ist genau das Gegenteil von dem, was in der Schrift steht. Aber schließlich möchte ja Paulus den Abraham als ein Vorbild im Glauben hinstellen - und nicht als ein Vorbild im Zweifeln.

Typ des skeptischen Gläubigen

Die Pointe der alttestamentlichen Abrahamsgeschichte liegt aber darin, dass Gott einen solchen Zweifel akzeptiert. Denn die Geschichte hat einen glücklichen Ausgang: Abraham wird keineswegs für sein unbotmäßiges Verhalten bestraft, sondern bekommt von Gott das geschenkt, was er in seinem zweifelnden Lachen für unmöglich gehalten hatte -den Sohn Isaak, was wörtlich übersetzt heißt: "Gott lacht". Das kann man vielleicht so deuten: Gott lacht über den Zweifel der Menschen. Er lässt das Lachen als Ausdruck des Zweifels gleichsam schmunzelnd und anerkennend zu. Er lacht den Menschen nicht aus, sondern freut sich darüber, dass der Mensch ihm gleichsam auf Augenhöhe kritisch gegenübertritt. Er ist ein Gott, der den lachenden Zweifel des Menschen aushält und ihn am Ende in ein glückliches Lachen der Freude verwandelt.

Einen ähnlich positiven Ausgang hat die Erzählung vom ungläubigen Thomas, die Johannes an den Schluss seines Evangeliums gesetzt hat (20,24-29). Das ist kein Zufall. In Thomas konnten sich wohl die meisten seiner Leserinnen und Leser irgendwie wiederfinden. Johannes schildert ihn an anderen Stellen seines Evangeliums als einen Menschen, dem nicht so recht klar ist, was Jesus eigentlich will (vgl. 11,16; 14,5). Er hatte andere Vorstellungen über das, was Jesus tun würde. Und er konnte sich nicht damit abfinden, dass Jesus möglicherweise am Kreuz enden wird. Thomas ist für den Evangelisten so etwas wie der Typ eines skeptischen, nicht leicht zu überzeugenden Gläubigen -so wie sie in der Gemeinde des Johannes vermutlich zahlreich vertreten waren.

Und genau diesen Typ stellt Johannes als Wegweiser für die Gemeinde ans Ende seines Evangeliums. Thomas ist nicht ein leuchtendes Vorbild bedingungslosen, blinden Glaubens. Er ist kein fröhlich und unangefochten Glaubender. Eher ein bedächtiger, etwas kritisch eingestellter, aber letztlich verlässlicher und treuer Anhänger der Jesusbewegung. Und er ist einer, den Jesus nicht wegen seines Zweifels verachtet, sondern dessen er sich sogar besonders liebevoll annimmt.

Die hebräische Bibel und das Neue Testament hatten offensichtlich keine Probleme mit dem Zweifel. Sie verurteilen die Zweifler nicht. Im Gegenteil: Die Texte lassen sogar jene ziemlich alt erscheinen, die unerschütterlich zu glauben meinen und über jeden Zweifel die Nase rümpfen.

Jede gläubige Christin und jeder gläubige Christ haben das Recht, an dem zu zweifeln, was ihr und ihm an christlichem Glaubensgut überliefert ist. "Es müssen Tod und Zweifel in der Kirche sein. Vor ihren Mauern bedeuten sie wenig, sind sie überall. Aber hier! Welche Konzeption der Kirche, die Raum für solche Schmerzen, solche Haltungen hat! ... Frage und Zweifel sind innen, im religiösen Bezug", so der Schriftsteller Reinhold Schneider. Ein lebendiger und gereifter Glaube darf nicht blind und unvernünftig sein. "Der Glaube muss sich auf Einsicht und Vernunft zurückführen lassen, wenn wir es nicht mit den Fantasten halten wollen", sagte John Henry Newman. Und Papst Benedikt XVI. schrieb in seiner Enzyklika Spe salvi: Vernunft ist die große Gottesgabe an den Menschen, und der Sieg der Vernunft über die Unvernunft ist auch ein Ziel des christlichen Glaubens."

Der Zweifel ist ein Zeichen dafür, dass etwas anziehend und interessant auf mich wirkt, dass mir etwas nicht gleichgültig erscheint. Ich beginne, darüber nachzudenken. Ich fühle mich genötigt, meinen bisherigen Standpunkt zu verlassen und auf die Sache zuzugehen, mich in eine Auseinandersetzung mit ihr einzulassen. Weil mir die Sache wichtig ist, beginne ich, sie zu untersuchen, zu prüfen. Der Zweifel regt mich zu einer intensiveren Beschäftigung an. "Glaube ist Ungewissheit und Wagnis", hat der Philosoph Peter Wust gesagt. Weil ich mitten im Leben stehe, habe ich das Recht, unsicher zu sein. Auf alles eine Antwort zu haben, heißt meistens Antworten zu haben, die zu keinen Fragen wirklich passen.

Ich möchte Joseph Ratzinger zitieren: "Der Glaubende wie der Ungläubige haben, jeder auf seine Weise, am Zweifel und am Glauben Anteil, wenn sie sich nicht vor sich selbst verbergen und vor der Wahrheit ihres Seins." Und er fort: "Keiner kann dem Zweifel ganz, keiner kann dem Glauben ganz entrinnen; für den einen wird der Glaube gegen den Zweifel, für den anderen durch den Zweifel und in der Form des Zweifels anwesend. Es ist die Grundgestalt menschlichen Geschicks, nur in dieser unbeendbaren Rivalität von Zweifel und Glaube, von Anfechtung und Gewissheit die Endgültigkeit seines Daseins finden zu dürfen. Vielleicht könnte so gerade der Zweifel, der den einen wie den anderen vor der Verschließung im bloß Eigenen bewahrt, zum Ort der Kommunikation werden" ("Einführung in das Christentum", München 1968, S. 24).

Auf Dauer ist der Kirche mit Zweiflern und Querdenkern mehr gedient als mit unkritischen Jasagern und stets zu "blindem" Gehorsam bereiten, von keinem Zweifel angefochtenen Gläubigen.

Der Artikel ist aus „CHRIST IN DER GEGENWART“ Nr. 34 vom 23. August 2009

Norbert Scholl, Dr. theol., war Professor für Katholische Theologie und Religionspädagogik in Heidelberg