01.11.2011, Hermann Häring
Ausschnitt aus dem Vortrag bei der Tagung der Niederländischen Priester ohne Amt am 16. Oktober 2010
Sie kennen die aktuelle Situation besser als ich: die Unzufriedenheit der einen, denen man in ihren Gemeinden die sonntägliche Eucharistiefeier vorenthält, und die Ungeduld der anderen, die den Rahmen einer katholischen Liturgie schön lange ausgeweitet haben. Mit neuen Gottesdiensten meine ich die Feiern in verschiedensten Formen, wie sie in den letzten Jahrzehnten entstanden sind. Es sind Gottesdienste zu verschiedenen Anlässen und für verschiedene Gruppen, katholische und ökumenische, interreligiöse und säkular erweiterte. Zu ihnen gehören Erwägungen und Gespräche, Meditation und Tanz, die Begegnung von Frauen und Männern, Schwulen und Lesben in eigenen Gruppen. Ihre Qualität bemisst sich nicht mehr an traditionellen Formeln des Glaubens, sondern an der Art, wie sie die großen Fragen des Menschseins, menschlicher Hoffnung und menschlicher Grenzen begehen und erleben. Wir tun dies inzwischen ohne schlechtes Gewissen, denn wir haben aus unseren eigenen Ursprüngen gelernt.
Gewiss, christlicher Gottesdienst lebte immer aus der Erinnerung an Jesu Leben und Tod. Es ging darum, das Leben in seinem Namen zu teilen. Aber dazu gehörten schon immer die Schöpfung und die Welt der Zeitgenossen. Offensichtlich spielte der Opfergedanke in der Urkirche noch keine Rolle, vielmehr herrschte ein weltoffener Horizont. In der Didaché heißt es: „Wie dieses Korn zerstreut war auf den Bergen und zusammengebracht ein Brot geworden ist, so soll deine Kirche zusammengebracht werden von den Enden der Erde in dein Reich!“ Und kein geringerer als der Evangelist Johannes ersetzt den klassischen, für die spätere Tradition so wichtigen Einsetzungsbericht durch die Fußwaschung: „Er goss Wasser in eine Schüssel und begann, den Jüngern die Füße zu waschen.“ (Joh 13,5) Dann sagte er: „Der Sklave ist nicht größer als sein Herr, und der Abgesandte ist nicht größer als der, der ihn gesandt hat.“ (Joh 13,16) Eine weltoffene Dienstbereitschaft steht also zur Debatte und die Demut der „Abgesandten“ gehört wesentlich zu ihr. Ansonsten sind im Umbruch einer Epoche Freiheit und schöpferische Phantasie gefragt. Dass Rom neuerdings alle liturgischen Texte aus aller Welt kontrolliert und korrigiert, hat mit dem christlichen Freiheitsgeist nur wenig zu tun. Warum also regen wir uns auf?
Wir können neue Gottesdienste feiern, liebe Freunde. Natürlich gehört zu ihnen auch die Feier der Eucharistie mit ihrem Gedächtnis von Tod und Auferstehung, aber auch sie lernten wir in den vergangenen Jahrzehnten neu zu verstehen. Unmerklich und schon lange haben wir sogar Abstand genommen von vielen Elementen der liturgischen Bewegung, die durch Lambert Beauduin (1873–1960) und andere in den Niederlanden bekannt wurde. Dazu gehörten die Begeisterung für eine genau geregelte, oft umständlich und mönchisch geformte Liturgie, die Stabilisierung eines mittelalterlichen Ordnungsmodells und vor allem die Hervorhebung des Vorstehers, sei es ein Priester oder ein Bischof, der über der Gemeinde thronte. Das Ideal der „tätigen Partizipation“ wurde noch einseitig als ein Mitmachen verstanden und der Priester erschien als Repräsentant Jesu Christi selbst, in dessen Namen er handelte. Ildefons Herwegen, Abt von Maria Laach, sprach noch in den dreißiger Jahren vom „Führerprinzip“.
Welch ein Kontrast in Stimmung und Erwartungen zum Dokument „Kerk en Ambt“ von 2007, das durch seine nüchterne Schilderung der Situation allen Triumphalismus vom Tisch fegt. Die Notsituation vieler Gemeinden schreit zum Himmel und das theologische Bewusstsein hat sich verändert: Keine magische Substanzveränderung wird gefeiert, sondern das Teilen des Lebens, keine Verwandlung von Lebensmitteln, sondern die Konversion unseres Lebens im Namen Jesu steht in Frage. Wir feiern kein kompliziertes Opferritual, sondern Gottes Lebensgaben und unsere Lebenshingabe.
Das dominikanische Grundsatzpapier präsentiert den Verzicht auf einen bischöflich ordinierten Amtsträger für den Notfall, aber zugleich als unvermeidliche und unproblematische Antwort auf das Fehlverhalten der Kirchenleitungen. Dafür hat es gute Gründe genannt. Aber zugleich hat es auch seit Jahrhunderten verzerrte Verhältnisse zurechtgerückt. Denn die Wiege der Eucharistiefeier ist und bleibt die Gemeinde und kein ordiniertes Ämtergremium. Primär lebt diese Feier aus dem in der Gemeinschaft ausgegossenen Geist, nicht aus der Vollmacht eines isolierten, magisch präparierten und zudem von außen importierten Vorstehers. Nach Paulus ist nicht die konsekrierte Oblate, sondern die Gemeinde Christi Leib. Seitdem man sie im 2. Jahrtausend „mystisch“ nannte, wertete man sie ab. Wenn eine Gemeinschaft also im Namen Christi zusammen kommt, ist Jesus mitten unter ihnen. Er verwirklicht sich in ihrem Zusammensein; er bietet sich ihnen in der Erinnerung, in der Nachfolge und in der Hoffnung an. Wer deshalb, von der Gemeinschaft der Getauften dazu bestimmt, die Gemeinde handlungsfähig macht und ihr seine Stimme verleiht, steht, unabhängig von Geschlecht, Lebensstand und anderen Qualifikationen, im Namen Christi in ihrer Mitte.
Wir können also unsere Gottesdienste feiern und man sollte dem aktuellen, durch die Kirchen¬leitungen verursachten Priestermangel eigentlich dankbar sein, dass er unseren Blick wieder auf diese ursprüngliche und elementare Wahrheit lenkt. Diese Wahrheit und die Praxis dieses neu verstandenen Gemeindedienstes entlarvt ein lange gewachsenes, für lange Zeit vielleicht ein lebenswichtiges Tabu. Aber in Zeiten kulturellen Umbruchs sind auch Tabubrüche unvermeidlich, weil sie uns zu elementaren Erkenntnissen zwingen. Dieser Tabubruch bietet vielen Gemeinden ein neues Leben an.
Ich schlage vor, dass priesterlose Gemeinden und dass Gemeinden, denen diese Wahrheit aufgegangen ist, miteinander Kontakt suchen und sich über die Gestaltung ihrer Eucharistiefeiern austauschen. Eucharistie muss nicht die großkirchlich feierliche Kultveranstaltung sein, die in der Spätantike ihre Grundgestalt erhielt, also in der Zeit der bischöflichkathedralen Großkirche und unter dem Regime von imperial auftretenden Kirchenherrn. Ich urteile darüber nicht und ich schätze die Aufgabe der Bischöfe, für die Einheit der Kirchen Sorge zu tragen. Aber wenn man schon urchristlich argumentiert, dann kann Eucharistie überall dort geschehen, wo Christinnen und Christen – wie es in der Didaché heißt – zusammenkommen: so, wie das zerstreute Korn zu einem Brot wird. Diese Zusammenkunft, diese Gemeinschaft vor Ort ist der Kern, aus dem diese zentrale Feier lebt. Sie, und nicht ein ganzes Bistum, ist die Ortskirche, die das 2. Vatikanische Konzil meint.