„Eine neue Lektüre des Evangeliums“

23.09.2013, Hermann Häring

Einige Bemerkungen zum Interview von Papst Franziskus

Eine doppelte Reaktion
Gestern, am 22. September 2013, erhielt ich zwei Reaktionen auf das aufsehenerregende Interview von Papst Franziskus, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Pastoraltheologe Rainer Bucher, Fachmann in Fragen kirchlicher Erneuerung in einer hochdynamischen Gesellschaft, entdeckt als Schlüsselsatz die Bemerkung: „Das Zweite Vatikanum war eine neue Lektüre des Evangeliums im Licht der zeitgenössischen Kultur.“ Bucher versteht diesen Satz als vorbehaltlose Zustimmung zu diesem historischen Ereignis, das die Kirche 50 Jahre lang in Befürworter und Kritiker spaltete. Für Bucher ist damit allen bisherigen Zweifeln ein Ende gesetzt. Norbert Lüdecke hingegen versteht die ganze Aufregung um diesen päpstlichen Text nicht, denn die klassischen theologischen Grundlagen der römisch-katholischen Kirche seien in keiner Weise verändert. Und natürlich schwingt bei Lüdecke der Tenor mit: Vergesst es, diese Kirche werdet ihr niemals ändern, denn ihre Grundlagen sind nicht reformierbar. Genau das ist ja der springende Punkt der Unfehlbarkeitsdefinition von 1870, die bislang noch kein Kirchenfürst in Zweifel gezogen hat.

Ich muss gestehen, dass ich beide Positionen in mir trage und zuerst zwischen beiden schwankte. Einerseits bin ich von diesem neuen Ton, dieser neuen Zuwendung zu den Menschen und von dieser weltnahen Spiritualität begeistert, die Gottes Gegenwart bei den Menschen sucht. Andererseits nennt der Papst u.a. den zuletzt erzkonservativen Henri de Lubac als einen seiner Inspiratoren. Wie in feudalen Zeiten spricht Franziskus noch von der Kirche als einer Mutter, die wir alle lieben sollen. Was sollen wir von einem solchen Zwiespalt halten? Er nennt die Kirche ein „Feldlazarett“, so als könne nur sie die Wunden der Welt heilen. Schließlich hat Papst Franziskus auch in seiner ersten Enzyklika unbesehen große Teile seines Vorgängers übernommen, die nicht unbedingt den Geist des Konzils atmen. Hat er nicht bemerkt, dass seine weltoffenen Zufügungen damit in Spannung stehen?

Bucher spricht vom Vorrang der Praxis vor der Orthodoxie. Hans Küng hat sich in seinem Artikel in „La Repubblica“ im selben Sinn geäußert. So steht die Bewährungsprobe dieses Reformpapstes noch bevor: Wie wird der Papst – in konsequenter Fortsetzung seiner Theologie des Volkes - mit den geschiedenen Wiederverheirateten umgehen? Wie mit den Frauen und mit dem Zölibat? Wie mit Fragen der Sexualität? Dabei ist doch die neue Zuwendung zu den Menschen, über die wir so begeistert sind, für unsere Erwartungen nichts Neues; sie gehört einfach zum Standard dessen, was wir von einer zeitgemäßen Kirche erwarten. Auch will ich die augenblicklichen Äußerungen des Papstes nicht naiv nennen; im Gegenteil, er spricht aus einer reichen pastoralen Erfahrung. Aber in manchen seiner Äußerungen wirkt er, als hätte er die großen Enttäuschungen nicht mitgemacht, die wir in den vergangenen Jahrzehnten erlebten, als Rom das Konzil Stück um Stück in Zweifel zog und dessen Ergebnisse zu scheitern drohten. Vielleicht traten diese Enttäuschungen im säkularisierten Westeuropa weitgehend stärker in Erscheinung als in lateinamerikanischen Ländern, die mit ganz anderen Problemen beschäftigt sind. Der Sache nach lassen sie sich aber nicht leugnen. So haben die verschiedenen Kontinente miteinander zu reden.

Christ sein in vier Dimensionen

Meine Rückfragen richten sich nicht so sehr an Papst Franziskus und sein Programm an sich. Aber ich frage mich, ob und wie er seinen pastoralen Absichten und Intentionen, wie er seiner Befreiungstheologie Nachdruck und Stabilität verleihen will. Es darf nicht erneut passieren, was nach dem Konzil passierte, dass wir uns gegenseitig kontrollieren, einander unsere Kirchlichkeit und den wahren Glauben absprechen. Dieser neue Schub, den jetzt die ganze Weltkirche spürt, darf nicht erneut durch destruktive Kräfte ausgebremst werden.

Mit diesem Problem kann ich besser umgehen, seitdem sich mein Bild von dem einen, alles integrierenden Kirchenorganismus aufgelöst hat. Mir wurde irgendwann klar: Auch die römisch-katholische Kirche ist nicht einfach ein monolithischer Block. Schon immer lebten Kirchen (und Religionen) aus mindestens vier höchst dynamischen, aber unterschiedlichen Dimensionen. Das ist eine [1] spirituelle Grund-, Gottes- oder Grenzerfahrung, [2] eine Gemeinschaft, die diese Erfahrung gemeinsam feiert, bespricht und begeht, [3] die Ausbildung von Institutionen, die diesen Erfahrungen Beständigkeit verleiht, und schließlich [4] eine Lehre mit Interpretationen, Grenzziehungen und grundsätzlichen Orientierungen. Wir erleben auch in der römisch-katholischen Kirche, dass sich diese vier Dimensionen in wachsendem Maße verselbständigen, bisweilen auseinanderfallen und in außerkirchliche Bewegungen integrieren. Je mehr sich unsere Weltkultur und die Kultur eines jeden Landes differenziert, umso intensiver entwickelt eine jede der vier Dimensionen mit ihren eigenen Impulsen eine unterschiedliche Dynamik, die sich nicht mehr autoritär in eine Einheit zwingen lässt. Wem diese Grundstruktur einmal deutlich geworden ist, kann mit den wachsenden Polarisierungen und oft chaotischen Zuständen der Kirche besser umgehen; sie gehören einfach dazu. Vielleicht muss man in der Chaostheorie bewandert sein, um deren Zusammenwirken besser zu verstehen. Auch lässt sich aus dieser Perspektive besser verstehen, dass und warum das Konzil die späteren, oft chaotischen Zustände ausgelöst hat, statt eine harmonische Entwicklung anzustoßen, und warum die katholische Kirche dennoch nicht auseinandergebrochen ist.

Doch es herrscht Nachholbedarf, weil auch das Konzil schon diesen komplizierten Differenzierungsprozessen unterlegen ist. So hat das Konzil - trotz der Offenbarungskonstitution - über [1] die geistlichen Grundlagen des christlichen Glaubens, über dessen Grenz-, Gottes- und Tiefenerfahrungen nicht intensiv genug nachgedacht. Dadurch gerieten die Reformgedanken des Konzils eher zu einem Projekt, das sich menschlichen Leistungen verdankt (Strukturen verändert und über das wir per Beschlussfassung verfügen können), als zu einem Prozess der geistlichen Erinnerung und Bewusstwerdung. Dagegen stand mit der Losung vom [2] Gottesvolk (Kirchenkonstitution, Kap. 2) der Gedanke der Gemeinschaft, also der Kirche selbst, stark im Mittelpunkt. Er löste eine heilsame Dynamik aus, die bis heute noch nicht ausgeschöpft ist. Doch in ihrem einseitigen Herrschaftswillen hatten sich die [3] offiziellen Institutionen dieser neuen Dynamik nie gestellt und sich schon lange von ihr abgetrennt. Man hätte das dritte Kapitel der Kirchenkonstitution „Über die hierarchische Verfassung der Kirche“ auch achtzig Jahre früher schreiben und per Knopfdruck in den Gesamttext einfügen können. In dieser inneren Beziehungslosigkeit von Gemeinschafts- und Amtsdimension liegt – bei aller Hochachtung - wohl die Ursünde des 2. Vatikanischen Konzils. Die beiden wurden nicht aufeinander bezogen und offensichtlich hatte das Konzil nicht die Kraft zu wirklich fruchtbaren Kompromissen. Schließlich blieben [4] Theologie und kirchliche Lehre vom konziliaren Gesamtprozess praktisch unberührt. Sie galten letztlich als überzeitlich, als eine Art übernatürlicher Metaphysik, der spirituellen Tiefen- und der neuen Gemeinschaftserfahrung weit überlegen. Zudem wurden - und werden bis heute - Theologie und Lehre zur Stabilisierung der innerkirchlichen Ordnung missbraucht.

Trotz mancher zukunftsweisender Ansätze hat diese Aufspaltung von [1] Spiritualität, [2] Gemeinschaft, [3] offizieller Amtsstruktur und [4] kirchlicher Lehre die späteren Irritationen ermöglicht und verschärft. Wer sich aufs Konzil einlässt, kann diesem Problem und seinen späteren Auswirkungen nicht ausweichen, denn die Konzilstexte selbst bieten keinen fertigen Entwurf, der deren spätere Auslegung eindeutig festlegt. Deshalb ist die Frage wichtig, wie Papst Franziskus in seinem Interview damit umgeht. Vorläufig neige ich zu folgender Interpretation.

Stärken und Schwächen des Interviews

[1] Spiritualität:

Papst Franziskus lebt aus einer tiefen Spiritualität, die er auch nüchtern und bewusst zu formulieren weiß. In diesen Rahmen gehört die oben zitierte Aussage über das Konzil. Franziskus präsentiert es ohne jede Einschränkung als Interpretation der Schrift, stellt es zunächst also in einen spirituellen Rahmen und das ist gut so. Dabei ist die ignatianische Prägung dieser Spiritualität ebenso unverkennbar wie deren befreiungstheologische Erweiterung (die im Jesuitenorden schon lange zu Hause ist). Papst Franziskus denkt Kirche, Heil und Frohbotschaft immer schon in einem konkreten und zugleich in einem weltweiten Horizont, der die Grenzen der verfassten Kirche ständig überschreitet. Das ist für die europäischen Kirchen ein neuer Impuls. Er kann viele Verkrampfungen lösen, zu denen unser „theologischer Narzissmus“ führt und unter denen wir leiden. Es ist deshalb ungeheuer wichtig, dass wir uns diesen (für die meisten von uns) neuen Typ einer „weltnahen“, mit den Entrechteten solidarischen Spiritualität aneignen, ihn für unsere gesellschaftlichen Verhältnisse genauer ausarbeiten und - realisieren. „An die Grenzen gehen“ nennt das Papst Franziskus. Es geht also darum, die Nabelschau unserer innerkirchlichen Probleme zu relativieren. So lassen sie sich mit weniger Bitterkeit bearbeiten und überwinden. Gotteserfahrung lebt nicht in erster Linie aus einer gut funktionierenden Kirche, sondern aus einer vorbehaltlosen Menschenerfahrung.

[2] Gemeinschaft:

Offensichtlich lebt Papst Franziskus seinen Glauben und seine Überzeugungen in der Gemeinschaft von Mitmenschen und von dieser Gemeinschaft her. Er versucht, Gott in den Menschen und in deren Gemeinschaft zu finden, wie es einem jeden Jesuiten aufgetragen ist. Hier liegt wohl das Geheimnis seiner enormen Ausstrahlung und Faszination. Diese Kerndimension der katholischen Kirche hat vom ersten Tag seiner Amtsführung an das innerkirchliche Zusammenleben verändert. Ich erwarte in den kommenden Monaten noch eine unerwartet breite und vielfältige Dynamik, die wohl oft zu chaotischen Zuständen führen wird. Aber er sagte in seinem Interview ja selbst, dass Propheten „Krach machen“ dürfen. Zudem sind diese Impulse zutiefst biblisch und vom Geist der jesuanischen Botschaft geprägt. Es ist wichtig, dass die Gemeinden, Bistümer und geistlichen Gemeinschaften diesen Gemeinschaftsimpuls aufgreifen, selbst verwirklichen und nicht auf die Anregungen von oben warten. Reformen einer Gemeinschaft müssen aus der Gemeinschaft selbst kommen. Nur so können sie den Geist der Gemeinschaft als ihren eigenen Geist begreifen.

[3] Amt:

Hier schließt sich der erste innere Widerspruch an, den Papst Franziskus erkennen und lösen muss. Er agiert als Papst, versieht also ein Amt, das sich u.a. von einem absoluten Rechts- und Lehrprimat gegenüber der gesamten Kirche her definiert. Hätte man sich Franz von Assisi als prominenten Amtsträger vorstellen können? Besonders die aktuelle Definition des Papstamtes und seine Überordnung über die Gesamtkirche widersprechen diesem Geist der Gemeinschaft, den Franziskus doch prägt. Die Alternative einer charismatischen Kirchenstruktur im paulinischen Sinn ist aktueller denn je. Früher oder später muss dies zu Konflikten führen und man darf gespannt sein, wie er sie löst. Bis jetzt hat sich seine Erneuerung auf die Körpersprache, auf Symbole und auf ein bescheidenes Verhalten erstreckt. Auf die Dauer reicht das nicht aus. Die Kirche kann sich nur fruchtbar weiterentwickeln, wenn die Ämterstruktur der Kirche die Glaubensgemeinschaft nicht mehr als Pyramide überragt, sondern als Teil ihres Gemeinschaftslebens spiegelt. Die hochautoritäre Überinstitutionalisierung der katholischen Kirche muss im Sinn des neuen Gemeinschaftsgedankens aufgelöst werden.

[4] Lehre:

Ein zweiter Widerspruch schließt sich an. Papst Franziskus gilt als konservativer Theologe nicht im aggressiven oder verängstigten, sondern in seinem sehr liberalen und offenen Sinn dieses Wortes. Er ruft dazu auf, Grenzen auszutesten, Risiken einzugehen, sich die Hände notfalls schmutzig zu machen. So hält er sich nicht etwa bei der moralischen Bewertung einer Handlung auf, sondern erspürt die Nöte der Handelnden. „Es darf keine spirituelle Einmischung in das persönliche Leben geben.“ Dieses Wort definiert den pastoralen Umgang mit Personen in einem durchaus modernen und zutiefst christlichen Sinne neu.

Umso auffallender ist es, dass Franziskus die klassische Lehre und Theologie bislang in keiner Weise zu ändern gedenkt. Mag sein, dass in Lateinamerika der beißende Widerspruch beider zur Alltagswirklichkeit nie so zu Tage trat oder dass man ihn – von den Sorgen des Alltags bedrängt - nie so deutlich wahrnahm wie in Westeuropa. Aber auf der Ebene der Weltkirche lässt sich diese Diskrepanz auf Dauer nicht verdecken. So ist ein anderer Umgang mit Homosexuellen nicht nur deshalb gefordert, weil wir ihnen als geliebten Mitmenschen Respekt schulden, sondern auch deshalb, weil die traditionelle theologische Beurteilung von Sexualität und Homosexualität einfach nicht in Ordnung ist. Wir können nicht glaubwürdig von der Würde der Frau reden, wenn wir ihnen (entgegen der biblischen Auskunft) die kirchlichen Ämter vorenthalten. Die kirchliche Lehre von der Ordination lässt sich nicht mehr verteidigen, weil sie elementaren Grundimpulsen der jesuanischen Botschaft widerspricht. Vor allem lässt sich die Unfehlbarkeitsdefinition nie und nimmer aufrechterhalten, wenn wir die Schrift endlich ernst nehmen und mit den Menschen unserer Zeit gehen wollen. 500 Jahre nach Martin Luther müssten wir das allmählich verstanden haben. Die neuscholastische und antimodernistische Form römisch-katholischer Theologie ist mit den Amtsstrukturen eine unselige gemeinschaftsfeindliche Symbiose eingegangen, die der christlichen Botschaft nur schaden kann. Es gilt, sie endlich aufzubrechen.

Konflikte sind also vorauszusehen und es ist Aufgabe einer mündig agierenden Theologie, beizeiten auf sie aufmerksam zu machen. Es ist nämlich ungeheuer wichtig, dass die neue Menschenfreundlichkeit dieses Papstes und seines Regimes, dass sein neues Aggiornamento möglichst frühzeitig auch theologisch abgesichert wird, denn ein zweiter Rückschlag, wie wir ihn in den vergangenen Jahrzehnten erlebten, wäre unerträglich.

Da sich die genannten vier Dimensionen aber nicht wie statische Blöcke gegenübertreten, sondern immer allgegenwärtig sind und miteinander in einem dynamischen Austausch stehen, können wir die jetzt anstehende Erneuerung von Spiritualität, weltbezogener Gemeinschaft, Amt und Lehre schrittweise angehen. Nach wie vor aber macht sie die Kooperation aller kirchlichen Kräfte erforderlich. Wenn auch nur eine Dimension aus der gegenseitigen Interaktion herausfällt, leidet das Gesamtgefüge Schaden, auf das wir alle angewiesen sind. Deshalb haben wir alle dafür zu sorgen, dass die vier Dimensionen der christlichen Glaubenspraxis in gegenseitiger Beziehung bleiben. Seinem kulturellen Kontext gemäß nennt Franziskus diese lebendige Einheit „Mutter Kirche“. Wir ziehen die Redeweise von der Nachfolge Jesu, vom Volk Gottes, von der Gemeinde oder einer weltweiten Glaubensgemeinschaft vor, die an den eigenen Konfessionsgrenzen keinen Halt macht und alle Menschen guten Willens einbezieht. Das ist schließlich mit unserer großen biblisch-jesuanischen Vision vom Reich Gottes gemeint.

Fragen zum Schluss:

Kann die päpstliche Aussage zum 2. Vatikanischen Konzil, von der oben die Rede war, die bisherigen Konflikte über dieses historische Ereignis überwinden? Ich habe meine Zweifel, weil die Konzilstexte in sich selbst disparat, voller Spannungen und unausgegorener Kompromisse sind. Wir müssen uns endlich darauf verständigen, dass wir - ohne Vorbehalte und ungeachtet irreführender Traditionen - auf die Schrift selbst zurückzugreifen. Dennoch verdient die Aussage des Papstes Zustimmung, weil sie die erneuernden Intentionen des Konzils massiv unterstützt. Unter dieser Voraussetzung darf es dann Widersprüche geben, denn für eine so komplexe Größe wie die Kirche sind die Spannungen zwischen verschiedenen Dimensionen kein Zeichen der Krise, sondern ein Zeichen des Lebens. So gesehen deuten die aktuellen Polarisierungen nicht auf ein Versagen, sondern auf einen Erfolg des Konzils. Sie sind nur offen und ohne autoritäre Unterdrückung auszutragen.

Hat umgekehrt der Kritiker recht, der behauptet, an der Stellung von z. B. Homosexuellen oder Frauen würden solche Äußerungen nichts ändern? Auch dieser Kritik kann ich nicht zustimmen. Natürlich ändert sich die Stellung der Genannten schon dadurch enorm, dass sie in der innerkirchlichen Öffentlichkeit ernstgenommen und angenommen werden, dass also niemandem mehr das Recht zugestaden wird, die „Spiritualität“ anderer Menschen, wie der Papst sagt, zu „beeinflussen“. Zuzugeben bleibt allerdings: Dieser Prozess ist nicht schon dadurch zum Ziel gekommen, dass man ihn programmatisch verkündet; damit steht er erst am Anfang. Der absolute Wahrheitsanspruch der kirchlichen Lehre muss mühsam aufgebrochen, mit unserer Wirklichkeit konfrontiert und der immer visionären, konkreten und erzählenden Botschaft Jesu unterworfen werden. Es gilt, dicke Bretter zu bohren und die Ergebnisse ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Wenn dieser Bewusstseinsprozess einmal in Gang gekommen ist, lässt sich schließlich auch die Unfehlbarkeitsideologie nicht mehr halten; davon bin ich überzeugt.

Deshalb muss jetzt schon deutlich gesagt werden, dass ein Mann wie Bischof Gerhard L. Müller mit seiner autoritären, biblisch nicht begründbaren Lehramtsideologie an der Spitze der Glaubenskongregation untragbar und unhaltbar ist. Ich kann nicht sehen, wie er antreten soll, um im Sinne von Papst Franziskus „Wunden zu heilen“. Am besten wäre es, zusammen mit seiner Absetzung diese unselige Behörde abzuschaffen, weil sie schon definitionsgemäß die Inspirationen religiöser Gotteserfahrung, kirchlicher Gemeinschaftserfahrung und einer charismatischen Kirchenstruktur blockiert. Der Stuhl, auf dem schon Galilei saß und auf dem Leonardo Boff nach eigenem Bekunden noch sitzen musste, könnte dann in ein Museum zur Analyse des inquisitorischen Geistes verbannt werden. Die Hoffnung, dass dieser Geist überwunden wird, ist mit Papst Franziskus gegeben. Die langfristige Absicherung vor neuen Rückfällen ist den Theologinnen und Theologen aufgegeben, die um ihre Verantwortung wissen und diese Ermutigung in dieser Phase des Neuaufbruchs nutzen sollten.