06.06.2014, Wolfgang Bergmann
Papst Franziskus ist ein Beweger. Das absolutistische Machtsystem im Vatikan destabilisiert sich zusehends. In der Frauenfrage wird die Reform weiter führen, als der Papst selbst will. Mit einem unbeabsichtigten Pfingstwunder darf gerechnet werden.
Die Indizien mehren sich, dass mit Papst Franziskus nicht nur ungewohnt neue, weil schlichte und freundliche Umgangsformen in Rom den Ton angeben. Eine Art Glasnost und Perestroika als "Revolution von oben" könnte in Kombination mit den schon lange bestehenden "Reformbewegungen von unten" die römisch-katholische Kirche nachhaltig verändern.
Die Gegensätze zu seinem Vorgänger sind schroff: Franziskus verurteilt wörtlich einen Narzissmus der Amtsträger. Genau jenen hat Benedikt XVI. bis in die Spitzen seiner bisweilen edelsteinbesetzten Mitren und seiner handgefertigten roten Schuhe anschaulich verkörpert. Franziskus ist ein Denker, der auch in der Hermeneutik der Diskontinuität eine fruchtbare Entwicklung sieht. Benedikt hat ängstlich und eng die Kontinuität verteidigt.
Theologischer Dreh
Besonders sichtbar wird dies im Sakramentsverständnis: Franziskus sieht in der Eucharistie "nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen". Mit diesem theologischen Dreh wird vermutlich in absehbarer Zeit die Kommunion für geschiedene Wiederverheiratete zugelassen. Benedikt hat dies bis zuletzt ausgeschlossen und in seiner ersten Predigt als Papst noch zwänglerisch die Feier der Eucharistie "in ihrer Korrektheit" verlangt.
Was der argentinische Papst bewusst oder unbewusst in Bewegung setzt, ist durchaus mit jener Revolution vergleichbarer, die einst Michail Gorbatschow eingeleitet hat. Beide sind sich in der Diagnose einig, dass ihre Institutionen im Innersten morsch geworden sind. Michail Gorbatschow nannte es den Bremsmechanismus.
Erste Auswirkungen der Glasnost sind schon sichtbar: Es ist völlig neu in unserer modernen Massengesellschaft, dass sich der Chef der Glaubenskongregation öffentlich äußert und wenig später ein anderer Kardinal - ebenso öffentlich - widerspricht.
Der Papst selbst betreibt eine Politik der Nadelstiche gegen die Kurie, wenn er vor lateinamerikanischen Ordensleuten erklärt, sie sollen sich nicht durch Briefe der Glaubenskongregation von ihrem Weg abbringen lassen. Bischof Erwin Kräutler lud er ein, Vorschläge für die Möglichkeit verheirateter Priester vorzulegen.
Mit seinem Entschluss, die Vorbereitungsfragen für die nächste Bischofssynode einfach ins weltweite Netz zu stellen und alle Interessierten zur Stellungnahme einzuladen, zeigt Franziskus eine Diskussionsbereitschaft, die von den römischen Instanzen bisher vermieden wurde.
Hier steht freilich der Wille für das Werk. Niemand wird in der Lage sein, die Fragebögen, die noch dazu offen formulierte Antworten erlaubten, tatsächlich einer Auswertung zuzuführen. Die Schwäche des aktionistischen Vorganges: Jeder Versuch einer Zusammenfassung bringt methodisch unbrauchbare Ergebnisse. Aber Franziskus ist eben, wie er selbst betont, kein Organisator. Er ist ein Beweger. Und das, was in Bewegung kommt, ist die Destabilisierung eines absolutistischen Machtsystems. Sogar Hans Küng und Leonardo Boff schöpfen Hoffnung.
Öffnet die Archive!
Doch wird Bewegung allein genügen? Es darf nicht übersehen werden, was dieser neue Papst alles nicht in Angriff genommen hat: Er hat nicht die Heiligsprechung von Johannes Paul II. von der Tagesordnung genommen. Diese ist deshalb fatal, weil sie geeignet ist, die noch immer nötige Aufklärung des kirchlichen Missbrauchskandals niederzuhalten. Hier setzt Franziskus traurigerweise die Politik des Aussitzens von Benedikt XVI. fort. Die Mitverantwortung des Vatikans und der Päpste bleibt bis auf weiteres ungeklärt. Dabei gilt hier das, was einst Kardinal Bergoglio noch im Hinblick auf die Rolle von Pius XII. in der Zeit des Faschismus vorgeschlagen hat: Öffnet die Archive!
Franziskus hatte bisher auch nicht den Mut, mit der Vatikanbank (IOR) ein Ende zu machen. Wichtig dabei zu beachten: Das IOR ist ja nicht die Staatsbank des Vatikans, die sich um Währungsfragen kümmert, sondern de facto die Privatbank des Papstes. Und als solche entbehrlich.
Besonders traurig: Franziskus möchte in Sachen Frauenpriestertum eine Diskussion erst gar nicht aufkommen lassen. Er erklärte die Türe für geschlossen - solide Begründung gibt es keine. Ohne eine der gleichen Würde Rechnung tragende Änderung in der Frauenfrage wird die Kirche aber nicht glaubwürdig in der Neuzeit ankommen.
Aber: Revolutionen von oben gehen bisweilen viel weiter, als ihre Auslöser beabsichtigen. "Lassen Sie mich ganz offen sagen, dass all diese Erklärungen über die Wiederbelebung der deutschen Einheit weit entfernt sind von der sogenannten Realpolitik", erklärte beispielsweise der Reformer, Generalsekretär der KPdSU und letzte Staatspräsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow zur Frage der deutschen Wiedervereinigung. Das war 1987. Die Mauer fiel zwei Jahre später. 1990 war auch die Wiedervereinigung rechtlich vollzogen.
Die Heilige Geistin
Es ist daher zu erwarten, dass die Heilige Geistin die Reform der Kirche weiter voranschreiten lässt, als es sich Franziskus vorstellen kann. (Wolfgang Bergmann, DER STANDARD, 7.6.2014)
Wolfgang Bergmann (Jahrgang 1963) ist Magister der katholischen Theologie. Er war von 1988 bis 1996 Pressesprecher der Caritas, von 1996 bis 1999 Kommunikationsdirektor der Erzdiözese Wien und Gründungsgeschäftsführer von Radio Stephansdom. Seit 2000 ist er Geschäftsführer des Standard. 2010 erschien sein Romanerstling "Die kleinere Sünde" (Czernin-Verlag).