25 Jahre Kirchenvolks-Begehren – langer Atem weiter gefragt

 
von Martha Heizer und Christian Weisner

Aus Liebe zur Kirche und in Sorge um sie

25 Jahre Kirchenvolks-Begehren – langer Atem weiter gefragt

von Martha Heizer und Christian Weisner

„Das Beginnen wird nicht belohnt, einzig und allein das Durchhalten.“
Katharina von Siena (1347-1380)

Das im Jahr 1995 in Österreich gestartete Kirchenvolks-Begehren hat sich – anders als viele andere Unterschriftensammlungen – zu einer weltweiten innerkirchlichen Reformbewegung entwickelt. Die damals noch abgelehnten Forderungen werden mittlerweile von vielen auch in der Kirchenleitung mitgetragen und stehen auf der Agenda des Synodalen Weges in Deutschland. Martha Heizer (Österreich) und Christian Weisner (Deutschland) beschreiben den Transformationsprozess der vergangenen 25 Jahre aus der Innensicht.

So einen Skandal hatte es in der katholischen Weltkirche bis dahin noch nicht gegeben. Gegen den ranghöchsten Kardinal Österreichs, Hans Hermann Groër, erhob ein ehemaliger Schüler Anfang 1995 Vorwürfe sexuellen Missbrauchs, die dazu führten, dass Groer am Ende sein Amt als Erzbischof von Wien verlor. Aber auch das hatte es noch nicht gegeben: Der Skandal führte zu einem massiven Aufbegehren im Kirchenvolk.

Die fünf knappen Forderungen nach Geschwisterlichkeit, Frauengerechtigkeit, Aufhebung des Zölibatszwangs, positiver Sexualmoral und nach einem Ende kirchlicher Drohbotschaften[1] – formuliert als positive Antwort auf den Wiener Kirchenskandal und kontroverse Bischofsbestellungen in Österreich – gelten seitdem bei vielen als weltweiter Reformkanon für ein visionäres Kirchenbild. Das, was im Frühjahr 1995 in Innsbruck formuliert wurde, kann rückblickend durchaus als prophetisch bezeichnet werden. Denn es entspricht weithin dem, was die deutsche MHG-Missbrauchsstudie[2] als Risikofaktoren sexualisierter Gewalt und ihrer Vertuschung erkannte und was jetzt beim Synodalen Weg in Deutschland thematisiert wird.

Vom Skandal zum Begehren

Zehn Forderungen waren es zunächst, die der Innsbrucker Religionslehrer Thomas Plankensteiner in seinen Klassen als Antwort auf den Groër-Skandal zusammentragen ließ. Gemeinsam mit den Religionspädagoginnen Martha Heizer und Bernadette Wagnleithner wurde diese „Stimme der Jugend“ dann auf fünf Ziele und Forderungen gekürzt. Ohne Computer und Internet, ohne Handy, ohne Pressekontakte und ohne Geld baten die Drei, die auch sonst kirchlich engagiert waren, die Katholikinnen und Katholiken Österreichs um deren Unterschrift. 505.154 Unterschriften kamen in drei Wochen im Juni 1995 zusammen. Sie erlebten, was die Kirche Kairos nennt – sie hatten zur richtigen Zeit die richtige Idee und den starken Wunsch, zur Reform der Kirche beizutragen.

Als auch deutsche Zeitungen von der unerwartet hohen Zahl der Unterschriften in dem damals noch zutiefst katholischen Land berichteten, sprang der Funke nach Deutschland über. Hier waren es die Initiative Kirche von unten und die Leserinitiative Publik-Forum, vertreten durch Dieter Grohmann, Eva-Maria Kiklas und Christian Weisner, die im Herbst 1995 eine breite Debatte über Glaubens- und Kirchenfragen in Gang setzten, die auch auf dem zuvor veröffentlichten ZdK-Papier „Dialog statt Dialogverweigerung“ [3] aufbauen konnte. Ohne dass es damals einen vergleichbaren Skandal wie in Österreich gab, unterschrieben in Deutschland 1.845.141 Menschen, ein ähnlich hoher Anteil wie in Österreich, die fünf Forderungen des Kirchenvolks-Begehrens. Diese waren unverändert von Österreich übernommen und nur um eine Präambel zur Ökumene ergänzt worden. Der Anregung, auf die Forderung der Frauenweihe zu verzichten, um mehr Unterschriften zu erhalten, wurde nicht gefolgt. Damals und bis jetzt ist der Versuch von Papst Johannes Paul II., mit Ordinatio Sacerdotalis die Nichtzulassung von Frauen zum Priesteramt als unabänderliche kirchliche Lehre festzulegen, gescheitert, ja, hat diese Debatte sogar noch beflügelt.

Der Name Wir sind Kirche geht auf ein Wort von Papst Pius XII., der 1946 sagte, die Laien gehörten nicht zur Kirche, sie seien Kirche[4]. Die Volk-Gottes-Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils hat dies dann verstärkt. In dieser Tradition sehen wir uns. Gemeinsam mit Ordensleuten und Priestern geht es um eine geschwisterliche Kirche, in der die Kluft zwischen Klerus und Laien überwunden ist: Wir alle sind Kirche. Nach der dogmatischen Konzils-Konstitution LG 37 und Can. 212 § 3. haben die Gläubigen „das Recht und bisweilen sogar die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, den geistlichen Hirten (in angemessener Weise) mitzuteilen.“

Vom KirchenVolksBegehren zur KirchenVolksBewegung

Die Unterschriftensammlung in Südtirol baute eine Brücke nach Italien[5]. Anfang 1996 erhielten die Kirchenvolks-Begehren Österreich und Deutschland den Herbert Haag Preis für Freiheit in der Kirche. In Österreich formierte sich Wir sind Kirche als Plattform[6] mit förmlicher Mitgliedschaft, in Deutschland dagegen bewusst als „Bewegung“[7], um keine aufwändigen Verwaltungsstrukturen aufbauen zu müssen und Konkurrenzen zu den bestehenden Verbänden zu vermeiden, die in vielem die Ziele unterstützten. Ende 1996 gründete sich die internationale Bewegung Wir sind Kirche in Rom, die sich jetzt Wir sind Kirche International nennt. Über den deutschsprachigen Raum hinaus mit insgesamt fast 2,5 Millionen Unterschriften hat es zwar keine weiteren großen Unterschriftensammlungen gegeben. Aber mit Mitgliedsgruppen in mehr als 20 Ländern und in der Vernetzung mit anderen Reformgruppen weltweit hat Wir sind Kirche International seitdem alle Synoden in Rom begleitet und bei den Konklaven 2005 als auch 2013 die Stimme des Kirchenvolks weltweit zu Gehör gebracht hat.

Kann die Hierarchie einer weltweiten Glaubensgemeinschaft mit mehr als 1600 Jahren Herrschaftserfahrung seit der konstantinischen Wende allein mit Unterschriften und „von unten“ verändert werden? Reichen Appelle an die Kirchenleitung aus, grundlegende Veränderungsschritte einzuleiten? Gegen dieses Bollwerk erscheint jede Reformbewegung erfolglos, aber das Erste Testament kennt ja auch die Geschichte von David und Goliath.

Dazu braucht es den doppelten Blick: Auf die Hierarchie, um sie aufmerksam zu machen auf das, was nicht in Ordnung ist und was sie falsch macht, und auf das „Kirchenvolk“ mit der Frage, woran die Menschen durch die Kirche leiden. Schon während der Unterschriftensammlung wurde daraus der strategische Dreischritt entwickelt: Reformkräfte untereinander vernetzen, „normale“ Gemeinden und Gläubige erreichen und das Handeln der Hierarchie kritisch begleiten. Dies alles als langfristige Strategie der Bildung und Bewusstseinsveränderung in Richtung eines Kirchenbildes des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Geheimbriefe aus dem Vatikan

Doch die Widerstände seitens der Hierarchie waren von Anfang an erheblich. In Deutschland untersagten 16 von 27 deutschen Bistümern, Unterschriften für das Kirchenvolks-Begehren zu sammeln. In seinem 1996 erschienenen Buch „Salz der Erde“ äußerte sich Joseph Ratzinger kritisch zum KirchenVolksBegehren. Als Präfekt der Glaubenskongregation versuchte er mehrfach, mit Geheimbriefen gegen die KirchenVolksBewegung zu intervenieren. 1996 hieß es in einem Geheimbrief an alle deutschsprachigen Bischöfe, „die Entwicklung dieser Gruppen weiterhin aus der Nähe zu verfolgen und eventuell auch Vorkehrungen zu treffen, damit sich die Gläubigen – und besonders die Priester – nicht aktiv daran beteiligen.“ Im Vorfeld der Ökumenischen Versammlung 1997 in Graz wies er Österreichs Bischöfe an, „dass dieser Initiative, die von der katholischen Kirche nicht als legitim anerkannt ist, weder in der Organisation noch im Verlauf der Ökumenischen Versammlung irgendein Platz eingeräumt werden darf.“

Erst beim „Dialog für Österreich“ im Jahr 1997 hatte Ratzinger dann „keine grundsätzlichen Einwände“ mehr gegen eine „eventuelle, genau zu umschreibende Beteiligung der Gruppe ‚Wir sind Kirche‘. ... Allerdings müsste in diesem Fall öffentlich klargemacht werden, dass damit keine offizielle kirchliche Anerkennung der Gruppe verbunden ist.“[8] In der katastrophalen Lage der Kirche in Österreich sah sich der Vatikan gezwungen, der Beteiligung der KirchenVolksBewegung, mit der er früher jeglichen Dialog abgelehnt hatte, zuzustimmen. Doch ging es angesichts der Affäre Groer/Krenn und des damals bevorstehenden Papstbesuchs in Österreich vermutlich weniger um einen echten Dialog als um Abwiegelung, Besänftigung und Vertröstung. Dies zeigt auch die Tatsache, dass der „Dialog für Österreich“ sehr bald wieder abgebrochen wurde.

Wagnis Synodaler Weg in Deutschland

Ähnliche Erfahrungen gab es in Deutschland. Die Anfang des Jahrtausends in den USA offenbar werdenden Missbrauchsskandale wurden in Europa noch völlig ignoriert. Nach der Aufdeckung des jahrzehntelangen Missbrauchs am Berliner Canisius-Kolleg im Januar 2010 versuchten es die Bischöfe noch alleine mit einem von ihnen kontrollierten „Dialogprozess“, der aber sehr schnell zu einem unverbindlichen „Gesprächsprozess“ in den Jahren 2011 bis 2015 herabgestuft wurde und im Sande verlief. Erst die Veröffentlichung der erschütternden Ergebnisse der von den deutschen Bischöfen in Auftrag gegebenen MHG-Studie im Herbst 2018 sowie die Proteste vor allem der Frauen bei der Bischofskonferenz im Frühjahr 2019 in Lingen führten die Bischöfe zur Einsicht, dass sie auf die Zusammenarbeit mit dem Kirchenvolk, in diesem Fall dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) und mit externen Expertinnen und Experten angewiesen sind.

Dass jetzt der Synodale Weg genau die „Reizthemen“ Macht, Zölibat, Sexualmoral und Frauenämter des Kirchenvolks-Begehrens, die teilweise schon seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der Diskussion sind, in offener Debatte behandelt, sehen wir als Erfolg auch unserer Bemühungen. Inzwischen bewertet auch ein Großteil der deutschen Bischöfe unsere damaligen Forderungen anders. Doch weder beim „Gesprächsprozess“ noch beim Synodalen Weg ist die deutsche KirchenVolksBewegung mit einbezogen worden.

Schrittmacher aber auch Stachel im Fleisch

Seit Anfang an versteht sich Wir sind Kirche als Reformbewegung innerhalb der Kirche. Bei allem Verständnis für diejenigen, die es in dieser Kirche nicht mehr aushalten – allein durch Auszug lässt sich diese Kirche nicht verändern. Unsere entscheidende Aufgabe sehen wir darin, Christinnen und Christen in ihrer Selbstverantwortung zu stärken und zu ermutigen, Kirche zu sein und zu gestalten – so wie es der Name sagt. Es geht um die Befähigung, dem eigenen Gewissen furchtlos zu folgen und zu tun „was der Geist der Gemeinden sagt“ (Offb 2, 11). Unsere Spiritualität speist sich aus dem Bewusstsein, durch die Taufe in die Gemeinschaft des Volkes Gottes aufgenommen und Töchter und Söhne Gottes zu sein, denen das Wort gilt: „Gott hat euch zur Freiheit berufen“ (Gal 5,13).

Mit viel Zustimmung von der Kirchenbasis wie auch von der wissenschaftlichen Theologie wird Wir sind Kirche als Schrittmacher für die Kirche gesehen. Die Zeit des blinden Gehorsams, die Zeit der Schafe ist vorbei, es wird nicht länger auf Genehmigungen von oben gewartet. Ein ungerechtes Gesetz ist kein Gesetz, es verpflichtet niemanden, sagt Augustinus. Die Zeit der „Freiheit der Christenmenschen“ (Paulus) hat begonnen. Statt vergeblicher Dialogversuche und Anrennen gegen amtskirchliche Mauern bemühen wir uns als mündiger Teil des Kirchenvolks in der Nachfolge Jesu das Richtige zu tun[9]. So feiern Männer und Frauen die Eucharistie ohne Priester (nicht alle machen das öffentlich und nehmen die Exkommunikation, eine mittelalterliche, inzwischen völlig folgenlose „Beugestrafe“, in Kauf), Frauen halten Predigten, Gemeindemitglieder nehmen Priester auf, die mit ihren Frauen und Kindern leben, Homosexuelle werden von Priestern gesegnet, Seelsorgende nehmen die Krankensalbung vor, Glieder der evangelischen Kirche werden offiziell zur Eucharistie eingeladen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Mit den fünf „Herdenbriefen“ in Österreich[10], der Schwangerschaftskonfliktberatung „Frauenwürde e.V.“[11] und dem langjährigen Nottelefon für Betroffene sexualisierter Gewalt[12] in Deutschland sowie mit innovativen pastoralen Angeboten von den „Sonntagsbriefen“ bis zu Pilger-Rad-Touren haben wir auch sehr konkrete Hilfe leisten können.

Durch Stellungnahmen und Publikationen versteht sich Wir sind Kirche als „Stimme des Kirchenvolkes“, wird aber auch als „Stachel im Fleisch der verfassten Kirche“ wahrgenommen. „Jede große Organisation braucht eine loyale Opposition!“, ein Wort, das dem früherem Krakauer Erzbischof Karol Wojtyła zugeschrieben wird. Internationale religiöse Studien und auch die von Papst Franziskus einberufenen Synoden in Rom zeigen, dass die Reformbestrebungen in vielen Teilen der Welt in die gleiche Richtung zielen. Wir freuen uns, dass neuere Initiativen wie der Eckige Tisch und andere Betroffenen-Organisationen sexualisierter Gewalt, die Initiative Maria 2.0 oder Ordensfrauen für Menschenwürde auf die langjährige Vorarbeit von Wir sind Kirche aufbauen können.

Wende in Rom

Die Mauern des Vatikans waren lange undurchdringlich für alle unsere Bemühungen. Doch den Skandal klerikaler Gewalt gegen Kinder, Jugendliche, Frauen und sogar Ordensfrauen gibt es weltweit. Die ganze römisch-katholische Weltkirche befindet sich in einer existenziellen Krise, die zwar vom Missbrauchsskandal nicht ausgelöst ist, darin aber ihren Brennpunkt findet. Der Skandal, der den Anstoß zum Kirchenvolks-Begehren gab, ist von Papst Johannes Paul II. bis zum Schluss geleugnet worden. Joseph Ratzinger, sein späterer Nachfolger, hat als Glaubenspräfekt noch im Jahr 2001 Verbrechen dieser Art unter das päpstliche Geheimnis gestellt. Der von Papst Benedikt XVI. als Glaubenspräfekt eingesetzte Kardinal Gerhard Müller leugnet bis heute die systemischen Ursachen geistlicher und sexualisierter Gewalt. Erst nach dem Rücktritt von Papst Benedikt XVI. und der Wahl von Papst Franziskus im Frühjahr 2013 verstärkten sich die Bemühungen an der Kirchenspitze. Aber dass die sexualisierte und geistliche Gewalt so weit verbreitet war und immer noch von Teilen der Machtstrukturen unserer Kirche gedeckt wird, das haben wir alle nicht geahnt. Immer noch ist es mühsam, diesen offensichtlichen Skandal anzugehen, dessen Ursachen offenzulegen und mit der Aufarbeitung zu beginnen.

Von Anfang an haben Papst Franziskus und sein Umfeld die Bedeutung des Kirchenvolkes betont. Die „Laien“, wir sprechen lieber von Kirchenvolk, seien die Protagonisten der Kirche und der Welt. Die kirchliche Hierarchie sei dazu berufen, ihnen zu dienen, und nicht, sich ihrer zu bedienen. Hier zeigt sich ein vollkommen anderes Kirchenbild als das monarchische und streng hierarchische der Tradition: ein Kirchenbild, das endlich der Communio-Theologie des Konzils entspricht.

Mit der entscheidenden Aussage, „dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen“, gab Papst Franziskus der Kirche die Freiheiten des Dialogs und der Entwicklung der Lehre zurück, die seine Vorgängerpäpste über die Maßen beschnitten hatten. Papst Franziskus nimmt aber bewusst noch keine offensichtlichen Korrekturen der Dogmatik vor, was die Geduld auch mancher in den Reformbewegungen auf eine harte Probe stellt.

Veränderungsprozesse sind mühsam, beanspruchen Zeit, erzeugen Widerstand. Kann es den vorkonziliaren Seilschaften vor und hinter den Kulissen noch gelingen, den Reformzug wieder zu stoppen? Die Unterstützung des Kirchenvolkes in dieser Wendezeit[13] hatte Papst Franziskus von Anfang an. Doch ist auch vor zu viel Papst-Euphorie zu warnen. Franziskus’ Vorbild und sein „spiritueller Leitungsstil“ alleine werden nicht ausreichen, die verkrusteten Strukturen aufzubrechen. Deshalb ist eine kritisch-loyale Begleitung der Kirchenleitung auch weiter unabdingbar. Allein kann auch ein Papst wie Franziskus die geistliche und strukturelle Erneuerung nicht schaffen. Er braucht auf seinem Reformkurs unbedingt die Unterstützung nicht nur von Reformgruppen, sondern vor allem von Bischöfen und Priestern.

Der „Aufruf zum Ungehorsam“ der österreichischen Pfarrer-Initiative[14] und deren weltweite Vernetzung[15] wie auch das Memorandem „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“[16] der über 300 deutschsprachigen Theologieprofessorinnen und -professoren zeigen deutlich zeigen, dass auch immer mehr Kleriker und Fachleute Reformen fordern. Der Priestermangel und der damit einhergehende aktuelle Zusammenbruch der klassischen Gemeindepastoral kommen dieser Entwicklung entgegen, weil es niemanden mehr gibt, der die Gemeinden bevormunden könnte.

Die römisch-katholische Kirche steht jetzt vor einer entscheidenden Weichenstellung. Nach Jahrzehnten der verweigerten Rezeption des Konzils müssen innerkirchlicher Dialog und theologischer Diskurs erst mühsam wieder gelernt werden. Dazu müssen allerdings das Kirchenvolk und die Theologie wieder sehr viel stärker aktiv beteiligt werden und auch selber die Mitwirkung einfordern. Nur so kann die von Papst Franziskus gewünschte pastorale Umkehr (conversión pastoral) gelingen. So wie es im vierten Jahrhundert die Konstantinische Wende gab, die später das Christentum zur Staatskirche mit allen negativen Folgen werden ließ, so könnte das jetzige Pontifikat später rückblickend einmal als Franziskanische Wende bezeichnet werden.

Zeit der Frauen

Die „Frauenfrage“ gehört aktuell zu den kontroversesten Themen innerhalb der römisch-katholischen Weltkirche. Mehrfach hat Papst Franziskus betont, dass die Kirche um ihrer selbst willen in allen Bereichen, gerade auch in Leitungspositionen, einer größeren Präsenz der Frauen bedarf. Doch bislang hat er sich noch nicht ausreichend vom Schreiben Ordinatio Sacerdotalis distanziert, mit dem sein Vorvorgänger und dessen damaliger Glaubenspräfekt allen Nachfolgern eine schwer zu überwindende Hypothek hinterlassen haben.

Die derzeitige Umbruchsituation erscheint in ihrem Ausmaß mit der Zeit der Reformation vergleichbar. Nicht die Weihe von Frauen muss begründet werden, sondern deren Ausschluss! Verbandsfrauen, Ordensfrauen und Initiativen schweigen nicht mehr angesichts der bislang nur verbalen Beteuerungen einer gleichen Würde der Frau und ihrer Wertschätzung. Die Frauenfrage wird entscheidend für die Zukunft unserer Kirche sein. Bereits heute leisten viele Frauen priesterliche Dienste in unserer Kirche, aber sie werden noch nicht anerkannt. Das muss sich ändern, hoffentlich sehr bald. Die Geduld auch der älteren und aktiven Frauen und auch der Ordensfrauen ist am Ende. Das Engagement der katholischen Frauenverbände und neuere Bewegungen wie Maria 2.0 und Catholic Women’s Council sind ermutigende „Zeichen der Zeit“.

Um eine gesellschaftliche Bedeutung für die Zukunft zu erhalten, muss sich die römisch-katholische Kirche einem grundlegenden Wandel in Lehre und Struktur sowie in ihrer Pastoral unterziehen. Es braucht eine prophetische Vision, die vom Leben der Gemeinde ausgeht, nicht von einer monarchischen Kirchenleitung. Es braucht eine Gewaltenteilung und eine Charta der Grundrechte in der Kirche[17], die auch die Einzelnen schützt.

Langer Atem ist gefragt

Sind Kirchenreformen noch wichtig angesichts der akuten Weltprobleme, fragen manche. Im Jahr 2030 wird mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung zu den christlichen Kirchen gehören. Als größte Einzelkirche ist die römisch-katholische Kirche einer der letzten „Global Player“ und eine wichtige Bildungsträgerin weltweit. Dies bedeutet – nicht nur in religiöser Hinsicht – eine große Verantwortung weit über die eigene Glaubensgemeinschaft hinaus. Denn es ist von weltweitem Einfluss, ob und wie sie sich in die Überlebensfragen der Menschheit einmischt, welche ethischen Maßstäbe sie verkündet und selber praktiziert – angefangen von der Sexuallehre über die Wirtschaftsethik bis zu den ethischen Fragen am Anfang und Ende des menschlichen Lebens. Deshalb ist die Glaubwürdigkeit der Kirche so wesentlich. Solange man sagen kann, die Kirche solle zuerst die Hausaufgaben in den eigenen Reihen erledigen, bevor sie anderen gute Ratschläge gibt, wird ihre Stimme für ein „gutes Leben für alle“ schwach bleiben.

Aber auch Pflichtzölibat, Frauenpriestertum und Familienplanung sind angesichts der Weltprobleme mehr als nur die „üblichen innerkatholischen Reizthemen“, geht es hier doch um ganz existenzielle Fragen, nämlich wie Macht ausgeübt wird, wie Männer und Frauen in der Jesusnachfolge zusammenwirken, wie Sexualität verantwortlich praktiziert und wie die Spannungen zwischen Traditionsweitergabe und notwendiger Erneuerung produktiv gestaltet werden. Kirchenreform und die Überlebensfragen der Menschheit sind also eng miteinander verflochten. Kirche, auch die römisch-katholische, ist keine Arche Noah, die Weltkrisen, Klimakatastrophen und Kriege unbeschadet überstehen kann. Nein, sie darf es auch nicht sein. Die befreiende Botschaft Jesu Christi, sein Einsatz für die Marginalisierten, sein Gebot der Nächstenliebe und sogar der Feindesliebe können wesentlich zur Bewältigung der fundamentalen Menschheitsprobleme beitragen. Die Hoffnung, „die da oben“ werden es schon richten, trägt nicht mehr. Deshalb brauchen wir dringend neue Formen der Teilhabe an den zentralen Zukunftsfragen. Schließlich will auch Papst Franziskus eine synodale Kirche auf allen Ebenen!

Die Zeit drängt. Das Zeitfenster, in dem die Kirche ihre Glaubwürdigkeit wiedererlangen kann, schließt sich. Wenn nach dem KirchenVolksBegehren 1995 in Österreich die Reformpunkte von Wir sind Kirche auch von der Kirchenleitung ernstgenommen und angegangen worden wären, wäre zumindest in den vergangenen 25 Jahren vielen Betroffenen großes Leid und der Kirche immenser Schaden erspart worden.

Es ist noch ein weiter Weg, die römisch-katholische Kirche nach zwei restaurativen Pontifikaten wieder auf Reformkurs zu bringen. Die große Hoffnung ist und bleibt für uns das Zweite Vatikanische Konzil, das für die römisch-katholische Kirche gerade auch in der Zuwendung zur Welt („Öffnet die Fenster“) und in der Versöhnung mit anderen Konfessionen und Religionen neue Wege eröffnet hat. Diesen Weg des Konzils und der darauf aufbauenden Theologie und pastoralen Praxis wollen wir mit Gottvertrauen weitergehen. Dabei gilt es jetzt vor allem, die theologische, spirituelle und diakonale Kraft der Frauen neu zu entdecken und für die Kirche fruchtbarer zu machen. Denken wir das Unmögliche: Wer keine Utopien hat, ist kein Realist.

Auch wenn noch keine der fünf Ziele und Forderungen des KirchenVolksBegehrens kirchenrechtlich umgesetzt wurden, die beharrlichen Reformbemühungen von Wir sind Kirche gemeinsam mit Theologinnen und Theologen und vielen anderen Reformkräften haben erreicht, dass das im Zweiten Vatikanischen Konzil grundgelegte Bewusstsein gewachsen ist: Träger der christlichen Botschaft ist das ganze Volk Gottes (Lumen Gentium 12). Und diese befreiende Botschaft gilt nicht nur der Kirche, sondern der ganzen Welt (Gaudium et spes 1f).

Wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang. Für Wir sind Kirche gibt es keinen Grund zur Resignation, wohl aber Anlass zu höchster Aufmerksamkeit. Denn wir leben heute in hoch­dynamischen, wenn nicht gar chaotischen Zuständen, die sich kaum mehr bändigen, gar steuern lassen. Doch nach christlicher Überzeugung sind wir ständig auf dem Weg in das Reich Gottes. Das ist die visionäre Sehnsucht. Solange wir diese Vision im Blick behalten, werden Arbeit und Leidenschaft nicht versiegen.


[2] Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/…

[3] Dialog statt Dialogverweigerung. Wie in der Kirche miteinander umgehen?
www.zdk.de/veroeffentlichungen/erklaerungen/detail/Dialog-statt-Dialogv…

[4] Pius XII. Ansprache vom 20.Februar 1946, zitiert in: Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Christifideles Laici“ (1988) von Papst Johannes Paul II. über die Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt

[8] Drei bekannt gewordene „Geheimbriefe“ an Bischöfe: https://www.wir-sind-kirche.de/?id=318#13

[9] Martha Heizer/ Hans Peter Hurka (Hg): Mitbestimmung und Menschenrechte. Plädoyer für eine demokratische Kirchenverfassung. Kevelaer, 2011

[10] Herdenbriefe der Plattform „Wir sind Kirche“ (Hg.)

Liebe Eros Sexualität, 1. Herdenbrief. Thaur -Wien-München, 1996

Macht Kirche. Wenn Schafe und Hirten Geschwister werden. Thaur -Wien-München, 1998

Frauen schenken der Kirche Leben, Frauen-Herdenbrief. Thaur -Wien-München, 1999

Zölibat – So nicht. Gottes amputierte Liebe, 4. Herdenbrief, Thaur -Wien-München, 2002

Für ein Leben in Fülle. Frohbotschaft statt Drohbotschaft. Wien, 2005

[13] Christian Weisner: Wendezeit für die römische Kirche. Der schwierige Weg von der Klerikerkirche zu einer Kirche des Gottesvolkes (zum 5. Jahrestag der Wahl von Papst Franziskus)
in: Journal der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie, ET-Studies 1/2018, Seite 3-26