Menschenrechte in der Kirche

30.09.2009, Univ.-Prof. Dr. Heribert Franz Köck

Quelle: Aus: „Quart“, Zeitschrift des Katholischen Akademikerverbandes, 1/2009

Man könnte der Meinung sein, die Menschenrechte seien nirgends so gut aufgehoben wie in der Kirche, die Kirche sozusagen die gelebte Menschenrechtsgemeinschaft, weshalb eine Diskussion über Menschenrechte in der Kirche keinem praktischen Bedürfnis entspreche und man sich lieber mit anderen Dinge beschäftigen solle. Man könnte aber auch der Meinung sein, dass es keinen Sinn mache, über Menschenrechte in der Kirche zu sprechen, weil die Amtskirche diese wie andere wichtige innerkirchliche Probleme ohnedies bewusst ignoriere
und daher auch nicht bereit sei, in einen Dialog darüber einzutreten, weshalb man auf bessere Zeiten warten müsse. […]

Barrieren gegen Freiheit
Die moderne Menschenrechtssicht hat ihre Grundlagen in der Scholastik der Neuzeit, wie sie insbesondere von der sog. Schule von Salamanca vertreten wurde, wo sich im Zuge der Endeckungen neuer Kontinente und dortiger Staatsgebilde die Auffassung durchsetzte, dass die Beziehungen zwischen den Völkern nicht von der Religion, sondern vom Naturrecht bestimmt sei. […]

Für die Kurie stellten sich die Menschenrechte vor allem als eine Kombination rotestantischer und revolutionärer Auffassungen dar; daraus erklärt sich deren fortgesetzte Ablehnung durch die Päpste, vor allem jenen des 19. Jhs. So verwarf noch Leo XIII. in seiner Enzyklika Libertas praestantissimum donum von 1888 die Idee der Menschenrechte und Bürgerrechte mit der Formulierung: „Die uneingeschränkte Freiheit des Denkens und die öffentliche Bekanntmachung der Gedanken eines Menschen gehören nicht zu den Rechten der Bürger“.

An anderer Stelle nannte er es völlig ungerechtfertigt, die unbegrenzte Freiheit des Denkens, der Rede, des Schreibens oder des Gottesdienstes zu fordern, zu verteidigen oder zu gewähren, als handle sich dabei um Rechte, die dem Menschen von Natur aus verliehen sind. Auch im 20. Jh. vertrat man an der Kurie z.B. noch die Auffassung, volle Religionsfreiheit können nur den Katholiken zugestanden werden, allen anderen allenfalls eine eingeschränkte Religionsfreiheit, und zwar auch nur dann, wenn sich dies aus Opportunitätsgründen nicht vermeiden ließe. Ein letztes markantes Beispiel für eine solche Allianz zwischen Kirche und Staat ist das spanische Konkordat von 1953, in welchem die katholische Religion als Staatsreligion verankert wurde, was man an der Kurie als ideale Regelung ansah. Andere christliche Konfessionen waren hingegen Einschränkungen unterworfen. Erst mit der Erklärung des Zweiten Vatikanums über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae bekannte sich die Katholische Kirche zur Religionsfreiheit als zu einem jedem Menschen kraft seiner Natur zustehenden Rechts, und zwar ohne Rücksicht darauf, welcher Religion er angehört. […]

Das bisher Gesagte bliebe allerdings bloße Theorie, wenn nicht gezeigt werden könnte, dass zumindest einige der international anerkannten Menschenrechte tatsächlich auch für den kirchlichen Bereich gelten. Ich greife hiefür primär auf die durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierten Rechte, dann auch auf die Europäische Grundrechtscharta und – zum besseren Verständnis – auf den Grundrechtskatalog des Bonner Grundgesetzes. Dabei scheide ich fürs erste jene Menschenrechte aus der näheren Betrachtung aus, gegen welche die Kirche aus faktischen Gründen nicht verstoßen kann, weil sie heute weder selbst über die staatlichen Zwangsmittel verfügt noch ohne weiteres auf das bracchium saeculare zurückgreifen, ihr Recht also durch den Staat durchsetzen lassen kann. […] Damit verbleiben jedenfalls folgende Rechte:

Das Recht auf ein faires Verfahren
Das kanonische Prozessrecht hat die Entwicklung zum modernen Prozessrecht nicht mitgemacht. Das betrifft insbesondere die Schriftlichkeit des Verfahrens, die es dem Gericht unmöglich macht, sich ein eigenes Bild vom Vorbringen der Parteien und der Zeugen zu machen, den Parteien aber, Zeugen der anderen Seite ins Kreuzverhör zu nehmen, dann bestimmte Beweisregeln, welche die freie Beweiswürdigung des Gerichts ausschließen oder doch beschränken, und bestimmte Rechtsvermutungen zum Nachteil der Parteien, die von diesen erst widerlegt werden müssen, obwohl im Zweifel von der Freiheit der Parteien von bestimmten Verpflichtungen auszugehen wäre. Da Unmittelbarkeit des Verfahrens und freie Beweiswürdigung als Grundpfeiler der Rechtsprechung anzusehen sind, verletzt ihr Fehlen das Recht auf ein faires Verfahren.

Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
Dieses Recht umfasst auch die freie Entscheidung der Ehegatten über die Art und den Umfang der sexuellen Beziehung sowie darüber, ob und wie viele Kinder sie wollen. Da jeder der beiden genannten Aspekte einen für sich ein gerechtfertigtes Bedürfnis betrifft, muss es den Ehegatten erlaubt sein, die Befriedigung des einen von der Befriedigung des anderen so zu trennen, dass nicht das eine durch das andere ausgeschlossen oder beeinträchtigt wird. Dies schließt die Freiheit der Mittelwahl ein, die nur dort keine unbeschränkte sein kann, wo diese Freiheit mit der Freiheit anderer auf Genuss ihrer Grundrechte kollidiert. Das Recht auf Leben, auch jenes des Ungeborenen, ist also bei der Wahl der Mittel selbstverständlich in Betracht zu ziehen.

Die Gedanken- und Gewissensfreiheit
Nicht nur Einschränkungen, wie sie ein Rede- oder Publikationsverbot für den Betroffenen darstellen, erscheinen als eine Verletzung der Freiheit der Meinungsäußerung; sie wird schon durch die Verpflichtung zu einem kirchlichen Imprimatur für Druckschriften verletzt, weil das Imprimatur-Verfahren nichts anderes als eine kirchliche Vorzensur ist.

Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Mit diesem Grundrecht kollidieren alle Verbote – mögen sie nur für kirchliche Amtsträger oder auch für sonstige Kirchenmitglieder gelten –, sich inner- und außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft mit anderen zu versammeln oder Vereinigungen einzugehen, und zwar gleichgültig, ob diese Aktivitäten kirchliche oder weltliche Ziele verfolgen. Daher waren z.B. früher bestehende Verbote zur Mitarbeit in sog. freien, d.h. weltanschaulich nicht gebundenen Gewerkschaften ebenso menschenrechtswidrig, wie es heute das Verbot sog. „Priestergewerkschaften“ zum Schutz der Rechte der Priester gegenüber der kirchlichen Obrigkeit wäre.

Das Recht auf Eheschließung
Hier sind gleich zwei Kernpunkte der heutigen Kirchenkrise angesprochen. Der eine ist die Wiederverheiratung Geschiedener, die sich zwar nicht dem – wie oben ausgeführt, allerdings ohnedies ebenfalls menschenrechtswidrigen, weil kein faires Verfahren ermöglichenden – kirchlichen Eheprozess mit dem Ziel der Nichtigkeitserklärung ihrer ersten Ehe unterzogen haben, deren Ehe aber hic et nunc nicht reparabel ist und die daher vor der Wahl stehen, entweder eine neue Ehe einzugehen oder faktisch ehelos zu leben. Das kirchliche Verbot der Wiederverheiratung solcher Geschiedener ist daher mit dem Recht auf Eheschließung, das ja ganz selbstverständlich auch den umfassenden „Gebrauch“ der Ehe einschließt, ebenso unvereinbar wie die an das Zuwiderhandeln geknüpften kirchlichen Sanktionen, z.B. die Nichtzulassung zur Teilnahme am eucharistischen Mahl, außer unter bestimmten (von menschenrechtlichen Standpunkt aus wiederum unzumutbaren) Bedingungen.

Der andere Punkt ist das Verbot der Eheschließung für kirchliche Amtsträger ab einem bestimmten Weihegrad. Ganz abgesehen von den negativen praktischen Folgen dieses Verbots, die von der für die verständnislose Öffentlichkeit oft unglaubwürdigen und daher als scheinheilig betrachteten Lebensführung von in eheähnlichen oder zumindest sexuellen Beziehungen lebenden Priestern einerseits bis zur überdurchschnittlichen Konzentration von homosexuell oder pädophil geneigten Personen im Klerikerstand andererseits reichen, ist der Zwangszölibat schon in der Theorie einer der gravierendsten Verstöße des kirchlichen Rechts gegen die Menschenrechte und legt vielen, die sich zum Priestertum berufen fühlen und glauben, den Zwangszölibat dafür in Kauf nehmen zu müssen und zu können, Lasten auf, die sie später oft bis an oder sogar über die Grenze des physisch und psychisch Erträglichen fordern.

Das Recht auf Bildung
Mit diesem Recht sind Bücherverbote unvereinbar, mögen sie sich wie einst um das Lesen der Bibel in der Landessprache oder wie bis zum Zweiten Vatikanum um den Index librorum prohibitorum handeln, auf dem im Laufe der Zeit die Werke so gut wie aller wichtigen Denker der Neuzeit standen, ganz gleich, ob sie sich mit Theologie, Philosophie oder Naturwissenschaften beschäftigten, sodass noch während meiner eigenen Studienzeit das Bonmot im Umlauf war, wer nicht auf dem Index stünde, sei nicht bedeutend. Vom Recht auf Bildung dürfte sich aber wohl auch die Verpflichtung ableiten lassen, die Schüler und Studenten in kirchlichen Lehranstalten eine umfassende Bildung auf dem letzten Stand der Wissenschaft zu vermitteln, ob es sich dabei nun um eine altersangemessene Sexualkunde, um naturwissenschaftliche Erkenntnisse oder um neue exegetische Einsichten handelt. […] Dass die Wissenschaft, auch die theologische, von der kirchlichen Obrigkeit noch immer als Gefahr und nicht als Chance gesehen wird, zeigen die Ausritte von Josef Ratzinger/Benedikt XVI. gegen die moderne Exegese in seinem Buch „Jesus von Nazareth“.

Die Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten
Diese Freiheit umfasst das Recht, sich frei für einen Beruf entscheiden zu können. Dieses Recht der freien Berufswahl darf keinen anderen Beschränkungen unterworfen werden als jenen, die sich seiner Natur nach ergeben. Wer die Anforderungen, die ein bestimmter Beruf notwendig mit sich bringt, nicht erfüllen kann, ist natürlich von seiner Ergreifung ausgeschlossen.

Im kirchlichen Bereich ist mit der Berufsfreiheit ebenfalls ein Kernpunkt der gegenwärtigen Krise angesprochen. […] Der entscheidende Knackpunkt bei der Berufsfreiheit ist aber, dass die Kirche den Zugang zu mit einem bestimmten Weihegrad verbundenen kirchlichen Ämtern für verheiratete Personen im weitaus größten Bereich, nämlich jenem des lateinischen Ritus, grundsätzlich verschießt. Da man aber nicht behaupten kann, dass verheiratete Personen von Natur aus zur Ausübung derartiger Ämter untauglich wären – dagegen spricht schon rein faktisch das Beispiel der verheirateten Priester in den katholischen Ostkirchen sowie im gesamten Bereich der Orthodoxie und anderer Orientalen, bei den Anglikanern, den Altkatholiken und den Evangelischen Kirchen –, handelt es sich um eine unzulässige Beschränkung des Grundrechts auf Berufsfreiheit, das wiederum Teil des umfassenderen Menschenrechtes ist, das eigene Leben in Freiheit nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Das allgemeine Diskriminierungsverbot
Die Katholische Kirche verweigert bekanntlich Frauen den Zugang zu allen mit der Weihe verbundenen Ämtern und Funktionen und beruft sich dabei auf die Tradition, die heute freilich sonst nur noch von den Orthodoxen und anderen Orientalen gepflogen wird, bei den Anglikanern, den Altkatholiken und den Evangelischen hingegen bereits aufgegeben wurde.

Unterschiedliche Rechte und Pflichten für Frauen und Männer dürfen nur dort angenommen werden, wo sie sich aus der Natur der Sache ergeben. Die Einwände gegen die Zulassung von Frauen zur Ordination beruhen aber auf keinen natürlichen Unterschieden von Mann und Frau. […] Eine solche Ungleichheit könnte nur darin begründet sein, dass kirchliche Amtsträger in persona Christi handeln, und Jesus (auch) Dinge getan habe, die nur ein Mann tun könne. Es lässt sich aber nicht in einem einzigen Punkt zeigen, dass Jesus irgendetwas getan hat, für das es nicht genügt hätte, bloß Mensch zu sein und wofür man hätte spezifisch Mann sein müssen. […]

Das Recht auf wirksame Beschwerde bei Verletzung eines Menschenrechts
Unter einer wirksamen Beschwerde ist eine solche zu verstehen, welche die Überprüfung der behaupteten Verletzung durch eine unabhängige und unparteiische Instanz auf der Grundlage eines rechtlich ausreichend verankerten Katalogs anerkannter Menschenrechte ermöglicht. In der Katholischen Kirche gibt es aber keinen solchen Menschenrechtskatalog; und der Umstand, dass man einen solchen von Seiten der Kurie nicht wollte, mag dazu beigetragen haben, dass das noch unter Paul VI. diskutierte Projekt einer Lex fundamentalis ecclesiae nicht zur Ausführung kam. Weiters gibt es auch keine unabhängige und unparteiische Instanz, weil es in der Kirche – im Gegensatz zum Staat – bisher noch nicht einmal theoretisch gelungen ist, das Prinzip der Gewaltenteilung zu Anerkennung zu bringen, obwohl dasselbe ohnedies nur ein relatives sein kann, weshalb es im Staat nicht der Einheit der Staatsgewalt und in der Kirche nicht der Einheit der Kirchengewalt entgegensteht. […]

Damit fehlt nur noch die Antwort auf die Frage, wie Menschenrechte heute in der Kirche durchgesetzt werden können. Dass eine Durchsetzung in einem rechtsförmigen Verfahren mangels eines entsprechenden kirchenrechtlich verankerten Rechtsschutzes derzeit nicht möglich ist, haben wir schon festgestellt. Manche potentielle Menschenrechtsverletzungen werden zum Glück praktisch nicht spürbar, z.B. dort, wo die kirchliche Seelsorge aus pastoralen Gründen bestimmte Verbote in ihrer Verbindlichkeit im Einzelfall relativiert, wie dies bisweilen bei der Segnung einer zweiten Ehe oder der Zulassung kirchenrechtlich unzulässig Verheirateter zum eucharistischen Tisch geschieht. In anderen Fällen liegt es am Betroffenen selbst, seine Menschenrechte im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zu nutzen und menschenrechtswidrige kirchliche Normen zu ignorieren. Das ist freilich ein für alle Seiten oft sehr unbefriedigender Zustand. Darauf, dass diese besseren Zeiten kommen, können wir freilich alle hinwirken, insbesondere durch das Schaffen eines Problembewusstseins und durch entsprechende Überzeugungsarbeit. Jedem und jeder, der oder die hier seinen/ihren Beitrag leistet, muss aufrichtig gedankt werden.

Univ.-Prof. Dr. Heribert Köck, Dekan der juridischen Fakultät der Universität Linz, hielt am 2. Dezember 2008 im Wiener Otto-Mauer-Zentrum einen Vortrag, dessen Text hier stark gekürzt und in Ausschnitten wiedergeben ist.