Brauchen wir „Dogmen“?

28.04.2013, Paul Weß

Paul Weß hielt am 21. April 2013 vor dem Lainzer Kreis nachstehenden Vortrag

1. Begriffsklärung und lehramtliches Verständnis der „Dogmen“ in der Kirche:


„Das Wesen des Dogmas kann in einem weiteren Sinn bestimmt werden als ‚das verbindliche lehrhafte Zeugnis der Kirche von der im Alten Testament verheißenen, durch Jesus Christus endgültig und in ihrer Fülle geoffenbarten und im Heiligen Geist bleibend in der Kirche präsenten Heilswahrheit Gottes’ (Internat. Theologen-Komm.: IKaZ 19, 256). … Im engeren Sinn lässt sich Dogma gemäß dem sich seit dem 18. Jh. entwickelnden kirchlichen Sprachgebrauch bestimmen als ‚eine Lehre, in der die Kirche eine Offenbarungswahrheit in endgültiger und universalkirchlich verbindlicher Weise so verkündet, dass ihre Leugnung als Häresie verworfen und mit dem Anathem belegt wird“ (ebd.; vgl. c. 750f. CIC). … Viele zentrale Glaubenswahrheiten sind niemals formell definiert worden’ (Joachim Drumm, Dogma. II. Systematisch-theologisch. In: Lexikon für Theologie und Kirche3, Band 3, 284–286; 284).

Dass einzelne Lehren als „Dogmen im engeren Sinn“ feierlich verkündet und ihre Leugner ausdrücklich aus der Kirche ausgeschlossen wurden, ist hier zweitrangig (die Existenz Gottes wurde nie als solche dogmatisiert). Auch vom Dogma im weiteren Sinn behauptet die Kirche die Unveränderlichkeit und unfehlbare Gültigkeit, somit auch die Verpflichtung zu seiner Anerkennung durch alle Gläubigen. Daher befassen wir uns im Folgenden mit diesem:

Papst Johannes XXIII., Ansprache zur Eröffnung des Zweiten Vatikanums, 11.10.1962 (zitiert von Papst Benedikt XVI. am 22.12.2005, 40 Jahre nach Konzilsende): „Es ist notwendig, die unumstößliche und unveränderliche Lehre, die treu geachtet werden muss, zu vertiefen und sie so zu formulieren, dass sie den Erfordernissen unserer Zeit entspricht. Eine Sache sind nämlich die Glaubensinhalte [depositum fidei], also die in unserer ehrwürdigen Lehre enthaltenen Wahrheiten, eine andere Sache ist die Art, wie sie formuliert werden, wobei ihr Sinn und ihr Inhalt erhalten bleiben müssen.“ – Hier Grund der nachkonziliaren Konflikte!

Zweites Vatikanum, Kirchenkonstitution „Lumen gentium“, Art. 12 (DH 4130):

„Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben [vgl. 1 Joh 2,20.27], kann im Glauben nicht fehlgehen … Durch jenen Glaubenssinn nämlich, der vom Geist der Wahrheit geweckt und erhalten wird, hängt das Volk Gottes unter der Leitung des heiligen Lehramtes, in dessen treuer Gefolgschaft [Hervorhebung von mir. P.W.] es nicht mehr das Wort von Menschen, sondern wahrhaft das Wort Gottes empfängt [vgl. 1 Thess 2,13], dem einmal den Heiligen übergebenen Glauben [vgl. Jud 3] unwiderruflich an …“

Zweites Vatikanum, Kirchenkonstitution „Lumen gentium“, Art. 25 (DH 4149):
„Wenn Bischöfe in Gemeinschaft mit dem Römischen Bischof lehren, sind sie von allen als Zeugen der göttlichen und katholischen Wahrheit zu verehren; die Gläubigen aber müssen mit einer im Namen Christi vorgetragenen Entscheidung ihres Bischofs über den Glauben und die Sitten übereinkommen und ihr mit dem religiösen Gehorsam ihres Herzens anhangen. Dieser religiöse Gehorsam des Willens und des Verstandes ist aber in besonderer Weise dem authentischen Lehramt des Römischen Bischofs zu leisten, auch wenn er nicht ex cathedra spricht; nämlich so, dass sein oberstes Lehramt ehrfürchtig anerkannt und den von ihm vorgetragenen Entscheidungen aufrichtig angehangen wird entsprechend der von ihm kundgetanenen Meinung und Absicht, die sich vornehmlich aus der Beschaffenheit der Dokumente, der Häufigkeit der Vorlage derselben Lehre und der Sprechweise ergibt.

Auch wenn die einzelnen Vorsteher nicht über den Vorzug der Unfehlbarkeit verfügen, so verkünden sie dennoch, immer wenn sie – auch wenn sie über den Erdkreis verstreut sind, aber das Band der Gemeinschaft untereinander und mit dem Nachfolger des Petrus beachten – authentisch Sachen des Glaubens und der Sitten lehren und dabei auf eine Aussage als endgültig verbindliche übereinkommen, die Lehre Christi auf unfehlbare Weise. Dies ist noch offenkundiger der Fall, wenn sie, auf einem Ökumenischen Konzil vereint, für die ganze Kirche Lehrer und Richter des Glaubens und der Sitten sind, deren Bestimmungen mit dem Gehorsam des Glaubens anzuhangen ist.

Diese Unfehlbarkeit aber, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Bestimmung einer Lehre über den Glauben oder die Sitten ausgestattet sehen wollte, reicht so weit, wie die Hinterlassenschaft der göttlichen Offenbarung reicht, die unantastbar bewahrt und getreulich ausgelegt werden muss. Dieser Unfehlbarkeit jedoch erfreut sich der Römische Bischof, das Haupt des Kollegiums der Bischöfe, kraft seines Amtes, wenn er als oberster Hirt und Lehrer aller Christgläubigen, der seine Brüder im Glauben stärkt [vgl. Lk 22,32], eine Lehre über den Glauben oder die Sitten in einem endgültigen Akt verkündet. … Die der Kirche verheißene Unfehlbarkeit wohnt auch der Körperschaft der Bischöfe inne, wenn sie das oberste Lehramt zusammen mit dem Nachfolger des Petrus ausübt.“

Kritik: In Lk 22,32 steht: „Und wenn du dich wieder bekehrt hast, dann stärke deine Brüder.“ – Der erste Teil dieses Satzes fehlt. Und: Die Stellung des Petrus, als Bekenner der Messianität Jesu (dasselbe Bekenntnis aller Jünger steht schon in Mt 14,33) „Felsenfundament“ der Kirche zu sein, ist nicht übertragbar, die Kirche wird nicht auf jeden Papst wieder neu gebaut.

Erklärung der Glaubenskongregation „Mysterium ecclesiae“ (1973; DH 4531ff.):
„Der in jeder Hinsicht unfehlbare Gott selbst also hat sich herabgelassen, sein neues Volk, das die Kirche ist, mit einer gewissermaßen anteiligen Unfehlbarkeit zu beschenken, die sich innerhalb der Grenzen von Glaubens- und Sittenfragen hält und die gilt, wenn jenes Volk in seiner Gesamtheit ein Lehrkapitel, das zu diesen Dingen gehört, unzweifelhaft festhält; …
Aber allein … den Hirten, den Nachfolgern des Petrus und der übrigen Apostel, steht es nach göttlicher Anordnung zu, authentisch, das heißt, mit der auf verschiedene Weisen mitgeteilten Autorität Christi, die Gläubigen zu lehren; …

Jesus Christus aber wollte, dass das Lehramt der Hirten, denen er die Aufgabe übertragen hat, seinem gesamten Volk und der ganzen Menschheitsfamilie das Evangelium zu lehren, in Fragen des Glaubens und der Sitten mit dem entsprechenden Charisma der Unfehlbarkeit ausgestattet sei. …

Nach der katholischen Lehre erstreckt sich die Unfehlbarkeit des Lehramtes der Kirche aber nicht nur auf die Hinterlassenschaft des Glaubens [lateinisch: fidei depositum], sondern auch auf jenes, ohne das diese Hinterlassenschaft nicht richtig bewahrt und dargestellt werden kann. Die Erstreckung dieser Unfehlbarkeit auf die Hinterlassenschaft des Glaubens selbst aber ist eine Wahrheit, von der die Kirche schon von den Anfängen an für sicher hielt, dass sie in den Verheißungen Christi geoffenbart sei.“

Kritik: Zirkelschluss: Weil die Kirche diese Unfehlbarkeit „von den Anfängen an für sicher … geoffenbart“ hielt, ist es unfehlbar wahr, dass sie von Gott geoffenbart und absolut wahr ist.

Codex des kanonischen Rechts 1983, Kanon 750:
„§ 1. Kraft göttlichen und katholischen Glaubens ist all das zu glauben, was im geschriebenen oder im überlieferten Wort Gottes als dem einen der Kirche anvertrauten Glaubensgut enthalten ist und zugleich als von Gott geoffenbart vorgelegt wird, sei es vom feierlichen Lehramt der Kirche, sei es von ihrem ordentlichen und allgemeinen Lehramt; das wird ja auch durch das gemeinsame Festhalten der Gläubigen unter der Führung des heiligen Lehramtes offenkundig gemacht; daher sind alle gehalten, diesen Glaubenswahrheiten entgegenstehende Lehren jedweder Art zu meiden.“

Seit 18. Mai 1998 angefügt (obiger bisheriger Kanon 750 wurde damit zu Kanon 750, § 1):
„§ 2. Fest anzuerkennen und zu halten ist auch alles und jedes, was vom Lehramt der Kirche bezüglich des Glaubens und der Sitten endgültig vorgelegt wird, das also, was zur unversehrten Bewahrung und zur getreuen Darlegung des Glaubensgutes erforderlich ist; daher widersetzt sich der Lehre der katholischen Kirche, wer diese als endgültig zu haltenden Sätze ablehnt.“

Dazu: Es geht hier um Glaubensinhalte, von denen auch das Lehramt sagt, dass sie nicht von Gott ausdrücklich offenbart sind, die sich aber nach katholischer Lehre als Konsequenzen aus der Offenbarung ergeben und daher ebenso wie diese für immer festzuhalten seien.

Ein Beispiel dafür und vermutlich auch der Anlass für die Ergänzung ist der Ausschluss der Priesterweihe von Frauen in der Enzyklika „Ordinatio sacerdotalis“ vom 22, Mai 1994: Papst Johannes Paul II. stellt darin fest, dass in der katholischen Kirche alle Bischöfe einhellig die Priesterweihe von Frauen ablehnen und diese daher in ihr für immer ausgeschlossen sei.
Kritik speziell daran: Der Papst hatte die Bischöfe nicht gefragt, sondern ihren Konsens vorausgesetzt; außerdem hätte er sie fragen müssen, ob sie nur faktisch, also unter den gegebenen Umständen und vorläufig, oder grundsätzlich die Frauenpriesterweihe ausschließen.

Kanon 752: „Nicht Glaubenszustimmung, wohl aber religiöser Verstandes- und Willensgehorsam ist einer Lehre entgegenzubringen, die der Papst oder das Bischofskollegium in Glaubens- oder Sittenfragen verkündigen, wann immer sie ihr authentisches Lehramt ausüben, auch wenn sie diese Lehre nicht definitiv als verpflichtend zu verkünden beabsichtigen; die Gläubigen müssen also sorgsam meiden, was ihr nicht entspricht.“

Kritik: Also auch zugegeben möglicherweise fehlerhafte Lehren sind gehorsam anzunehmen.

2a. Kritik an der Unfehlbarkeitslehre und an den auf ihr beruhenden „Dogmen“:

Der Versuch, die absolute Wahrheit der christlichen Offenbarung daraus abzuleiten, dass sich in Jesus Christus Gott selbst geoffenbart habe, sowie die Unfehlbarkeit der Bibel und der Kirche (des Papstes und der Bischöfe) mit einer von Gott verheißenen Unfehlbarkeit zu begründen, sind logische Zirkelschlüsse, die zum Fundamentalismus führen (Juden und Muslime könnten mit gleichem Recht beanspruchen, die absolute Wahrheit zu haben; vgl. die Problematik der Ringparabel: der Vater/Gott hat da alle drei Söhne/Religionen betrogen).

Mit dem Dogma vom „Gottmenschen“ Jesus Christus entwickelte sich die Lehre der Kirche, selbst auch menschlich und göttlich zu sein; diese „Vergöttlichungslehre“ berief sich auf die platonisch-idealistische Philosophie, die den menschlichen Geist als unendlich auffasste:

Zweites Vatikanum, Liturgiekonstitution „Sacrosanctum concilium“, Art. 2 (DH 4002):
„… ihre [der Kirche] Eigentümlichkeit ist es, zugleich menschlich und göttlich zu sein.“

Zweites Vatikanum, Kirchenkonstitution „Lumen gentium“, Art. 8 (DH 4118):
„… [Kirche als] eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst. Deshalb wird sie in einer nicht unbedeutenden Analogie mit dem Geheimnis des fleischgewordenen Wortes verglichen.“

Eine nachträgliche „Vergöttlichung“ des geschaffenen und daher begrenzten Menschen ist nicht möglich, auch nicht aus Gnade. Dem Geschöpf fehlt das Vermögen, eine solche Vergöttlichung an- und aufzunehmen, sie bliebe ein Fremdkörper (eine nachträgliche Erhöhung der Kapazität würde das Problem nur ins Subjekt verlagern). Daher ist dem Menschen ein Erreichen absoluter Wahrheit aus eigener Einsicht nicht möglich, sondern nur eine mühsame größere Annäherung an diese. Auch eine Offenbarung Gottes kann dem Menschen keine absolute Wahrheit bringen, weil er Glaubwürdigkeit und Inhalt der Offenbarung selbst mit seinen begrenzten Fähigkeiten erkennen können muss, in beidem keine unfehlbare Gewissheit hat. Auch von Gott kommende Botschaften werden vom Menschen auf menschliche, also begrenzte und irrtumsanfällige Weise empfangen, nicht auf göttliche, unfehlbare Weise.

Vgl. Thomas von Aquin: „Was empfangen wird, wird auf die Weise des Empfangenden empfangen, nicht auf die Weise dessen, was empfangen wird“ (Sentenzenkommentar 4, 48, 1, 3, 4).
Vgl. Karl Rahner: „Auch dogmatisch schlechthin verbindliche Wahrheiten“ können „amalgamiert“, also legiert sein mit geschichtlich bedingten Elementen und Vorstellungen, die „sich später dann durchaus als nichtverbindlich oder sogar als falsch herausstellen“. Betrifft auch das Dogma (DH 3043), dass „ein Dogma für immer in dem ‚Sinn’ weiter festgehalten werden müsse, den es bei seiner früheren Verkündigung gehabt hat“. Also „wird man nicht daran zweifeln können, dass auch die Glaubens- und Dogmengeschichte der Kirche Veränderungen mit sich bringen wird, die wir uns heute noch kaum vorstellen können“ (Schriften zur Theologie 13, 19f., 43). Karl Rahner war der Ansicht, dass es in der Kirche möglich sein muss, in ihrer Lehre an die Zäsur vor der Inkulturation des Glaubens in die hellenistisch geprägte abendländische Welt zurückzugehen und von dort aus ein „Ankommen“ des Christentums in anderen großen Kulturen der Welt zu ermöglichen (Schriften zur Theologie 14, 287–302).

NB. Die „Relativierung“ der dogmatischen Glaubenslehre als irrtumsanfällig besagt keinen Relativismus, keine Gleich-Gültigkeit aller Aussagen, nach der alle ihre eigene „Wahrheit“ haben ohne Möglichkeit einer Annäherung. Auch ins religionskritische Abendland ist wohl eine neue Inkulturation nötig.


2b. Kritik an der hierarchischen Struktur im Festlegen dieser dogmatischen Basis:

Das jetzige autoritäre System widerspricht dem Neuen Bund (vgl. Jer 31,31–34; 2 Kor 3,2–6), in dem die Erkenntnis Gottes und seiner Weisungen von Gott den Menschen in ihr Herz gegeben ist, nicht von außen – auch nicht durch ein Lehramt – diktiert werden darf (so sehr eine Weckung dieser Herzenseinsicht nötig ist!). Vgl. Erklärung über die Religionsfreiheit, Art. 1: „Und anders erhebt die Wahrheit nicht Anspruch als kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt.“

3. Können wir als Kirche die Dogmen streichen oder was müsste an ihre Stelle treten?

a) Eine Glaubens- und Gesinnungsgemeinschaft braucht ein gemeinsames Verständnis ihrer geistigen Grundlagen mit deren praktischen Konsequenzen, um leben und wirken zu können.

Der bloße faktische gemeinsame Nenner – sofern überhaupt ein solcher vorhanden ist – genügt dafür nicht, weil er nicht fassbar ist und daher nicht die Basis für das gemeinsame Tun in der nötigen Verbindlichkeit bilden kann (vgl. die Antwort in einem Basisgemeindetreffen: „Das ist ganz einfach: Gemeinsam ist uns das, dem jeder locker zustimmen kann.“).

Das zeigt sich auch an der Notwendigkeit, dass Staaten oder Staatengemeinschaften (EU oder UNO) sich eine Verfassung geben, die mit einer qualifizierten Mehrheit beschlossen wird und von der behauptet wird, dass sie auch für jene gilt, die ihr nicht zugestimmt haben. Auch die Berechtigung und die verpflichtende Gültigkeit dieser Verfassungen können nicht aus ihnen begründet, sondern müssen vorausgesetzt werden (sind eine „Glaubensfrage“). Dass Verträge zu halten sind, kann nicht wieder durch einen Vertrag abgesichert werden. Daher wäre die persönliche verbindliche Annahme durch alle Bürgerinnen und Bürger nötig.

Das zeigt sich global/universal an der „Deklaration der Menschenrechte“, die wie ein weltliches Dogma angesehen werden, dessen normative Geltung einfach behauptet wird. Es fehlt die Formulierung der korrespondierenden moralischen Pflichten, ohne deren Einhaltung die Erfüllung der Rechte Utopie bleibt, und deren prinzipielle Bejahung durch alle Menschen.

b) Diese formulierte geistige Basis bleibt geschichtlich bedingt und daher verbesserbar. Das ergibt sich schon aus der Evolution in der Schöpfung und aus den geistigen Grenzen. Auch in der Menschenrechtsdeklaration sind Korrekturen nötig: Ein unbegrenztes Recht auf „Gewährleistung der Gesundheit“ (vgl. Art. 25) bedeutet das Recht, nicht sterben zu müssen. Es fehlt ihre Begründung (warum nicht Darwin?) und das Wissen um menschliche Grenzen.

c) Im Sinn des Neuen Bundes kann diese gemeinsame Basis nicht von hierarchischen Amtsträgern verordnet werden, sondern erfordert die prinzipielle Möglichkeit der Beteiligung aller Gläubigen an ihrer Erarbeitung oder zumindest eine nachträgliche Rezeption durch alle.

Dasselbe gilt auch von den Menschenrechten: Regierungsvertreter auf einer UNO-Versammlung können keine verpflichtende Gültigkeit von Menschenrechten beschließen (am 10.12.1948 bei 8 Enthaltungen, was ist mit diesen Ländern?) und verlangen, dass sich alle daran halten. Die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte“ der islamischen Länder weicht stark ab.

d) Diese Beteiligung setzt Fähigkeit und Bereitschaft zu den nötigen Prozessen voraus. Diese sind auf der Basis der Säuglingstaufe und Kinder-/Jugendfirmung noch nicht gegeben.

Ähnlich bei Verfassungen und Menschenrechten: Es müssten alle, die für volljährig erklärt werden, bereits ihre Rechte und ihre Pflichten als Bürger(innen) kennen und beide bejahen.

e) Ebenso wenig wie durch hierarchische Leitungspersonen kann diese gemeinsame verbindliche (aber verbesserbare) Basis in bloßen Mehrheitsentscheidungen festgelegt werden. Solche sind möglich, wo alle jedes der denkbaren Ergebnisse mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Die nötigen Grundlagen sind vergleichbar mit den nicht-abstimmbaren Voraussetzungen auch in einer Demokratie (z.B. Religionsfreiheit); vgl. das Böckenförde-Theorem.

f) Eventuell ergibt sich eine versöhnte Verschiedenheit von unterschiedlichen Kirchen (wie auf dem Apostelkonzil zwischen Judenchristen und Heidenchristen), die von verschiedenen Paradigmen ausgehen (so auch eine ohne Fundamentalismus und platonische Philosophie).

g) Die erste Entscheidung muss klären, auf welche Weise Entscheidungen fallen sollen:
Der Neue Bund erfordert bei der Erarbeitung der gemeinsamen geistigen Basis in den Gemeinden und in der Kirche (hier in Rückbindung der nötigen Gremien an die Basis) eine gemeinsame Entscheidungsfindung unter dem Anspruch der Einmütigkeit, die nicht Einheitlichkeit besagt. Dies ist nur in einem spirituellen Prozess, in einer gemeinsamen Unterscheidung der Geister, möglich, mit einer kollegialen Leitung, in der die Leitungsperson als Zeichen und Werkzeug der Einigung gleichberechtigt ist mit dem übrigen Gremium (ein höherer Anspruch als das jetzige hierarchische System!). Wichtig wären überzeugende praktische Beispiele.

Literatur: Paul Weß, Einmütig. Gemeinsam entscheiden in Gemeinde und Kirche. Thaur 1998; ders., Glaube zwischen Relativismus und Absolutheitsanspruch. Wien ²2008;
ders., Papstamt jenseits von Hierarchie und Demokratie. Ökumenische Suche nach einem bibelgemäßen Petrusdienst. Münster ²2009;
ders., Glaube aus Erfahrung und Deutung. Christliche Praxis statt Fundamentalismus. Salzburg 2010;
ders., Wie in säkularer Sprache von Gott reden? In: Stimmen der Zeit 231 (2013) 3–13. Vgl. die von den Gemeinden in der Pfarre Machstraße erarbeiteten „Geisteshaltungen in einer Gemeinde“.

Zur Person des Referenten:
Paul Weß, 1936 in Wien geboren, studierte Theologie und Philosophie in Innsbruck. 1962 wurde er von Kardinal König zum Priester geweiht. Ab 1966 war er gemeinsam mit seinen Priesterkollegen Ben van Baren und Peter Zitta, ab 1973 alleine in der Wiener Stadtpfarre "Machstraße", zum Hl. Klaus von Flüe, als Priester tätig. Während dieser Zeit wurde versucht, die Visionen des Zweiten Vatikanischen Konzils in die Realität umzusetzen. Ziel war, dass mündige Christinnen und Christen Gemeinden bilden, die als Träger und Leitbild der Botschaft Jesu wirken. Es entstanden drei "Basisgemeinden", die heute die gesamte Pfarrarbeit in diesem Stadtteil tragen.

In seiner Reflexion der Arbeit mit den Gemeinden entstanden zahlreiche theologische und praktische Ansätze für eine zeitgemäße Verkündigung der Botschaft Jesu, die er auch publizierte. Paul Weß habilitierte sich 1989 in Pastoraltheologie bei Prof. Hermann Stenger in Innsbruck und war an den Universitäten Graz, Würzburg und Innsbruck als Gastprofessor und Dozent für Pastoraltheologie tätig.