Jesus hat keine Priester geweiht. Und doch ist die römisch-katholische Kirche von sazerdotalen Vorstellungen geprägt. Martin Ebner geht den überraschend andersgearteten Spuren des jesuanischen Erbes im Neuen Testament nach – eine ‚gefährliche Erinnerung‘ an die ältesten Traditionen des Christentums.
Es war die denkbar knappste Abstimmung auf der Vollversammlung des Synodalen Weges im vergangenen Herbst in Frankfurt. Mit einer einzigen Stimme Mehrheit, mit 95 zu 94 Stimmen, wurde der Antrag angenommen, dass im Forum „Priesterliche Existenz heute“ die Frage diskutiert und beraten werden soll: „Braucht es überhaupt Priester?“
Im Blick auf die Reform der katholischen Kirche ist das eine tatsächlich äußerst pikante Frage. Ist doch die innere Struktur der katholischen Kirche auf den Priester als geweihten, zum Zölibat verpflichteten Mann zugeschnitten. Er hat die zentrale Position der Leitung: sowohl in der Liturgie (nur er darf der Eucharistiefeier vorstehen), der Lehre (nur er darf nach dem Evangelium predigen) und der Verwaltung (nur ihm kann die Letztverantwortung übertragen werden). Weil es aber immer weniger einsetzbare Priester gibt, bekommen die Gemeinden einen immer größeren Zuschnitt, haben viele kleine Gemeinden keine sonntägliche Eucharistiefeier mehr, und die Priester fühlen sich überfordert. Von den Beschädigungen des priesterlichen Amtes durch den Skandal des Missbrauchs gar nicht zu reden.
Nun gehört es zu den verblüffenden, aber kaum ernstgenommen Fakten, dass im Neuen Testament Priester dieses Zuschnitts überhaupt nicht vorgesehen sind. Da gibt es keinen Stand mit bestimmten Vorrechten, der sich als Klerus bezeichnet und der Gruppe der anderen Gläubigen, den Laien, gegenübersteht.
Es geht also um etwas Grundsätzliches: Kommt im Reformprozess der katholischen Kirche das Neue Testament als norma normans non normata wirklich zur Geltung? Oder noch schärfer gesagt: Ist das „Christentum“ mit dem Neuen Testament als Fundament der römisch-katholischen Gruppenformation wirklich vorgeordnet?
Zur Klärung eine Präsentation des neutestamentlichen Befunds in 7 Thesen samt einer offenen Frage:
1. „Presbyter“ hat mit „Priester“ sachlich nichts zu tun
Man könnte meinen – und so findet es sich in vielen Darstellungen – „Priester“ seien ja bereits im Neuen Testament fest etabliert, ist doch in vielen Schriften die Rede von „Presbytern“ (dt. Älteste), wovon sich – etymologisch – das Wort „Priester“ ableitet. Aber das ist reine Sprachverwandtschaft. Sachlich haben Presbyter mit Priestern nichts zu tun. Denn ein Presbyter ist Mitglied eines Ältestenrates, wie er in jeder Stadtverwaltung (und z.T. in Vereinen) etabliert ist. Presbyter agieren immer im Team, beraten die Angelegenheiten der Stadt bzw. des Vereins, diskutieren Anträge und stimmen darüber ab. Mit einem Priester, der vor einem Tempel Tiere schlachtet und sie dann auf einem Steinaltar als Opfer darbringt, hat ein Presbyter nichts, aber auch gar nichts zu tun.
2. Priester in der Alten Welt sind Kultmanager
In der Zeit, als die Schriften des Neuen Testaments entstanden sind, sind Priester (griech. hiereus, lat. sacerdos) Kultmanager – am Jerusalemer Tempel genauso wie in der paganen Welt. Hier wie dort besteht ihre wichtigste Aufgabe darin, Tieropfer auf den Steinaltären vor dem jeweiligen Tempelhaus nach vorgeschriebenen und ihnen allein vorbehaltenen Riten darzubringen. In den Städten der griechisch-römischen Welt werden Priester gewöhnlich vom Rat der Stadt für ein Jahr Amtszeit eingesetzt und mit der Verantwortung für den Kult, aber auch die Instandhaltung des jeweiligen Tempels (aus eigenen Mitteln) betraut. Im Judentum gilt eine andere Auswahl: Allein der Stammbaum zählt. 24 priesterliche Familien haben sich nach dem Exil etabliert (1 Chr 24). Wer (als Mann) geboren wird und seinen priesterlichen Stammbaum nachweisen kann, hat das Vorrecht und die Verpflichtung, zweimal im Jahr eine Woche lang den priesterlichen Opferdienst im Tempel von Jerusalem auszuüben. Priestersein ist im Judentum ein Geburtsmerkmal, keine Sache der Berufung. Priester haben ihre Familien zu ernähren und gehen deshalb ganz normalen Berufen nach.
Das Besondere, das jüdische Priester von paganen Priestern abhebt, ist ihre Vollmacht, mit dem Opfervorgang Sündenvergebung zu erwirken. Dabei kommt ihnen eine unverzichtbare Vermittlerposition zu. Gemäß strengen Ritualvorschriften ist es ihnen allein vorbehalten, den eigentlichen Sühneritus, also die Bereinigung des gestörten Gottesverhältnisses, durchzuführen: nämlich das Blut des geschächteten Opfertieres, auf das der Opfernde durch Handaufstemmung seine Sünde übertragen hat (vgl. Lev 4,4; 16,21), auf die Hörner des Brandopferaltares bzw. an dessen Sockel auszugießen, also in den inneren Heiligkeitsbereichen des Tempels zu agieren, in die vorzustoßen männlichen Nicht-Priestern – und Frauen erst recht – nicht erlaubt ist (vgl. Lev 1-7). Der Höhepunkt aller Sühnerituale findet jedes Jahr am Versöhnungstag statt: Unter Beachtung strengster zeremonieller Vorschriften darf allein der Hohepriester, und nur er, in das Allerheiligste, den Ort der Gottesgegenwart, eintreten, um dort durch eine präzise vorgeschriebene Blutapplikation die „Entsühnung“ sowohl des Tempels aus auch des Volkes Israel vorzunehmen (Lev 16).
Derartige Kultmanager haben Menschen im 1. Jh. n. Chr. vor Augen, wenn von „Priestern“ die Rede ist.
3. Keine Priester in neutestamentlichen Gemeinden – und auch keine Opfer
Solche Priester gibt es in neutestamentlichen Gemeinden nicht. Zwar bekehren sich laut Apg 6,7 auch (jüdische) Priester zum Christusglauben, aber eine Sonderrolle in der christusgläubigen Gemeinde spielen sie nicht. Ganz anders als in Synagogengemeinden, wo sie auch nach der Zerstörung des Tempels (und bis heute) eine Sonderstellung haben und jeweils zum Segnen aufgerufen werden.
In den neutestamentlichen Schriften werden für die Bezeichnung von Gemeindefunktionen ganz unterschiedliche Bereiche der damaligen Gesellschaft aufgerufen, vom Lehrer aus dem Bereich der Bildung über Apostel und Gesandte aus dem Bereich der Diplomatie bis hin zum Diakonos aus dem Bereich der Serviceleistung, aber Priester aus dem Bereich des Kults finden sich nicht.
Und Priester sind auch gar nicht vonnöten: Denn in christusgläubigen Gemeinden werden nun einmal keine Opfer dargebracht, sondern es wird ein Mahl gefeiert, nach den Usancen eines antiken Symposions – mit dem feinen Unterschied, dass es „in Erinnerung an Jesus“ begangen wird und deshalb nicht einfach, wie sonst üblich, die ebenbürtigen Freunde des Hausherrn eingeladen sind, sondern alle Getauften im Einzugsbereich. Das Kriterium dafür, dass man ein solches „Essen“ wirklich „Herrenmahl-Essen“ nennen darf, ist nach Paulus ein ganz einfaches: Alle müssen das Gleiche zu essen bekommen – und sich als „Gleiche“ behandelt fühlen. Wenn „der eine hungert, der andere aber besoffen ist“ – ist das kein Herrenmahl-Essen (1 Kor 11,17-22). Die Frage, wer den Vorsitz führen darf, wird in neutestamentlichen Schriften nirgends problematisiert. Für Paulus ist entscheidend, ob das Gleichheitsaxiom von Gal 3,27f. (s. 4.) bei den Zusammenkünften der Getauften die Probe besteht.
4. Aufhebung der gesellschaftlich etablierten Standesgrenzen als Charakteristikum der Christusgläubigen (Gal 3,27f.)
Wer seinen Glauben an Christus durch die Taufe besiegeln lässt, betritt einen neuen Sozialraum, in dem die für die griechisch-römische Gesellschaft bestimmenden Dichotomien aufgehoben sind, sowohl hinsichtlich der nationalen Herkunft, des Standes und des Geschlechts. So ist es in der wohl ältesten Taufformel des Neuen Testaments grundgelegt, die uns Paulus in Gal 3,27f. und 1 Kor 12,13 überliefert und die er schon selbst aus der Tradition vor ihm übernommen hat. Der Text lautet: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus als Gewand angezogen. Da gibt es nicht mehr Jude noch Grieche, da gibt es nicht mehr Sklave noch Freier, da gibt es nicht mehr Mann und Frau; denn alle seid ihr einer in Christus Jesus.“
Anders gesagt: Jegliche Dichotomien, die Menschen in über- und untergeordnete Kategorien einteilen, zu betonen oder gar neu zu etablieren, wäre ein Widerspruch zum Christusglauben.
5. Gemeinsames Priestertum aller Glaubenden
In den für die frühen christlichen Gemeinden maßgeblichen neutestamentlichen Schriften gibt es zwar keine Priester, die Nicht-Priestern gegenüberstehen, wohl aber gibt es eine Priestertheologie in unterschiedlichen Variationen. Typisch ist, dass die priesterliche Würde entweder nur einem einzigen zuerkannt wird, nämlich Christus (vgl. 6.), oder allen gemeinsam. Letzteres ist in den Spätschriften 1 Petr und Offb der Fall. 1 Petr 2,9 greift dafür explizit auf die Alternativ-Priesterkonzeption von Ex 19,5f. zurück, wonach das gesamte Gottesvolk ein Priestertum bekleidet, das dadurch gekennzeichnet ist, dass die Tora Gottes sichtbar vor allen anderen Völkern getan und dadurch bezeugt wird. Also eine ethisch grundierte Konzeption mit missionarischer Ausrichtung.
Im Buch der Offenbarung kommt diese Konzeption provokativ in der Schilderung der Neuen Stadt (Offb 21-22) zum Ausdruck: Da gibt es keinen Tempel mehr, aber Gott ist mitten unter den Menschen. Und: Die Form der Stadt ist ein Kubus mit 12.000 Stadien Länge, Breite und Höhe (Offb 22,16). Diese Form ist typisch für das Allerheiligste des Jerusalemer Tempels, das jedoch allein der Hohepriester ein einziges Mal im Jahr betreten darf. Über die Architektur wird also signalisiert: Die Gottesstadt kennt weder Tempel noch Kult oder gar das Gegenüber von Priestern und Nicht-Priestern, aber sie ist voll von Menschen, die alle in gleicher Weise in Gottunmittelbarkeit die (hohe)priesterliche Würde bekleiden.
6. Feindliche Übernahme des Tempelprivilegs der Vermittlung von Sündenvergebung
Die zweite Variation der neutestamentlichen Priestertheologie greift unmittelbar auf das Alleinstellungsmerkmal der Jerusalemer Tempelpriesterschaft zu: die Sündenvergebungskompetenz mit ihrem Höhepunkt am Versöhnungstag, dem einzigen Tag, an dem der Hohepriester ganz alleine in das Allerheiligste eintritt, um durch liturgisch präzise vorgeschriebene Blutbesprengungen auf die (vielleicht gar nicht mehr materiell vorhandene) Sühneplatte das Gottesverhältnis wieder zu ‚bereinigen‘. Genau diese Wirkkraft schreibt die älteste ausformulierte christliche Sühnetheologie niemand anders als Jesu zu – und zwar als Deutung seines Kreuzestodes. Der von Paulus in Röm 3,25f. überlieferte und ergänzte Text lautet: „Ihn (sc. Jesus) hat Gott öffentlich hingestellt als Sühneplatte/Sühnort durch den Glauben in seinem Blut zum Aufweis seiner Gerechtigkeit wegen des Hingehenlassens der zuvor geschehenen Sünden in der Zeit der Zurückhaltung Gottes.“ Das bedeutet:
- Zum neuen zentralen Begegnungsort zwischen Gott und Mensch, sozusagen zum innersten Pünktlein des Tempels, ist der gekreuzigte Jesus („in seinem Blut“) installiert worden. Darin besteht die hintergründige Aktion Gottes bei der Kreuzigung Jesu, die nur Glaubende erkennen können.
- Nötig war diese Aktion Gottes, weil die unter hohem liturgischem Aufwand von Priestern durchgeführten Opferriten am Jerusalemer Tempel ohne Wirkung geblieben sind („wegen des Hingehenlassens der zuvor geschehenen Sünden in der Zeit der Zurückhaltung Gottes“).
- Bedenkt man, dass der Glaubenssatz von Röm 3,25f. zu einer Zeit entstanden und niedergeschrieben wurde, als der Jerusalemer Tempelbetrieb noch voll im Gang war, betreiben christliche Theologen eine provokativ-feindliche Übernahme des (hohe)priesterlichen Privilegs, das Verhältnis zwischen Gott und Menschen in Ordnung zu bringen. Was dort im Tempel unter hohem institutionellem und finanziellem Aufwand vergeblich zu leisten vorgegeben wird, bekommt man hier bei den Christusgläubigen zum Nulltarif – man muss nur an das göttliche Handeln im Tod Jesu glauben. Noch einmal anders gesagt: Die den Priestern bzw. dem Hohepriester vorbehaltene Vermittlungskompetenz zwischen Gott und Mensch wird spiritualisiert und in die Reihe der Christusgläubigen verlegt.
Breit ausgeführt und mit Hilfe platonischer Kategorien auf den Punkt gebracht wird diese Konzeption dann im Hebräerbrief. Was Priester auf Erden inszenieren – mögen die Gewänder noch so prächtig und die Riten noch so eindrucksvoll sein -, das alles erreicht das vorgegebene Ziel nicht, ist bloßes ‚Sinnbild‘, lediglich ‚Schatten‘ dessen, was allein im himmlischen Tempel Wirklichkeit wird: die Sündenvergebung, ein für allemal, im Selbst-Opfer des zum Hohenpriester stilisierten Jesus Christus, wodurch zugleich der Zugang zum Allerheiligsten für alle Glaubenden eröffnet wird. Auch das ist natürlich alles Deutung des schändlichen Kreuzestodes Jesu. Auf den Effekt in der Alltagswelt der Glaubenden kommt es an: Durch den Tod Jesu ist ihnen ein für allemal der unmittelbare Zugang zu Gott ermöglicht. Tieropfer und Priester, die für sich beanspruchen, die Zuwendung Gottes allein durch ihre Altarzelebrationen vermitteln und symbolisch darstellen zu können, sind hinfällig.
Und der praktisch denkende Verfasser des Schreibens sagt auch ganz unmissverständlich, worin sich der neue, andere Tempelkult der Christusgläubigen zeigt: „Durch Christus lasst uns also Gott allezeit das Lobopfer darbringen, nämlich die Frucht der Lippen, die seinen Namen preisen. Vergesst nicht wohlzutun und mit anderen zu teilen; denn an solchen ‚Opfern‘ hat Gott Gefallen“ (Hebr 13,15f.). Anders gesagt: Das wahre ‚Opfer‘ ist ein den Menschen zugewandtes Leben im Respekt vor Gott. Und dieses ‚Opfer‘ kann jede und jeder darbringen.
Einer der besten Kenner des Hebräerbriefes hält fest: „Darum ist allen Versuchen, Christus erneut als Opfer ex opere operato zu fassen und … den Nachfolgern Christi und Verkündigern der Herrschaft Gottes eine Priesterfunktion zu reservieren … durch die eigentliche Intention des Hebräerbriefes der neutestamentliche Boden entzogen.“ (E. Gräßer, Der Hebräerbrief, EKK XVII/2, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1993, 165).
7. Die Wurzel der Tempelkritik: Jesu Taten und Worte
Diese tempel- und kultkritische Haltung der frühen Christusgläubigen, die in der ‚feindlichen Übernahme‘ der Priesterprivilegien gipfelt, ist nicht vom Himmel gefallen. Sie hat ihre Wurzeln beim historischen Jesus und den Erzählungen über ihn: In Mk 2,5 spricht Jesus dem Gelähmten die Sündenvergebung mit der Formel zu, wie sie eigentlich allein Priestern im Zusammenhang mit einem Tieropfer und den entsprechenden Blutapplikationen am Brandopferaltar des Tempels zugeschrieben wird (vgl. Lev 4-5). Von den Schriftgelehrten wird das als Blasphemie gebrandmarkt. Und: Was Jesus – in historischer Evaluation – die Verurteilung zum Tod gebracht hat, war sein Wort gegen den Tempel, das den Untergang des bestehenden und die Errichtung eines neuen Tempels prophezeit (vgl. Mk 14,58).
Der erste Teil der Prophezeiung ist 40 Jahre nach der Kreuzigung Jesu tatsächlich eingetreten: mit der Zerstörung des Tempels durch die Römer. Der zweite Teil der Prophezeiung jedoch hat sich bis heute nicht erfüllt. Jedoch: Gläubige der ersten Stunde haben Jesus auch diesen Teil seiner Prophezeiung geglaubt – und sich selbst als diesen neuen Tempel gesehen (vgl. 1 Kor 3,16; 1 Petr 2,5) sowie Jesus als dessen von Gott eingesetztes Zentrum: als Sühneplatte (Röm 3,25f) bzw. als Hohepriester, der im Kreuzestod die Sündenvergebung ein für allemal bewirkt (Hebr). Was Jesus den Tod gebracht hat, wurde zum Grundstein des Christusglaubens: das Selbstbewusstsein der Gemeinden, ein Personaltempel zu sein – mit Jesus als Zentrum, aber ohne Tempelinstitution und Riten, die allein menschlichen Priestern vorbehalten sind.
Die offene Frage: Wie kommt es dann doch zu Priestern im Christentum?
Außer einem kleinen Aufsatz von Ernst L. Grasmück (1987)[1] ist in den vergangenen 30 Jahren zu dieser Frage nichts publiziert worden, bis sie der Bonner Patrologe Georg Schöllgen in seiner lectio ultima 2016[2] explizit zum Thema gemacht hat. Allein das spricht schon Bände. Gemäß Schöllgen handelt es sich um den größten Bruch der Christentumsgeschichte. Aus einer Seelsorgereligion wird eine Kultreligion. Um die Wende vom 2. zum 3. Jh. stellen sich zunächst Episkopen, dann auch Presbyter in Analogie zu den alttestamentlichen Priestern, um zu begründen, dass ihnen – wie jenen – der Zehnt zu geben sei, damit sie „sich nicht vom Altar und den Opfern entfernen und Tag und Nacht himmlischen und spirituellen Dingen dienen“ (Cyprian, Ep 1,2). Aber weder Episkopen noch Presbyter bringen Tieropfer dar. Die Bezeichnung ist also symbolisch. Eine Metapher hat einen neuen Stand geboren: den Klerus, der sich dem Rest des Gottesvolkes, den Laien, gegenüberstellt – genau das Gegenteil der Taufformel von Gal 3,27f.
Wie es zur Zölibatsverpflichtung gekommen ist und welche unterschiedlichen pragmatischen Gründe in diesem Fall dahinterstehen bzw. welche Ziele damit verfolgt werden, darüber klärt Hubert Wolf in seinen 16 Thesen zum Zölibat[3] auf.
Eine Kirche, die sich diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Exegese bzw. der Kirchengeschichte verweigert oder sie einfach ignoriert, ist unwahrhaftig ihrer eigenen Geschichte gegenüber. Und wenn das Forum „Priesterliche Existenz heute“ diese Erkenntnisse nicht ernstnimmt und zur Basis aller weiterer Reflexionen macht, kann es keine Reform in der katholischen Kirche geben, die diesen Namen verdient. Die Frage „Braucht es überhaupt Priester?“ im Sinn eines Standes mit bestimmten Vorrechten, zudem allein Männern vorbehalten, die sich auf den Zölibat verpflichten, diese Frage muss unbedingt und ohne Vorbehalte gestellt werden – und zwar in Treue zur Ursprungstradition.
1 Ernst L. Grasmück, Vom Presbyter zum Priester. Etappen der Entwicklung des neuzeitlichen katholischen Priesterbildes, in: Paul Hoffmann (Hrsg.), Priesterkirche, Düsseldorf 1987, 96-131.
2 Georg Schöllgen, „Divino sacerdotio honorati“. Die Professionalisierung des Klerus und ihre Folgen. Lectio ultima von Dr. Georg Schöllgen als Professor für Alte Kirchengeschichte und Patrologie an der Bonner Fakultät am 15. Juli 2016 (https://www.ktf.uni-bonn.de/faecher/alte-kirchengeschichte/personen/prof-dr-georg-schoellgen).
3 Hubert Wolf, Zölibat. 16 Thesen, München 2019.
Martin Ebner ist emeritierter Professor für Exegese des Neues Testaments (Universitäten Münster und Bonn).