Beschlossen auf der International Church Reform Network Conference ICRN 2018 in Bratislava und in der vorliegenden Fassung bekräftigt von der ICRN 2019 in Warschau.
Der Wert geschriebener Gesetze
von Matthias Jakubec
Vergangenen Oktober kam bei unserer „Feier mit Feuer“ anlässlich 20 Jahre Kirchenvolks-Begehren in der Diskussion auch die Forderung nach Änderungen des Kirchenrechts zur Sprache. „Nicht ändern sondern abschaffen!“ lautete ein Einwurf. Im November trafen sich dann Kirchenreformer aller Kontinente zum Jubiläum des II. Vatikanischen Konzils in Rom. Im Abschlussdokument heißt es: „[Wir verpflichten uns …] die Vision einer Kirchenverfassung auf der Grundlage der Menschenrechte und der demokratischen Werte (einschließlich breiter Beteiligung an Entscheidungen, einer Gewaltenteilung, und eines faires Verfahrens) zu entwickeln“, aber auch dort gab es entgegengesetzte Stimmen in der Diskussion: Einer der wenigen Erfolge der Reformbewegungen sei es gewesen, das „lex Ecclesiae fundamentalis“, die in den 70er-Jahren geplante Kirchenverfassung, zu verhindern.
Aus diesem Grund, drängt es mich, Euch alle dazu aufzurufen, für die Entwicklung und Einsetzung einer Verfassung der Katholische Kirche auf der Grundlage „demokratischer Werte“ einzutreten. Ich halte die Erfindung geschriebener Gesetze für eine der wichtigsten Leistungen der kulturellen Entwicklung der Menschheit. das kann kaum deutlich genug gesagt werden. Freilich spielt es eine wesentliche Rolle, was der Gesetzestext beinhaltet. Das Recht sollte das Ergebnis von Vereinbarungen sein, denen alle möglichst einmütig (um diesen von Paul Wess so intensiv beworbenen Aspekt ins Spiel zu bringen) zustimmen konnten (direkt oder durch delegierte Vertreter). Unter dieser Voraussetzung kann dann immer darauf hingewiesen werden, worauf man sich geeinigt hatte. „Es steht geschrieben“ ist dann gleichbedeutend mit „wir haben es doch ausgemacht.“ Hier steht es, jede und jeder kann es nachlesen.
Selbstverständlich sind solche Gesetze nicht sakrosankt. Man kann sie verändern und man kann sich einsetzen für die gewünschten Veränderungen. Die Spielregeln der Gesetzgebung selbst sind veränderbare Gesetze. Insofern hängt die Wirksamkeit jedes geschriebenen Rechts von der Bereitschaft aller ab, sich daran gebunden zu fühlen. Von der Bereitschaft der Starken, ihre Gewalt nicht gegen die Schwachen zu missbrauchen. Aber das geschriebene Gesetz gibt den Schwachen zumindest ein Instrument in die Hand, Verbündete zur Eindämmung des Machtmissbrauchs zu sammeln.
Eine ihrem Sinn entsprechende Verfassung ist daher nicht willkürlich aus der Luft gegriffen. Sie beruht auf dem, was wir „Menschenrechte“ nennen, obwohl der jeweilige konkrete Menschenrechtskatalog selbst wiederum nur Ergebnis eines „demokratischen“ Meinungsbildungsprozesses sein kann. Menschenrechte sind Ausdruck einer Grundhaltung, die dem Sozialdarwinismus von jenen entgegengestellt werden muss, die in einem freien Überlebenskampf der Fittesten auf der Strecke bleiben würden. Im engeren Sinn beschreiben sie die Spielregeln der sozialen Institution (des Staates, der Kirchen) gegenüber der einzelnen Person. Mittelbar erfordern sie auch Regelungen seitens der Institution zum Schutz der Grundrechte ihrer Mitglieder gegenüber dritten.
Aber passt das auch für die Kirche? Zwei Einwände werden vor allem vorgebracht. Das Verhalten von Christen soll nicht von Gesetzen bestimmt sein sondern von der Liebe. Ja schon. Trotz allem soll und darf es unterschiedliche Sichtweisen geben und daher zu Konflikten kommen. Geschriebene Spielregeln, wie mit solchen Fällen umzugehen ist, sind dann geradezu Mittel und Ausdruck christlicher Liebe, weil sie helfen, das Handeln der Personen einer affektgeladenen Willkür zu entziehen. Der zweite Einwand richtet sich gegen die geschriebene Verfassung. Die Verfassung der Kirche sei das Evangelium, heißt es. Das verkennt aber völlig die Zweckgebundenheit der unterschiedlichen Arten von Texten. Aufgabe der Evangelien ist es, die aus Jesu Gottesbeziehung und seiner daraus erwachsenen Hingabe bekannt zu machen und die daraus zu schöpfende Hoffnung allen Menschen anzubieten. Das Statut der soziologischen Institution Kirche muss demgegenüber völlig anderes Leisten. Es enthält Anweisungen, welche Personen konkret welche Maßnahmen durchzuführen haben, um das Leben der Gemeinschaft zu organisieren. Im Sinne der Goldenen Regeln muss es auf Grundrechten beruhen, die allen ohne Diskriminierungen zukommen. Deshalb ist die Mitbestimmung aller in den sie betreffenden Fragen sicherzustellen. Um dem Missbrauch von Macht durch dementsprechend gewählte Leitungspersonen vorzubeugen braucht es eine Aufteilung der „Gewalten“, der Funktionen der Regelsetzung (Legislative, die von allen gemeinsam oder von repräsentativ bestimmten Delegierten durchzuführen ist), der Umsetzung der Regelungen (Exekutive, mit einer Einzelperson als Hauptverantwortlicher) und der Konfliktlösung (Judikative, die gleichwertig von Legislative und Exekutive zu besetzen ist). Schließlich erfordert eine taugliche Verfassung auch ein faires Prozesssystem, das jene Gerechtigkeit ermöglicht, die aller Liebe vorausgehen muss.
Warum die Forderung nach dem, was überall sonst als ausgewogene Mitte gilt in der katholischen Kirche als Extrem betrachtet wird, muss mir erst einmal jemand erklären. Noch einmal: Es handelt sich nicht um eine Mode, sondern um das Ergebnis eines mehrtausendjährigen kulturellen Lernprozesses: Gebt der Kirche eine demokratische Verfassung!