Zur Zukunft des kirchlichen Lebens

 

01.11.2010, Paul M. Zulehner

Neue Studien zu Pfarrgemeinderäten sowie zum Pfarrerberuf

Dieser Beitrag ist in der Zeitschrift der Jesuiten "STIMMEN DER ZEIT" im Heft 11/2010 im November 2010 erschienen.

Die katholische Kirche steckt in einer tiefen Umbaukrise. Diese ist keinesfalls (nur) selbst verschuldet, wenngleich der weltweite Mißbrauchsskandal und andere dunkle Geschehnisse in der Kirche den Umbau unnötig beschleunigen und wertvolle Kräfte von dessen nachhaltiger Gestaltung abziehen. Es kommt darauf an, mit Sachkenntnis und Ruhe im Vertrauen auf die Führung des Heiligen Geistes den Übergang zu gestalten. Die Gefahr besteht, daß die Kirche in einer konservativen Ängstlichkeit mutlos nicht den Übergang gestaltet, sondern lediglich mauernd den Untergang der alten Kirchengestalt verwaltet. Dieser Vermerk ist jedoch wichtig: Nicht die Kirche wird vergehen, auch nicht in Europa, wohl aber die uns vertraute Gestalt.

Zur Sachkenntnis, die bei einer solchen Transformation benötigt wird, trägt die Praktische Theologie viel bei. Sie erforscht die Lage der Gesellschaft und der Kirche in ihr. Eindringlich wird klar gemacht, daß Glaube in modernen Zeiten nicht mehr Schicksal, sondern freie Wahl ist 1), die freilich biographisch und kulturell eingebettet ist. Die Leute können ihr kirchliches Commitment nicht nur wählen, sie müssen das auch tun. Dabei spielen nicht allein ärgerliche Irritationen eine Rolle, sondern weit mehr attraktive und bindende Gratifikationen: wie die Beheimatung der kosmisch unbehausten Seele im bergenden Geheimnis Gottes, Trost in unerträglichem Leid, die Zähmung der Angst um das, was Menschen lieb und teuer ist; wichtige Gratifikationen für breite Bevölkerungskreise sind nach wie vor die Feiern der Lebenswenden Geburt, Tod, Liebe und Heirat. Die Menschen schätzen den Einsatz der Kirche für die Armen der Welt und die Sorge um eine gerechtere Welt, die immer mehr eins wird. Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung es „Oikos“ (Welthaus) werden mit der Kirche mit Sympathie in Verbindung gebracht.

Zu den für die Gestaltung des Übergangs hilfreichen Studien gehört die Erforschung des Kirchenvolks 2) und derer, die haupt- und ehrenamtlich einen Dienst in ihr leisten. Viele erhellende Erkenntnisse liegen vor. Erforscht wurden Priester (2000) 3) und Diakone (2002) 4) sowie Pastoralreferentinnen und Personalreferenten (2006) 5). Forscherische Aufmerksamkeit wurde den Studierenden an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien gewidmet (2006) 6). Abgerundet wurden diese Personalstudien durch eine große Erhebung an den Pfarrgemeinderätinnen und Pfarrgemeinderäten in Österreich (2009) 7) sowie durch eine brandneue Umfrage unter österreichischen Pfarrern (2010) 8). Im folgenden sollen — vor dem Hintergrund der langen Forschungsserie — wichtige Ergebnisse aus den beiden letzten Studien über Pfarrgemeinderätinnen und Pfargemeinderäte und Pfarrer vorgestellt werden.

Tiefe Besorgnis

In Österreich arbeiten über 35000 Frauen und Männer ehrenamtlich in den Pastoralräten der Pfarreien. Sie sind eine Frucht des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die Beteiligung des Gottesvolks am Leben und Wirken der Gemeinden wird dadurch strukturell sichergestellt. Diese Personen bilden — so die Studie — nicht nur eine „kulturelle Elite“: Unter einem offenen Himmel leben diese Menschen sowohl freiheitsbewußt wie solidaritätsbereit. Pfarrgemeinderäte, zusammen mit anderen Ehrenamtlichen in kirchlichen Einrichtungen und Projekten, sind im übrigen eine der stärksten Gruppen unter den für Zivilgesellschaften unentbehrlichen „Freiwilligen“. Lediglich in Sportvereinen gibt es noch mehr davon.

Ohne diese vielen Frauen und Männer wäre das Leben der Pfarreien mit Sicherheit ärmer. Die Zeit, da Seelsorge allein von Klerikern gemacht wurde, ist vorüber. Ohne Laien geht nichts mehr. Dabei wird nicht übersehen, daß es insbesondere unter den jüngeren Pfarrern (wieder) manche gibt, die diesen Zugewinn des Engagements der Laien (zumeist aus Persönlichkeitsschwäche und autoritärer Ängstlichkeit) nicht hinreichend schätzen. Ohne wirkliches Vertrauen in die Laien 9) ist die Lebendigkeit von Pfarreien undenkbar geworden.

Pfarrgemeinderäte sind wie Seismographen für die erdbebenartigen Entwicklungen in der Gesellschaft und darin eingebettet für das kirchliche/pfarrliche Leben. Die Veränderungen werden mit Besorgnis wahrgenommen. Fünf Megasorgen sind in der Studie an den Pfarrgemeinderäten ans Licht gekommen:

1. Die Zahl der Menschen, welche den Sonntagsgottesdienst mitfeiern, nimmt ab. Und weil die Gottesdienstgemeinden überaltert sind, werden sich die Kirchenbänke in den nächsten Jahren dramatisch leeren.

2. Das hängt eng mit der Besorgnis zusammen, daß im pfarrlichen Leben Kinder und Jugendliche immer mehr ausbleiben. Es gelingt offensichtlich nicht, in die überalterten und bürgerlichen Pfarreien mit ihren traditionell gestalteten Gottesdiensten und Pfarrfesten Kinder und junge Menschen zu beteiligen und so das Evangelium in deren Leben einzupflanzen.

3. Pfarrgemeinderäte spüren zudem, daß es von Wahl zu Wahl schwieriger wird, neue Kandidaten für den Pfarrgemeinderat zu gewinnen. Zu viele Mitglieder in den pastoralen Gremien sind schon über Jahrzehnte Mitglied. Zudem ist das Image der Kirche in der Öffentlichkeit derart belastet, daß eine Mitarbeit in der Kirche nur noch wenig öffentliches Ansehen hat. Deshalb ziehen sich vor allem Männer von einer Kandidatur zurück. Pfarrgemeinderäte feminisieren sich.

4. Eine Hauptsorge der befragten Pfarrgemeinderäte ist, ob sie morgen noch einen eigenen Pfarrer haben. Das ist nicht die Sorge von Kleinstpfarreien, die meistens auch erst vor wenigen Jahrzehnten gegründet worden sind. Diese Sorge haben heute schon Pfarreien mit einer mittleren Größe. Mit dem Fehlen der Pfarrei hängt bei vielen die Sorge zusammen, daß das Herzstück ihres pfarrlichen Lebens — das Konzil nannte sie an drei Stellen „Quelle und Höhepunkt christlichen Lebens“ —‚ die Feier der sonntäglichen Eucharistie nicht mchr gesichert ist. Dabei verstehen viele nicht, daß sie die Kirche seit jeher gelehrt hatte, es sei eine schwere Sünde, wenn sie die sonntägliche Eucharistiefeier nicht durch ihre Anwesenheit mittragen. Heute scheint in ihren Augen der Kirche selbst die Sonntagsmesse deutlich weniger wert zu sein — zumindest weniger wert als die in sich auch wertvolle ehelose Lebensform ihrer Priester. Diese Rangordnung verstehen sie nicht — und sie ist ja angesichts der Hymnen der letzten Päpste 10) auf die Feier der Eucharistie auch nicht wirklich zu verstehen.

5. Die Sorge um den Verlust des „eigenen“ Pfarrers steht in nicht wenigen Gemeinden in Verbindung mit der weiterreichenden Angst vor dem Verlust der Eigenständigkeit als kirchenrechtlich errichtete Pfarrei. In vielen Diözesen werden Pfarreien fusioniert. Durch diese sogenannte räumliche Umstrukturierung entstehen pastorale Großräume. Die befragten Pfarrgemeinderäte sehen zu 75 Prozent den Priestermangel als Hauptgrund für den Umbau der kirchlichen Raumordnung an. Eine Optimierung der Seelsorge für moderne Arbeitsbedingungen, wie die einschlägigen Begleitdokumente der Diözesen 11) sie anpreisen, merken lediglich zehn Prozent.

Wenn wir uns im folgenden auf den dramatischen Priestermangel konzentrieren, dann wird nicht übersehen, daß das Fehlen von Kindern und Jugendlichen und in loser Verbindung damit auch das Schrumpfen der sonntäglichen Gottesdienstgemeinden vermutlich ein noch größeres Gewicht für die Zukunft haben als der Mangel an „Priestern in Ruf- und Reichweite“ 12) Der Priestermangel erhält in diesem Beitrag auch deshalb vorrangige Aufmerksamkeit, weil er in beiden Studien einen breiten Raum einnimmt. Er betrifft das Leben der Pfarreien vital — und zwar sowohl der Pfarrgemeinderäte wie der Pfarrer.

Das befürchten Pfarrgemeinderäte laut Umfrage: Fehlt der Priester, so 62 Prozent, werde der Sonntagskirchgang allmählich zurückgehen; manche Kranke würden ohne Krankensakramente sterben (57%). Der Kontakt zum Priester würde aufhören (60%); der christliche Glaube würde nach und nach schwinden (45%). Im Fehlen der Priester sehen die Befragten allerdings auch positive Seiten: Es könnte sich bei den Laien mehr Eigenverantwortung für die Gemeinden entwickeln (80%); die Kirche wäre zudem genötigt, überfällige Reformen zu beginnen (58%).

Reformdruck

Der Wunsch nach Reformen gehört zu den Grundstimmungen sowohl unter den Pfarrgemeinderäten wie unter den Pfarrern. Die Überwindung des Priestermangels ist lediglich ein, wenn auch nicht belangloses Reformmodul im Vergleich zu den weiterreichenden Reformen, welche die Befragten auf der Tagesordnung ihrer Kirche sehen möchten. Drei weitreichende Reformdimensionen scheinen zentral zu sein:

1. Statt Machtzentralismus Beteiligung auf allen Ebenen. Die große Mehrheit der Befragten wünscht ernstgenommene Beteiligung. Zwar haben die Pfarrgemeinderäte hohe Motivationen. Sie arbeiten gern für das Kommen des Reiches Gottes, sehen darin eine Realisierung der Taufe und der Firmung, also ihres Laienamtes. Sie möchten von dem, was sie selbst von der Kirche erhalten haben, dieser wieder zurückgeben. Noch lieber als für „die Kirche“ wirken sie lokal für die Pfarrei; Diese ist ihnen emotional näher. Nicht wenige sind motiviert, besondere Aufmerksamkeit dem Gewinnen von Kindern und Jugendlichen zu widmen.

All das machen sie gern. Aber — so ein markantes Ergebnis der Studie — sie machen es „nicht um jeden Preis“. Wie es für das „neue Ehrenamt“ 13) in modernen Gesellschaften typisch ist, wollen die Pfarrgemeinderäte nicht nur Anerkennung, auch nicht nur gute Teamarbeit und gekonnte Leitung wie bestes Konfliktmanagement, sondern vor allem entscheidend mitgestalten. Professionelle Arbeitskultur, die Beteiligung nachhaltig sichert, wird erwartet. Pfarrgemeinderäte sind frustriert, wenn sie beraten und diese Investition von Zeit (57% fühlen sich ohnedies überarbeitet durch Beruf und Familie) und Phantasie keine Frucht trägt. Nichtbeteiligung demotiviert. Folgenlose Beratung kostet für viele nur unnötige Zeit.

Hier hat die katholische Kirche ein schädliches Strukturproblem — und dies auf allen Ebenen: Bei der Bestellung eines neuen Pfarrers wollen die Pfarrgemeinden mitreden; bei der Suche nach einen] geeigneten Kandidaten für das Bischofsamt will das Diözesanvolk mitwirken. Und auch das Verhältnis zwischen den Ortskirchen und der zentralen Kirchenleitung in Rom, die — um die Einheit besorgt — nicht auf koordinierte Universalität setzt, sondern auf qualitätsmindernde Uniformität. All diese Machtstrukturen sind zur Zeit einseitig organisiert und dringlich reformbedürftig.

2. Statt Reinlichkeitswahn Ganzheitlichkeit. Erwartet werden Veränderungen von der Kirche auf der Basis der Erschütterungen durch den sexuellen Mißbrauch von Kindern in kirchlichen Einrichtungen, vorwiegend durch Ordenspriester. In der Pfarrerumfrage räumcn 76 Prozent der Befragten ein, daß „sexueller Mißbrauch für die Kirche ein größeres Problem ist als für andere Institutionen“. Zugleich betonen 80 Prozent aber, daß diese Krise der Kirche „zum Anlaß genommen werden soll, grundsätzlich über den kirchlichen Umgang mit Sexualität nachzudenken“. Eine negative Verdachtsmoral muß eine ganzheitliche Glücksmoral ablösen.

Der Wunsch nach einer Neubesinnung auf die Kultur der Sexualität taucht an einer anderen sensiblen Stelle noch einmal auf. Die Pfarrer wurden — vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Annahme, daß der Mißbrauch von Kindern von Personen mit psychosexueller Unreife droht — danach gefragt, wer für ihre eigene psychosexuelle Reifung wichtig war. Auf Eltern und Gleichaltrige folgt das Priesterseminar (92 % der Pfarrer wünschen, daß „in der Priesterausbildung mehr Wert auf menschliche Reife“ gelegt wird). Begegnungen mit Männern und Frauen/mit einer Frau werden hoch bewertet. Die kirchliche Sexualmoral hingegen kommt nicht gut weg: Lediglich von 37 Prozent der Befragten wurde dieser eine positive Wirkung bescheinigt, von 58 Prozent hingegen eine negative. Die übrigen gaben keine Auskunft.

Aber auch in einer positiven Form begegnet dieser Reformwunsch nach einem Bedenken der katholischen Kirche zur „Reinheit“: der Lehre, des Körpers, der Sexualität. Pfarrer wie Pfarrgemeinderäte sehen in großer Übereinstimmung, daß es ohne Ausweitung des Pools, aus dem die katholische Kirche ihre Priester nimmt, in Richtung Eheleute keine Entlastung beim Priestermangel geben werde. Dabei gibt es keinerlei Anzeichen, daß die Befragten, welche Priesteramt und Ehe verbinden möchten, die ehelose Lebensform als solche ablehnen. Sie halten vielmehr Ehe wie Ehelosigkeit für zwei hochwertige, aber in unserer Kultur riskant 14) gewordene Lebensformen: mit vielen Krisen, einem ständigen Auf und Ab und mit gelegentlichem Scheitern. In Zahlen aus der Umfrage bei Pfarrern: 71 Prozent der befragten Pfarrer haben Krisen durchlebt, 73 Prozent sagen, es gehe ihnen wie vielen Verheirateten, die sie kennen — es war ein Auf und Ab. 13 Prozent waren nahe daran aufzugeben — und viele, die nicht befragt wurden, haben tatsächlich aufgegeben. Nur 38 Prozent fiel das ehelose Leben leicht. Die dennoch gegebene Akzeptanz der ehelosen Lebensform bei der Mehrheit von Pfarrern kommt auch darin zum Ausdruck, daß 48 Prozent auch dann, wenn sie bei Behalten des Amtes heiraten könnten, sicher weiterhin ehelos leben würden, weitere 33 Prozent würden dies wahrscheinlich tun. Jene, die sich dann von der ehelosen Lebensform abwenden würden, sind in der Minderheit — die freilich auch nicht übersehen werden darf: 13 Prozent würden wahrscheinlich und sechs Prozent sicher heiraten.

Aber wenn die Pfarrer über die Ausweitung der Zulassungsbedingungen nachdenken, dann tun sie es nicht nur, damit sie nicht weiterhin derart überlastet sind (75 % sagen: „Im Zuge des Priestermangels wird den Pfarrern zu viel Arbeit aufgelastet.“) und einige wenige, weil sie ihre Lebensform ändern möchten. Ein gewichtiges Motiv, dafür einzutreten, ist für viele eine Ausweitung der Lebenserfahrungen, auf denen die Ausübung des priesterlichen Amtes auf ruht und durch die diese nachhaltig gefärbt wird. Sie sind auch überzeugt, daß es in diesen Personengruppen ausreichend viele Priesterberufungen gibt. Für viele besteht demnach in der katholischen Kirche kein Mangel an Priesterberufungen 15), sondern lediglich ein Mangel an kirchenpolitischer Entschlossenheit, diese gottgeschenkten Berufungen auch für den priesteramtlichen Dienst in der Kirche zu weihen.

Das sind nun die Lebenserfahrungen, welche die Ausübung des Priesteramtes anreichern könnten: Es ist das Lebenswissen von gemeindeerfahrenen Personen, die einen zivilen Beruf haben bzw. im Ruhestand sind und das Priesteramt als Älteste 16) im Sinn der Apostelgeschichte 17) in einem lokalen Presbyterium ehrenamtlich ausüben. 76 Prozent der befragten Pfarrer treten für diese Möglichkeit ein.

Es sind die von Männern abweichenden Lebenszugänge von Frauen. Dazu gleich mehr unter der Überschrift Feminisierung.

Es sind die Lebenserfahrungen einer Partnerschaft, also auch erotisch-sexuellen Liebens, und damit die Erfahrung von Ehe und Familie mit Kindern. Eine solche Anreicherung des Priesteramts an Lebenserfahrung sieht in etwa die Hälfte der befragten (ehelosen) Pfarrer. Sie würde das Priesteramt in seiner Ausübung qualitativ spürbar bereichern.

Tabelle: Partnerschaft als Erfahrungshintergrund

Frage: Glauben Sie, daß folgende Erfahrungen für die Ausübung des Priesterberufs hilfreich sein könnten. Bitte stufen Sie fein ab zwischen: 1 = trifft voll und ganz zu und 5 = trifft überhaupt nicht zu.

trifft (voll) zu


mit Amtskolleginnen (Seelsorgerinnen/Priesterinnen) zusammenarbeiten

zu können 65 %

in der Partnerschaft / Familie einen Ort zu haben, wo Sie sich mit den

Freuden und Sorgen Ihres Berufsalltags „aufgehoben“ wissen 54%

Ihren Glauben mit einer Partnerin / Ihrer Familie zu teilen 50 %

sich emotional in einer partnerschaftlichen Beziehung (mit)getragen

zu wissen 50 %

die Erfahrung, in einer Partnerschaft zu leben 46 %

Sexualität in einer veröffentlichten Beziehung zu leben 30%

die Erfahrung, auch eigene Kinder ins Leben zu begleiten 40%

3. Statt einseitiger Männerherrschaft Feminisierung. Damit ist der dritte große Reformwunsch genannt: die neue Rolle der Frauen in der katholischen Kirche. Neuere Studien weisen darauf hin, daß die katholische Kirche immer mehr die jungen Frauen verliert 18). Das Selbstbild moderner Frauen und das Frauenbild in der Kirche sind für viele nur schwer vereinbar. Auch in der Pfarrgemeinderatsstudie gibt es Anhaltspunkte dafür. 53 Prozent klagen über traditionelle Zumutungen für Frauen: „In unserem Pfarrgemeinderat machen Frauen Soziales, Kirchenputz; Männer kümmern sich um Finanzielles, um Baufragen.“ Ins Positive geweude iiahrien 48 Prozent an, daß „unsere Pfarrgemeinde gewinnen würde, wenn Frauen Leitungspositionen in der Pfarre übernehmen“. 44 Prozent sind zugleich der Ansicht, „daß es Frauen in Leitungspositionen schwerer haben als Männer“.

Der Traum des Galaterbriefes, daß die menschheitsalten Diskriminierungen auf dem Boden des Gottesvolks überwunden sind, ist noch nicht Realität. Es gibt immer noch Juden und Griechen (siehe Ausländerfeindlichkeit bis ins Herz mancher Pfarrei hinein), Sklaven und Freie (das Prekariat ist in den bürgerlich gut situierten Pfarreien nur randständig und fürsorglich vertreten), Männer und Frauen — die nicht eins geworden sich und aufgrund der Wiedergeburt in Jesus Christus eine „wahrhafte Gleichheit an Würde und Berufung“ geerbt haben, wie die Dogmatische Konstitution über die Kirche (LG 32) bis hinein in das zur Zeit geltende Kirchenrecht (CIC/1 983, can. 208) formuliert. Für die Hälfte der befragten Pfarrer trifft diese wahre Gleichheit auch in der Frage der Priesterweihe zu: 51 Prozent befürworten eine Ordination von Frauen.

Umbau der Pfarrerrolle

Die befragten Pfarrer bewegt nicht nur die Überlastung, die aus dem Priestermangel erwächst. Sie sehen auch nicht nur die Anreicherung, wenn weitere Lebenshintergründe zusätzlich zur Erfahrung geglückten ehelosen Lebens hinzukommen. Besorgt sind die Pfarrer nicht zuletzt in hohem Maß, daß die Pfarrerrolle ausblutet, wenn der Mangel bleibt und über die Vergrößerung der Seelsorgsräume lediglich „administriert“ wird.

Den Pfarrern waren folgende zwei Fragen gestellt worden: Was möchten Sie als Pfarrer gern sein? Und: Was wird der Pfarrer in zehn Jahren sein? Vorgegeben waren als Tätigkeitsfelder: Seelsorger an der Seite der Menschen; Förderer der Mitarbeitenden in den Pfarren; Leiter eines pastoralen Großraums; Vorsteher bei der Feier von Sakramenten; einer, der Christus als das Haupt der Gemeinde erfahrbar macht.

Hier ist das aus der Umfrage gewonnene Ergebnis: Das, was den Pfarrern amtstheologisch wie spirituell „heilig“ ist, nimmt drastisch ab. Was bleibt, ist eine Tätigkeit, die sie als „geistlich leiten“ in ihrer Ausbildung nicht kennengelernt haben und von der sie fürchten, daß diese sie aus „Geistlichen“ zu „Pastoralmanagern“ macht. Sie erleiden ein substantielles Ausbluten ihrer Pfarrerrolle. Dieses wiederum nimmt der Pfarrerrolle ihre spirituelle Attraktivität.

Tabelle: Entwicklung der Pfarrerrolle in den nächsten zehn Jahren

Seelsorger an Vorsteher bei Förderer einer, der Christus Leiter eines
der Seite der der Feier von der Mitar- als das Haupt pastoralen
Menschen Sakramenten beitenden in der Gemeinde Großraums
den Pfarren erfahrbar macht



Als Pfarrer 93% 77% 78% 78% 7%
möchte ich
gern sein


Der Pfarrer 44% 55% 49% 51% 33%
ist für mich
in zehn Jahren
wahrscheinlich

Differenz -49 -22 -29 -27 +26

Den Pfarrern ergeht es bei einem dergestaltigen Rollenumbau ähnlich wie vielen Mitgliedern in Pfarrgemeinderäten. Das Zweite Vatikanum war für die Menschen und die Organisation (von einigen Verweigerern abgesehen) ein eindeutiger Verbesserungswandel. Ein Verbesserungswandel bringt Innovation, Wachstum, Aufschwung und Aufbruch mit sich. So die Sprache der Organisationsentwicklung. Der andere Pol dagegen heißt „schwieriger Wandel“. Dieser beinhaltet Verlust, Umdenken, Abbau. Es ist unschwer zu erraten, um welche Art des Wandels es sich bei den derzeit im Gang befindlichen Strukturprozessen handelt: Der Auslöser war mehr die Not als die Notwendigkeit.

Polarisierung und Dissonanzen

Zu den folgenreichsten Erkenntnissen zählt eine tiefe Kluft zwischen Kirchenvolk/Pfarrer auf der einen und Kirchenleitung auf der anderen Seite. 74 Prozent der befragten Pfarrer meinen: „Die Vorstellungen von Kirchenleitung und Kirchenvolk klaffen in wichtigen Fragen immer mehr auseinander.“ Von sich selbst erklären 52 Prozent: „Ich denke in vielen wichtigen Fragen anders als die Kirchenleitung.“

Der Urdissens scheint in der Frage zu liegen, ob sich die Kirche der modernen Welt mehr öffnen oder eher verschließen soll. In dieser Frage sind auch die Pfarrer selbst gespalten. 64 Prozent wünschen eine mutigere Öffnung zur modernen Welt. Öffnung bedeutet für 49 Prozent solcher Pfarrer nicht Anpassung, sondern umfaßt gegebenenfalls prophetischen Widerstand gegen die dunklen Seiten der modernen Welt. Was sie aber wünschen, ist das, was Kardinal Carlo M. Martini SJ die „liebende Anwesenheit“ in der Art Jesu nannte und den europäischen Bischöfen auf einer Ansprache 1989 in Rom ans Herz legte.

Solche liebend-prophetische Öffnung war das pastorale Programm des Zweiten Vatikanums. Wer also unter den Pfarrern heute für mehr Offenheit zur modernen Welt eintritt, möchte zugleich, daß die Beschlüsse des Zweiten Vatikanums entschlossener durchgeführt werden (70% aller befragten Pfarrer fordern dies; unter denen, welche mehr die Öffnung zur Welt wollen, sind es 90%). Auffällig ist, daß die Bereitschaft zur Öffnung und damit die Befürwortung des Konzils unter den jüngeren Pfarrern rückläufig sind. Beginnt über den schrumpfenden Priesternachwuchs ein Auszug der Kirche aus der Welt? Müßte die Kirche nicht auch deshalb den Pool ausweiten, daß auch modernitätsfreundliche Zeitgenossinnen und Zeitgenossen Priesterinnen und Priester werden wollen?

Der tiefe Dissens zwischen Pfarrern und Kirchenleitung zeigte sich in den letzten Jahren in organisiertem verbalen Protest. Pfarrer nahmen am Kirchenvolksbegehren teil. Pfarrer veranstalteten eine eigene Reforminitiative, die sogenannte „Pfarrerinitiative“, die inzwischen von einer in den Reformthemen verwandten „Laieninitiative“ flankiert wird.

Es gibt in der Pfarrerstudie allerdings Anzeichen dafür, daß der verbale Protest von Pfarrern schwächer wird. Das sollte aber bei der Kirchenleitung kein Anlaß zur Erleichterung sein. Vielmehr scheint sich der verbale Protest in einen realen zu wandeln. Die Pfarrerstudie läßt uns dies am Beispiel der Lebensform der zölibatären Priester illustrieren.

Eheloses Leben ist ein ständiges Auf und Ab. Ein Leben mit Krisen. Wer sich heute für die zölibatäre Lebensform entscheidet, braucht eine Spiritualität, die vor allem in Krisen wachsen lehrt. Ein Detail hei der Evaluierung des bisherigen ehelosen Lebens bei Pfarrern überrascht: daß 69 Prozent trotz der vielen Auf und Abs glücklich sind. Wir haben eine Vergleichszahl aus der Priesterstudie 2000: Da waren es lediglich 33 Prozent. Warum diese Zunahme an Glück im ehelosen Leben, das so viele Krisen kennt? Die Antwort scheint die Zustimmung zu einer anderen, gar nicht leicht deutbaren Aussage zu bieten: „Ich habe einen eigenständigen Weg gefunden, den ich verantworten kann.“ 67 Prozent haben dieser Aussage positiv zugestimmt: Und das sind neuerlich mehr als doppelt so viele als die 33 Prozent aus dem Jahr 2000.

Die Lebensform der katholischen Priester scheint sich bei zwei Dritteln somit in kurzer Zeit in hohem Maß individualisiert zu haben. Eine Ablösung von den institutionellen Vorgaben findet statt. ‘Was immer auch unter einem solchen „eigenständigen“ Weg zu verstehen ist: den traditionellen Anweisungen vom Leben eines ehelosen Pfarrers scheint dies nicht zu entsprechen. Pfarrer versuchen offensichtlich gar nicht mehr, die institutionellen Zumutungen an ihre persönlichen Erwartungen anzugleichen, sei es über Kirchenpolitik oder verbalen Protest. Wie so viele Menschen in unserer Kultur bauen sie ihre Privatsphäre aus und übernehmen dafür selbst gewissenhaft die Verantwortung. Bei den Gemeinden und in ihrem eigenen Lebensumkreis werden sie dabei auch unterstützt: Denn auch das Kirchenvolk ist in vielen wichtigen Fragen — auch in jener der Lebensform der Priester — anderer Meinung als die Kirchenleitung. Katholische Priester, die einen eigenständigen Weg gefunden haben, brauchen auch nicht mehr zu vertuschen. Sie leben nicht verlogen, nicht mit ständigem schlechtem Gewissen. Vielmehr leben und überleben sie in realem Dissens, nachdem der verbale nicht weitergeführt hat.

Nicht die Pfarrer, die sich diese Freiheit in einer modernen Kultur nehmen, haben damit ein Problem, wohl aber die Kirchenleitung. Ein Bischof, der heute diesbezüglich „durchgreifen“ möchte, würde die Seelsorge der ihm anvertrauten Diözese in eine tiefe Krise stürzen. Ob es sich lohnt, dies wegen der rechtlich durchaus veränderbaren Ordnung zu riskieren und zu verantworten? Vielmehr könnte die Kirchenleitung einen derart verbreiteten realen Dissens zum Anlaß nehmen zu fragen, ob sie durch das zu lange Aussitzen des Problems des Priestermangels nicht in Gefahr ist, die Gestaltungsfähigkeit überhaupt zu verlieren. Das wäre längerfristig nicht gut, denn in Zeiten des tiefgreifenden Umbaus der Kirchengestalt braucht es eine kompetente Leitung, der die Mehrheit des Kirchenvolks und seiner „leitenden Angestellten“ (der Pfarrer) vertraut.

ANMERKUNGEN

1) P. L. Berger, Der Zwang zur Häresie (Frankfurt 1980).

2) P. M. Zulehner, R. Polak u. 1. Hager, Religion m Leben der Menschen (Ostfildern 2001).

3) P. M. Zulehner u. A. 1-tennersperger, „Sie gehen u. werden nicht matt‘ Ges 40,31), Priester in heutiger Kultur (Ostfildern 2001); ders., Prieater im Modcrnisicrungssts-eß (Ostfildcrn 2001).

4) P. M. Zulehner, Dienende Männer. Anstifter zur Solidarität. Diakone in Westeuropa (Ostfildern 2003); den., Samariter — Prophet — Levit. Diakone im deutschsprachigen Raum. Eine empirische Studie (Ostfildern 2003).

5) P. M. Zulehner u. K. Rennes; Ortsuche. Umfrage unter den Pastoralreferentlnnen im deutschsprachigen Raum (Osifildern 2006).

6) Warum studieren so viele Thenlogie u. werden so wenige Priester? Umfrage unter Theologiesrudierenden an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien 2006: ‘http://homepage.univie.ae.at/ paul.zulehner/php/Paul2/index.php?id=47.

7) P. M. Zulehner u. A. Hennersperger, Damit die Kirche nicht „rat-los“ wird. Pfarrgemeinderäte für zukunftsfähige Gemeinden (Ostfildern 2010); Der Reichtum der Kirche sind die Menschen. Pfarrgemeinderäte beleben die Kirchengemeinden, hg. v. P. M. Zulehner us. (Ostfildern 2010): Forschungsbericht zur PGR-Studie.

8) P. M. Zulehner, Wie geht‘s, Herr Pfarrer? Ergebnisse einer kreuz&quer-Umfrage: Priester wollen Reformen (Graz 2010).

9) Solches Vertrauen in die Laien ist die Leitlinie der Reformen, die den Erzbischof von Poitiers, Albert Rouet in Frankreich zur Bildung örtlicher Gemeinschaften in der Hand von ehrenamtlichen Laien bewogen hat Dazu: R. Feiter u. H. Müller, Was wird jetzt aus uns, Herr Bischof? Ermutigende Erfahrungen der Gemeindebildung in Poitiers (Ostfildern 2009).

10) Johannes Paul II., Ecclesia dc eucharistia (VApSt 195, Bonn 2003).— Ähnlich Benedikt XVI. in seiner Hauptpredigt auf dem Weltjugendtag in Köln 2005.

11) „Mehr als Strukturen . Neuorientierung der Pastoral in den (Erz-)Diözesen. Ein Überblick (Arbeitshilfen 216, Bonn 2007). — Auch: „Mehr als Strukturen ... Entwicklungen u. Perspektiven der pastoralen Neuordnung in den Diözesen“. Dokumenrarinn des Sriidienrages der Frühjahrs-Vollversammlung 2007 der Deutschen Bischofskonferenz (Arbeitshilfen 213, Bonn 2007).

12) So formulierten die deutschen Bischöfe: Ordnung der pastoralen Dienste (Bonn 1977).

13) B. v. Rosenbladt, Freiwilliges Engagement in Deutschland. Ergebnisse der Repräsentativerhebung 1999 zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit u. bürgerlichem Engagement (Stuttgart 2001).

14) 88 Prozent der von uns befragten Pasroralassistentinnen und Pastoralassistenten sehen in der Ehe eine Hochrisikolebensform; vgl. dazu auch U. Beck u. E. Beck-Gcrnsheim, Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften (Frankfurt 1994).

15) P. M. Zulehner, Wirklich ein Priestermangel? Zur Lage der pastoralen Berufe im deutschsprachigen Raum, in: HerKorr Spezial (1—2009) 36—40; ders., Laddove cade la voeazione, in: Vocazione 26 (2009) 31—45.

16) F. Lobinger, Team of Eklers (Manila 2009); P. M. Zulehner u. F. Lobinger, Um der Menschen u. der Gemeinden willen. Plädoyer zur Entlastung der Priester (Ostfildern 2002); P. M. Zulehner, F. Lobinger u. P. Neuner, Leutepriester in gläubigen Gemeinden. Ein Plädoyer für Presbyterien von „Korinthpriestern “ (Ostfildern 2003).

17) Vgl. Apg 14,23: „In jeder Gemeinde bestellten sie durch Handauflcgung Älteste und empfahlen sie mit Gebet und Fasten dem Herrn, an den sie nun glaubten.“

18) So der Vergleich der Österreichdaten aus der Europäischen Wertestudie 2000 und 2008 (noch unveröffentlicht).