„Die Zeit ist gekommen, die Übertretung öffentlich kundzutun“

11.04.2012, Christian Van Rompaey

Unter dem Titel "Nicht gehorchen tut Not, um sich vorwärts zu bewegen" veröffentlicht „L’Appel“ Nr. 344, Liège (Lüttich), im Februar 2012 das Interview von Christian Van Rompaey mit Paul Tihon.

- Wie beurteilen Sie die in Österreich entstandene Protestbewegung?

Dass Christen nicht immer Vorgaben von Bischöfen befolgen, das ist nichts Neues. Was in diesem Aufruf zum Ungehorsam neu ist, das ist die Tatsache, öffentlich und als Gruppe zu erklären, man könne nicht mehr den Anordnungen der Kirche in problematischen Punkten folgen. So entstand eine Bewegung, angeregt vom Pfarrer und Studentenseelsorger Helmut Schüler, ehemaliger Wiener Generalvikar, die weit getragen wird von der öffentlichen Meinung in Österreich.

- Was sind ihre Anforderungen?

Die österreichischen Priester bestehen auf alten Problemen, die der Vatikan sich weigert auf die Tagesordnung zu setzen. So verweigern sie nicht länger die Kommunion wieder verheirateten Geschiedenen. Und angesichts des Priestermangels finden sie es besser, dass die Gemeinde sich selber organisiert, anstatt einen ‚Akteur auf Tournee’ zum Vorsitzenden zu haben. Ausgebildete Laien, Frauen oder Männer, verheiratet oder nicht, könnten predigen und die Gemeinde leiten. Ein Wortgottesdienst mit Kommunionverteilung sei eine eucharistische Feier in Abwesenheit eines Priesters. Sie geben öffentlich bekannt, dass sie für das Heiraten von Priestern und für die Weihe von Frauen sind.

- Ungehorsam ist also nichts Neues in der Kirche. Jedoch dieses Verhalten scheint an der hierarchischen Sichtweise nichts zu ändern. Hier und dort sieht man zwar Bischöfe, die eine Haltung von ‚schweigendem Tolerieren’ einnehmen, aber denken Sie, dass so ein öffentlicher Aufruf wirksamer sei, um die unvermeidlichen Reformen voranzubringen?

Das österreichische Vorgehen schließt an andere Initiativen an. 2007 haben vier Theologen, holländische Dominikaner, eine radikale Lösung vorgeschlagen in ihrer weit verbreiteten Schrift ‚Kirche und Amt’: Sie schlugen vor dass: „Gemeinden ihren Vorsitz, folglich auch den der Eucharistie, von ihr gewählten getauften Personen anvertrauen, Männer oder Frauen, verheiratet oder zölibatär, möglicherweise auf beschränkte Zeit. Und dass sie diese ihrem Bischof vorschlagen, und falls dieser sich weigere sie zu bestätigen“, präzisiert der Text, „dann sollten sie ganz einfach weitermachen und vorwärtsgehen!“

Seit den 70er Jahren haben kleine Gruppen in Europa und Nordamerika bereits diesen Schritt überwunden. Die Frage ist ja schon seit fast 50 Jahren gestellt.

- Aber es ändert sich nichts

Die Autoritäten machen nichts anderes, als klassische Positionen zu wiederholen, aber bieten auf gar keinen Fall eine Absprache über gemachte Vorschläge an. Das ist genau das, was den zusätzlichen Schritt der österreichischen Priester rechtfertigt, wie die Einleitung zum Ungehorsamsaufruf erklärt: „Die Weigerung Roms seit langem notwendige Reformen einzuleiten und die Untätigkeit der Bischöfe erlauben nicht nur, sondern verlangen von uns, unserem Gewissen zu folgen und autonom zu handeln.“

- Ist der Norden unseres Landes nicht der gleichen Ansicht?

Vor einigen Wochen sind Christen aus Flandern den Österreichern gefolgt. Sie rufen ebenfalls zur Reform auf in ihrem Manifest der Arbeitsgruppe ‚Kerkenwerk’, sie reden zwar nicht von einem Aufruf zum Ungehorsam, aber es ist genug Appell ans Gewissen der Bischöfe, wenn innerhalb weniger Wochen 8.000 Unterstützungserklärungen im Internet abgegeben wurden. Viele Laien und bekannte Persönlichkeiten stimmen zu.

- Und werden die österreichischen Priester mehr erreichen als eine verkrampfte Reaktion seitens der kirchlichen Autoritäten?

Es ist kein im voraus gewonnenes Spiel, sondern ein gewolltes und bewussten Eingehen auf ein Risiko. Angesichts der Geschehnisse erachten viele engagierte Christen, die solidarisch sind mit ihrer Kirche und besonders mit der Botschaft des Evangeliums, dass Übertretungen, diskret und abseits, nicht mehr genug sind. Die Zeit ist gekommen, die Übertretung öffentlich kundzutun. Eine Erneuerung kommt selten seitens der Autoritäten. Ein Wandel kommt oft sehr progressiv durch das Einführen von neuen Praktiken, die dem Recht widersprechen, bevor sie legitimiert werden. Manchmal ist es gut, in aller Ruhe dem Spiel der Kräfteverhältnisse zu vertrauen. Das Problem der Kirche liegt darin, dass sie sich einer Macht göttlichen Rechts unterstellt hält. Dann erscheinen gewisse Ansinnen als undenkbar und unantastbar, eben weil sie – oft zu Unrecht – als Teil des Wesens der Offenbarung betrachtet werden.

- Denken Sie dabei an konkrete Punkte?

Die Weihe von Frauen zu Priestern oder die Feier der Eucharistie ohne Priester. Dies ist ein ganz empfindsamer Punkt, weil er die klerikale Ordnung in Frage stellt. Aber besteht die Eucharistie nicht darin, den Auftrag Jesu zu erfüllen: ‚Tut das zu meinem Gedächtnis’ und ‚ Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen’. Mir scheint, der Auftrag ist sehr wohl der entstehenden Urgemeinde gegeben worden und nicht einer Kaste von Kultspezialisten. Für mehr als einen Theologen ist das Reservieren des Vorsitzes bei der Eucharistie für einen Priester oder Bischof eine Frage der kirchlichen Disziplin und keineswegs des Dogmas.

- Haben Sie eine deutliche Meinung zu äußern?

Heutzutage ist Übertretung notwendig, aber nicht auf eine willkürliche Weise. Diese Reformbewegung ist nicht Sache einer Person, sondern einer christlichen Gemeinschaft. Es handelt sich darum, bessere Lösungen vorzuschlagen, dabei kohärent zu bleiben mit den ursprünglichen Zielen des Evangeliums und möglichst die Gemeinschaft der Kirche zu wahren, auch auf die Gefahr hin eine Konfliktsphase durchzustehen.
Viele Christen fühlen sich sehr unwohl in einer Kirche die ständig weniger Schritt hält mit der Kultur ihrer Zeit. Auf diese Menschen nicht zu hören, das fördert das Ansteigen der Polarisierung zwischen denen, die ‚Für’ und die ‚Gegen’ sind und macht schließlich jedes Gespräch unmöglich.

(Übersetzung aus dem Französischen von Josef Pampalk)

Zu Paul Tihon:

Paul Tihon S.J., geb. 1930, ist Jesuit und hat an der Gregoriana in Rom promoviert, war Dogmatikprofessor am Institut Lumen Vitae, Brüssel u. theologischer Berater des inter-diözesanen Laienrates CIL.