Hermann Häring zu Evangelii gaudium

27.11.2013, Hermann Häring

Der deutsche Theologe Hermann Häring gab am Mittwoch, 27. 11. 2013, in Bayern 2, 6.15 h, nachstehendes Interview zum Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“

Bayern 2: - Ein Papst ruft zu Reformen auf - und das noch mit Freude: "Evangelii Gaudium" heißt die prophetische Lehrschrift, die gestern öffentlich wurde und in der sich Papst Franziskus für Reformen in der Kirche «auf allen Ebenen» ausspricht. Auch für eine Reform des Papstamtes zeigt er sich offen. Haben Sie das so erwartet?

Die Grundintention des Schreibens ist nicht neu. Alle genannten Reformpunkte wurden in den vergangenen Monaten angesprochen. Überrascht haben mich die Entschiedenheit, der kompakte Elan, mit dem der Papst jetzt eine Reformprogramm umreißt. Er fordert nicht weniger als eine „Umgestaltung“ der Kirche in allen ihren Teilen. Er schließt dabei Pfarreien, Diözesen, Bischofsamt und Papstamt ein.

Sie haben den alten Papst Benedikt stets kritisch gesehen. Seine Angst vor der Moderne als sein größtes Defizit beschrieben. Ist Papst Franziskus da tatsächlich eine andere Hausnummer? Gegen Abtreibung und Frauenpriestertum und für Zölibat ist er ja dennoch......

Ja, Papst Franziskus kritisiert die Moderne, aber er geht konstruktiv auf sie zu, hat keine Angst. Er agiert in der Moderne. Seine Kernforderung ist ja, dass die Kirche auf die Welt, so wie sie heute ist, zugeht. Diese Begegnung mit Menschen und Welt ist geradezu sein Lebenselixier.
Frauenpriestertum, Abtreibung, Zölibat, Homosexualität sind für ihn Teil der alten kirchlichen Lehre. Er lehnt sie aber nicht aus irgendwelchen sexuellen oder anderen Ressentiments oder aus Machtüberlegungen ab. Ich bin davon überzeugt, dass seine letzten Urteile darüber noch nicht gesprochen sind. Hier herrscht noch enormer Diskussionsbedarf, der bis auf die Frage nach einem rechten Schriftverständnis zurückgreift. Wir müssen am Ball bleiben.

Schlagen da also zwei Herzen in seiner päpstlichen Brust?

Vielleicht noch mehr Herzen, um im Bild zu bleiben. Er ist in Lateinamerika groß geworden und zunächst in der südamerikanischen Problemwelt zu Hause. Das spürt man auch an seinen Aussagen zur Säkularisierung, zur Ökumene und zu Fragen der Interreligiosität, von der wir Europäer auf Dauer sicher noch mehr erwarten. Vielleicht wird er auch manche Position noch korrigieren müssen.

Aber er fügt doch eine wichtige Einschränkung hinzu, die Möglichkeiten des Gesprächs eröffnet: Er glaubt ausdrücklich nicht, man müsse von ihm endgültige Aussagen „zu allen Fragen erwarten [muss], welche die Kirche und die Welt betreffen.“ Er hält es nicht für angebracht, dass er „die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die in ihren Gebieten auftauchen.“ Er spricht von einer heilsamen „Dezentralisierung“, in der die verschiedenen Kulturräume der katholischen Kirche ihre eigene Stimme erhalten werden. Er versteht sich also nicht mehr als der Oberlehrer, sondern ein Gesprächspartner der Bischöfe bzw. der nationalen und kontinentalen Bischofskonferenzen.

Papst Franziskus gehört dem Jesuitenorden an. Als solcher geißelt er den Kapitalismus, die Gier und den nicht endenwollenden Konsumwahn. Ist das eine "moderne" Botschaft? Antikapitalismus?

Um Kapitalismuskritiker zu werden, muss man nicht Jesuit sein. Für Christen in Lateinamerika und für viele Christen in Europa ist diese Position selbstverständlich und es lässt sich nicht leugnen, dass die modernen Kapital- und Finanzsysteme endlich zu zügeln sind. Das ist ja seit Jahren auch eines unserer großen politischen Themen. Moderner geht’s nicht, wenn einem an einer gerechten und versöhnten Menschheitsordnung liegt. Es geht darum, dass alle Wirtschafts- und Finanzsysteme daran zu messen sind, wie viel Menschlichkeit sie ermöglichen.

Wird er damit Gläubige in der Kirche halten und neue gewinnen?

Global gesehen suchen zumal die armen und die entrechteten Menschen Schutzräume für ihre Nöte und Interessen. Im übrigen interessiert Papst Franziskus nicht die Frage, ob wir neue Kirchenmitglieder gewinnen, sondern was die Kirche für die Menschen tut. Er will lieber eine zerbeulte Kirchengemeinschaft, die sich um Menschen kümmert, als eine glänzende Karosserie, die nur um sich selbst kreist. Wie katastrophal sich ein Kirchenverhalten auswirkt, das nur seine Sicherheit sucht, haben wir ja in den vergangenen Jahren erlebt. Kirche hat glaubwürdig zu sein, indem sie aufhört, um sich selbst zu kreisen, denn die christliche Botschaft will die Welt verändern, menschlicher machen. Aus diesem Prinzip lebt die Spiritualität des Papstes.

Wenn Franziskus politisch einzuordnen ist, wäre er dann ein Linker?

Ja, wenn man diese Zuordnung nicht parteipolitisch verengt. Im Weltmaßstab gesehen ist er ein Parteigänger der Armen, der in diesem Sinn die Welt verändern will, und die Motivation dazu aus einem tiefen Gottvertrauen schöpft.

Trotz der genannten politischen Akzente finden sich in diesem Dokument lange Passagen, in denen der Papst über das Studium der Hl. Schrift, über das Hören auf Gottes Wort und über das Gebet spricht. Ist dieser Papst ein frommer Mensch?

Natürlich, Papst Franziskus ist ein zutiefst frommer, von der Sache Gottes bis in die Mitte seines Herzens angerührter Mensch. Als Jesuit hat er es gelernt, Gott – wie Ignatius von Loyola sagte – „in allen Dingen zu suchen und zu finden“. Seine ganze innere Dynamik, sein breiter Einsatz für mehr Gerechtigkeit, seine Solidarität mit den Armen und Entrechteten lebt aus einer Spiritualität der Gottesnähe. Vielleicht müssen wir europäische Christen genau diese Verbindung von Frömmigkeit und Politik neu lernen. Für den Papst ist Religion keine Privatangelegenheit, sondern eine zutiefst kultur-, gesellschafts- und friedenspolitische Angelegenheit.

Wird es gelingen, die angezielten Reformen durchzuführen oder ist in der Weltkirche Widerstand zu erwarten?

Ich erwarte, dass die Impulse des Papstes in den meisten kulturellen Räumen entschieden aufgegriffen werden, vor allem in den Ländern, in denen – oft aus wirtschaftlichen Gründen - Armut, soziale Ungerechtigkeit, ethnischer Unfriede und Unterdrückung herrschen. Aus dem westeuropäischen und nordamerikanischen Raum erwarte ich am meisten Widerstand. Vermutlich wird er nicht direkt, sondern durch zähe Reaktionen, durch theoretische Diskussionen und durch das Unvermögen ausgeübt, von den eigenen Privilegien finanzieller, rechtlicher und kultureller Art Abstand zu nehmen. Spannend wird die Frage werden, wie denn die kurialen Kräfte reagieren, die am meisten zu verlieren haben.

Was muss nun ganz konkret passieren? Kardinal Marx hat ja den Reformwillen in "Evangelii Gaudium" begrüßt. Aber was können nun die einzelnen Landeskirchen tun, um nicht nur beim Lippenbekenntnis zu bleiben.....

Der Papst hat Türen aufgestoßen. Als erstes muss von unten, d.h. in den Gemeinden eine breite aktive Diskussion über die zahlreichen Vorschläge beginnen. Die Bischöfe müssen sie aufnehmen, denn sie können sich nicht mehr hinter Rom oder hinter abstrakten Glaubenssätzen verstecken.

Zugleich können wir davon ausgehen, dass von oben, d.h. in Rom eine breitangelegte Reform in Gang gesetzt wird (Beginn als Kurienreform).

Wenn diese Anfänge im zähen Brei der Bequemlichkeit erstickt, ist es unsere Aufgabe, wie der Papst er sagt, solange „Krach zu machen“ und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, bis sich etwas bewegt. Katholikinnen und Katholiken, die dazu bereit sind, gibt es genug. Reformen sind unausweichlich geworden.

Kardinal Marx zeigte sich von Inhalt und Sprache des Apostolischen Schreibens „angerührt“. Welchen Eindruck macht das Schreiben auf Sie?

Ich finde dieses Schreiben in seiner Sprache und seinem Ton ganz außerordentlich: Der Papst schreibt einfach, verständlich und sehr unmittelbar. Man spürt hinter allem, was er sagt, eine große und überzeugende spirituelle Tiefe. Er spricht nicht nur von der Freude des Evangeliums, sondern lässt sie auch spüren. Man fühlt direkt: Dieser Papst spricht nicht nur von der Freude des Evangeliums, sondern er erfährt Freude bei seinen seelsorglichen Aufgaben. Es macht ihm offensichtlich Spaß, nicht allein zu sein, auf Menschen zuzugehen und ihnen dort zu begegnen, so wie sie leben, leiden, sich durch ihr Leben kämpfen und dabei nach Orientierung suchen. Dennoch ist er, wie uns Insider berichten, ein Mensch geblieben, der mit Macht umzugehen und seine Interessen durchzusetzen weiß. Angesichts seiner aktuellen Aufgabe ist das gut so. Gottes Reich hat ja immer auch mit Macht zu tun, weil es immer auch darum geht, Macht von Menschen über Menschen zu brechen, damit eine menschliche und versöhnte Zukunft entstehen kann.