26.05.2011, Hans Küng
Das Interview mit Hans Küng ist der Zeitschrift „Die Zeit“, Nr. 22 vom 26. Mai 2011 entnommen. Es wurde von Thomas Assheuer und Evelyn Finger geführt.
Hans Küng sagt: » Die Zeiten eines kirchlichen Monopols auf Wahrheit sind vorbei. Man setzt den Glauben nicht mit Macht durch. Bürger sind auch in Sachen Religion mündig «
ZEIT: Herr Küng, warum sind Sie immer noch Mitglied Ihrer Kirche?
Hans Küng: Weil ich in der katholischen Kirche tief verwurzelt bin. Ich bin Mitglied nicht wegen der Römischen Kurie, sondern trotz der Kurie. Für mich ist die Kirche eine 2000 Jahre alte weltweite Glaubensgemeinschaft, deren Geschichte ich mein Leben lang erforschen und deren Mitglieder ich auf vielen Reisen kennenlernen durfte. Gerade jetzt in der Kirchenkrise bekomme ich aus aller Welt anrührende Briefe von Katholiken. Die einen, verzweifelt, sagen: Ich kann bei dieser Kirche nicht mehr mitmachen. Die anderen wollen bleiben, um etwas zu verändern, sie sagen: Solange Sie da sind, bleibe ich auch da. Ich würde viele Menschen zutiefst enttäuschen, wenn ich austräte.
ZEIT: Warum sind Sie nie zum Protestantismus konvertiert?
Küng: Ich teile viele Anliegen der evangelischen Kirche, aber fühle mich dort nicht zu Hause. Vor
allem hätte ich mich selbst entwaffnet. Da hätten meine Gegner gesagt: Den können wir abschreiben, der gehört nicht mehr zu uns. Und ich hätte mir eine Menge neuer Probleme mit den Protestanten aufgeladen.
ZEIT: Wo gehen Sie zur Kirche?
Küng: Die Liturgie feiere ich gerne mit meiner Schweizer Heimatgemeinde in Sursee. Ich habe dort keine amtliche Verantwortung, aber schon wegen des Priestermangels fühle ich mich verpflichtet, der Eucharistiefeier vorzustehen. Über Jahrhunderte hatte Sursee immer vier ordinierte Geistliche – jetzt nur noch zwei Pensionäre. Zwar gibt es als Gemeindeleiter den »Ersatzpfarrer« Markus Heil, der die Menschen begeistert, aber er darf nur Diakon sein. Und warum? Weil er verheiratet ist! Der Priesternotstand erzeugt Frust gerade bei aktiven Gemeindemitgliedern. Der zölibatäre Klerus ist zum Aussterben verurteilt. Aber das scheint den Vatikan nicht zu kümmern. Durch seine Restaurationspolitik trocknet er weiter unsere Gemeinden aus.
ZEIT: Zornige Katholiken an der Kirchenbasis rufen jetzt: Jesus hat das Evangelium gepredigt und nicht die Kirche! Würden Sie diesen Satz unterschreiben?
Küng: Der Satz ist im Prinzip richtig, denn Jesus hat keine Kirche im institutionellen Sinn gegründet, sondern eine Jesus-Bewegung ausgelöst, die nach seinem Tod weiterging. Jesus benutzte das Wort Kirche kaum. Er verkündete das Reich Gottes: »Vater unser, Dein Reich komme.«
ZEIT: Sie könnten auch gelassen sein und sagen: Das Reich Gottes kann durch keine Kirche ruiniert werden. In der Geschichte gab es immer wieder Punkte, wo Kirche sich verhärtete.
Küng: Ja, Richtungskämpfe gab es immer. Das beginnt schon mit dem Streit zwischen den beiden Hauptaposteln Petrus und Paulus, die das Evangelium in einer hellenistisch geprägten Welt verkünden mussten. Ein zweiter Paradigmenwechsel war fällig mit der Völkerwanderung, als das Evangelium zu den Germanen kam. Dann trat Martin Luther auf und forderte von einer dekadenten Kirche die Rückkehr zum Evangelium. Wegen des Widerstandes der Römischen Kurie kam es zur Kirchenspaltung. Die Tragik der katholischen Kirche besteht darin, dass sie bis heute eine mittelalterliche Struktur bewahrt hat.
ZEIT: Anfang der 1960er Jahre wollte sie sich aber modernisieren, und Sie waren dabei. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil in Rom hießen die jüngsten Teilnehmer Joseph Ratzinger und Hans Küng. Man nannte Sie beide auch die »Teenager-Theologen«. Sie selbst setzten sich für die Aufwertung der Bibel und der Ortskirche sowie für eine charismatische Amtsstruktur ein. Hat das berühmte Konzil denn nichts bewirkt?
Küng: Aber ja doch. Das Vatikanum wollte zwei verpasste Paradigmenwechsel nachholen: Reformation und Aufklärung. Leider gelang das nur zur Hälfte. Wir haben seither aktivere Laien, besonders Frauen, und dürfen die Eucharistie in der Muttersprache feiern. Wir haben eine epochal neue Einstellung zum Judentum und zur modernen Welt, die vorher verteufelt wurde. Heute spricht man in Rom positiv von Demokratie und Religionsfreiheit. Doch wichtige Reformen sind auch unterblieben, das hat mich schon damals aufgeregt: die Haltung zu Empfängnisverhütung und Ehescheidung, zur Abendmahlsfeier mit den Protestanten und zur Reform des Papsttums. Über einiges durfte damals überhaupt nicht geredet werden, zum Beispiel über den Zölibat.
ZEIT: Der reformerisch gestimmte Papst Paul VI. ermahnte Sie damals schon, in der Öffentlichkeit etwas zurückhaltender aufzutreten. Im Grunde war er Ihnen aber wohlgesinnt.
Küng: Ja, er hat auch über mich die Hand gehalten. Solange er lebte, ist mir nichts passiert. Aber als der polnische Papst kam, wurde es ungemütlich.
ZEIT: Bis dahin hatte die Glaubenskongregation Sie wegen angeblicher »Loslösung von der Glaubensüberlieferung der Kirche« nur gerügt. 1978 dann wurde Karol Wojtyła Papst, und schon 1979 entzog Rom Ihnen die kirchliche Lehrerlaubnis Missio canonica – vor allem wegen Ihres Zweifels an der Unfehlbarkeit des Papstes. Warum stehen Sie heute nicht auf der Seite Ihres einstigen Verbündeten Ratzinger?
Küng: Weil unter Papst Johannes Paul II. und seinem engsten Mitarbeiter Joseph Ratzinger eine Periode der Restauration anbrach, die uns immer tiefer in die Krise führt. Nach dem zweiten Vatikanum prägte der große Konzilstheologe Karl Rahner das Wort von der »winterlichen Kirche« und kritisierte die feudalistische, paternalistische Mentalität der Bischöfe. Heute klingt »winterlich« noch zu hoffnungsvoll, weil nach dem Winter der Frühling kommen müsste. Deshalb diagnostiziere ich in meinem neuen Buch eine kranke Kirche und meine damit krankhafte Strukturen: römisches Macht- und Wahrheitsmonopol, Juridismus und Klerikalismus, Frauenfeindlichkeit und Reformverweigerung.
ZEIT: Konservative Katholiken fürchten, wenn sie alte Regeln und tradierte Formen preisgäben, bräche die Kirche auseinander.
Küng: Diese Sorge ist verständlich, aber unbegründet. Eine lebendige Tradition lebt von Veränderung. Auch ich schätze Traditionen, bin aber kein Traditionalist, weil das Alte kein Wert an sich ist. Hinter imposanten Liturgien für die Massen verbirgt sich allzu oft ein verflachtes Traditionschristentum. Hinter der »heiligen römischen Kirche« steht ein höchst weltlich operierender Finanz- und Machtapparat. Und im dogmatischen Lehrgebäude steckt viel unbiblische Schultheologie, die die Menschen heute nicht mehr erreicht.
ZEIT: Was finden Sie erhaltenswert an Kirche?
Küng: Das Bleibende ist natürlich die Wahrheit. Um nichts Geringeres geht es. Aber Tradition ist kein Wahrheitskriterium, und Christentum erweist sich nicht an äußeren Formen. Christentum ist gelebte Gemeinschaft des Glaubens, des Hoffens und der Liebe in Christi Nachfolge.
ZEIT: Warum pochen die Neo-Klerikalen aber so auf ihre »Wahrheit«? Wovor haben sie Angst?
Küng: Vor der Freiheit, ohne die die Wahrheit nicht bestehen kann! Die Zeiten eines kirchlichen Monopols auf Wahrheit sind vorbei. Es ist ein tragischer Irrtum, zu meinen, man könne Glaubenswahrheiten mit Macht durchsetzen. Man muss dafür werben, die Menschen gewinnen. Seit moderne Wissenschaft, Technologie und Kultur in die Krise geraten sind, stehen wir im Übergang zur Nachmoderne. Ideen wie Fortschritt, Vernunft und Nation haben ihren Glanz verloren. Die Menschen sind nicht nur fortschrittskritisch geworden, sondern auch ideologiekritisch. Sie verstehen sich auch in Sachen Religion als mündige Bürger.
ZEIT: Warum reagiert die Kirche darauf nicht?
Küng: Weil sie unter dem absolutistischen römischen System leidet. Sexueller Missbrauch und seine systematische Vertuschung sind nicht Ursache der Krise, sondern ihre Konsequenz. Papst Benedikt meint noch im 21. Jahrhundert, er könne allein darüber entscheiden, ob man die Pille nehmen darf, ob Kondome gestattet sind, ob Priester heiraten dürfen ... Selbst Louis XIV. war als König nicht so selbstherrlich.
ZEIT: Können Sie sich einen katholischen Glauben ohne Kirche vorstellen?
Küng: Im Einzelfall schon. Doch gegen eine vernünftige Institutionalisierung habe ich nichts einzuwenden. Nur wenn ein System des Dienstes in ein System der Macht umschlägt, wenn die Personen, die Dienst-Leister sein sollten, zu Machthabern werden, dann kann man sich nicht mehr auf Jesus von Nazareth berufen. Denn der sagt: Wer von euch der Höchste sein will, sei der Diener aller. Das Wort von der Diakonia, Dienst, ist in den Evangelien in sechs verschiedenen Fassungen überliefert. Das Wort Hierarchie dagegen, also heilige Herrschaft, wurde erst Jahrhunderte später eingeführt und ist das Gegenteil von Diakonia. Der mittelalterliche Papalismus ist pure Ideologie.
ZEIT: Wenn der Papst hier wäre, würde er sagen, lieber Herr Küng, wir haben zwar damals gemeinsam für eine Öffnung der Kirche zur Welt gekämpft, aber es hat die Kirche geschwächt. Und die Kirchenfeindlichkeit ist so stark wie eh und je.
Küng: Da würde ich entgegnen, Heiliger Vater, lieber Herr Ratzinger, in allem Respekt, da stellen sie die Dinge auf den Kopf! Unter dem Konzilspapst Johannes XXIII., in den frühen sechziger Jahren, war die Kirchenfreundlichkeit der Gesellschaft größer denn je.
ZEIT: Viele Katholiken haben geheult wie ein Kind, als dieser Papst starb.
Küng: Damals war es eine Freude, katholisch zu sein. Ich hielt meine Antrittsvorlesung 1960 im vollen Tübinger Uni-Festsaal. Wir hatten die Welt für uns. Der Einbruch unserer Glaubwürdigkeit setzte ein mit der unseligen »Pillen-Enzyklika« von 1968, wurde aber lange überdeckt durch die von den Medien hochgejubelten Manifestationen einer triumphalistischen Papstkirche. Aber jetzt bekommen wir die Quittung. Nur noch 54 Prozent der deutschen Katholiken fühlen sich ihrer Kirche verbunden, zwei Drittel davon in kritischer Weise. Vergangenes Jahr dürften in der Bundesrepublik 250 000 Katholiken aus der Kirche ausgetreten sein, doppelt so viele wie im Vorjahr.
ZEIT: Kann man nicht trotzdem sagen, dass die Öffnung zur Welt die Kirche selbst mit Verweltlichung bedroht? Das ist doch ein Argument, das man ernst nehmen muss.
Küng: Man darf natürlich nicht das Evangelium durch Sozialpädagogik und Parteipolitik ersetzen. Ich war immer dagegen, dass Kirchen nur die Reformforderungen der Welt nachplappern. Kirche hat die prophetische Funktion, sich für Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit einzusetzen. Und sie hat eine spirituelle Funktion, den Menschen Erfahrungen zu ermöglichen, die weit über das Innerweltliche hinausgreifen.
ZEIT: Wären Sie selbst gern Papst geworden?
Küng: Diese Frage hat sich mir nie gestellt. Papst Paul VI. hatte mich zum Dienst an der römischen Kirche eingeladen. Ich hätte auch mitgemacht, aber nur als Reformer und nicht, um das System zu stabilisieren.
ZEIT: Hat katholische Kirche aufgrund ihres geschlossenen Welterklärungsmodells nicht doch eine verhängnisvolle Tendenz zum Totalitären?
Küng: Nein, die katholische Kirche ist ihrem Wesen nach nicht totalitär. Wohl aber ist das römische Lehr- und Machtsystem autoritär – mit totalitären Zügen. Denn es verlangt Totalidentifikation mit dem Papst.
ZEIT: Man könnte sagen, die moderne Welt ist dem Teufel verfallen und unrettbar verloren, Kirche aber ist der letzte Fels in der Brandung.
Küng: Ach was, die moderne Welt hat viele Seiten, und der römische Fels ist ja selbst löchrig. Denken Sie nur an die Günstlingswirtschaft der Kurie, die Hofintrigen, die Skandale der Vatikanbank, die anhaltende Inquisition und schließlich an die Vertuschung des Sexualmissbrauchs.
ZEIT: Der Papst würde sagen, der liberale Geist der 68er hat sogar unsere Priester infiziert. Deshalb wurden wir sündig.
Küng: Er hat offenbar den 68er-Schock der Tübinger Studentenrevolte nicht überwunden. Der Missbrauch durch Kleriker hat weder etwas mit Liberalität zu tun noch mit den 68ern. Da geht es um schlimme Auswüchse verdrängter Sexualität und um ein System, das solche Entwicklungen erst provoziert und schließlich systematisch vertuscht.
ZEIT: Inzwischen reden Kirchenobere von Dialog. Wie finden Sie das?
Küng: Echter Dialog wäre ja gut. Jetzt plant man aber einen vierjährigen Dialogprozess mit Auftakt in Mannheim am 8. und 9. Juli, der ein Déjà-vu ist: Exakt vor 40 Jahren luden Bischöfe zu einer vierjährigen Synode ein. Doch die deutschen Katholiken wurden um das Ergebnis betrogen. Alle Reformforderungen wurden schubladisiert. Will man uns nach 40 Jahren noch mal dasselbe auftischen?
ZEIT: Die Reformen stehen ja immer noch aus.
Küng: Ja, aber deshalb muss man doch nicht noch mal vier Jahre lang diskutieren.
ZEIT: Wer kann Reformen denn durchsetzen?
Küng: Alle Reformbereiten gemeinsam: Kirchenvolksbewegung, Initiative Kirche von unten, Leserinitiative Publik-Forum, Katholische Arbeitnehmerbewegung ... aber auch erneuerungswillige Pfarrer, Theologen und Politiker. Sie sollten zu einer Aktionsgemeinschaft werden.
ZEIT: Und was steht im Aktionsprogramm?
Küng: Zunächst vier besonders dringende Punkte.
Erstens: Zölibat freiwillig.
Zweitens: Frauen in die Ämter.
Drittens: Abendmahlsgemeinschaft mit den Protestanten.
Viertens: Wiederverheiratete Geschiedene zur Eucharistie zulassen.
ZEIT: Das sind aber keine zentralen Fragen des christlichen Glaubens.
Küng: In der Tat, aber es sind zentrale Hindernisse auf dem Weg zu Gott, den die Kirche versperrt. Deshalb soll man nicht von Gotteskrise reden, sondern von Kirchenkrise.
ZEIT: Und wie setzt man das Programm durch?
Küng: Indem man den Mund aufmacht und sämtliche Medien nutzt, das Internet inklusive. Beispiele: Bedeutende CDU-Politiker forderten öffentlich die Abschaffung des Pflichtzölibats. Über 300 Theologen unterschrieben ein Reformmemorandum. Die Bischöfe müssen merken, dass es so nicht weitergeht. Vielleicht finden sich dann unter ihnen auch ein paar Mutige. Eben hat der Vatikan ein skandalöses Dekret zur Wiederaufwertung der lateinischen Messe veröffentlicht, und eine Kurialkommission hat sich Weisungsbefugnis gegenüber den Bischöfen angemaßt. Die Bischöfe müssen endlich die Anliegen des Volkes gegenüber der römischen Kurie vertreten und nicht umgekehrt.
ZEIT: Ist das jetzt Revolution oder Reformation?
Küng: Ich lege auf solche Etiketten keinen Wert. Es muss jedenfalls eine grundlegende Kirchenreform sein. Ich will dabei nicht vom Professor zum Agitator werden. Aber ich habe Verantwortung als Lehrer meiner Kirche, die Probleme zu benennen und über ihre Ursachen aufzuklären. Ich will nicht lamentieren, sondern argumentieren.
ZEIT: Haben Sie Verständnis für die Angst vieler Universitätstheologen, laut Kritik zu üben, damit sie nicht wie Sie ihre Lehrbefugnis verlieren?
Küng: Ich nehme die Angst ernst, weil ich sie kenne. Aber im Memorandum haben sich viele Theologen ermannt oder »erfraut« – denn es waren hauptsächlich Frauen, die das initiierten – und haben gezeigt, man kann gemeinsam und deutlich sprechen.
ZEIT: Das Memorandum war aber extrem sanft formuliert, mit viel frommem Beiwerk.
Küng: Manche hätten sich wohl gewünscht, dass diese Theologen noch mehr Zivilcourage zeigen, zumal deutsche Lehrstuhlinhaber rechtlich besser abgesichert sind als andere. Das gilt erst recht für Bischöfe. In Rom wird man sich hüten, einen Bischof, zumal einen deutschen, ernsthaft anzugreifen.
ZEIT: Muss man, um die Kirche zu retten, an Gott glauben?
Küng: Wer sich vor Reformen fürchtet, hat im Grunde zu wenig Gottvertrauen. Wer Gottvertrauen hat, kann sich auch auf die hohe See hinauswagen. Er weiß, dass ihn die Stürme nicht vernichten. Es ist wie in der Legende von Petrus, der über das Wasser geht. Er kann auf dem Wasser gehen, solange er auf den entgegenkommenden Herrn schaut und nicht auf den Sturm. Sobald er auf die Wogen starrt, geht er unter.
ZEIT: Haben Sie sich nie vorm Sturm gefürchtet?
Küng: Doch. Aber ich bin dankbar, dass mein Glaube in allen Stürmen unerschüttert geblieben ist: nicht der Glaube an die Institution Kirche, aber der vertrauende Glaube an Jesus Christus, seine Person und seine Sache, der die Kirche zu dienen hat. Hoffentlich bleibt er mir erhalten.
ZEIT: Was sagen Sie denen, die nicht glauben?
Küng: Warum sollte es nicht eine unendliche Wirklichkeit geben, von der her sich alle endlichen Dinge erklären, sogar der Evolutionsprozess? Warum sollte unsere Existenz im Nichts enden? Wir sind nun mal auf der Welt – vielleicht sterben wir in ein Nichts hinein, aber vielleicht auch in eine letzte Wirklichkeit, in die Realdimension Unendlichkeit, jenseits von Raum und Zeit, die Ewigkeit. Ich bin froh, dass ich das in vernünftigem Vertrauen annehmen kann. Doch selbst wenn ich falsch läge, hätte ich vielleicht sinnvoller gelebt als einer, der sagt: Ich weiß nicht, woher ich komme und wohin ich gehe, im Grunde ist alles absurd.
Hans Küng ist der treueste Dissident der katholischen Kirche. Der gebürtige Schweizer, 83, befeuerte durch Bücher wie »Unfehlbar?« oder »Existiert Gott?« stets neue Debatten. Mit 30 wurde er Professor für Fundamentaltheologie in Tübingen. Küng streitet für ein Weltethos und gründete die gleichnamige Stiftung (www.weltethos.org). Sein neues Buch »Ist die Kirche noch zu retten?« (Piper Verlag) bilanziert die Kirchenkrise und benennt nötige Reformen